warum Adorno in Vergangenheit und Gegenwart?
pardon, wenn folgendes aus etwas persönlicher Perspektive gesschrieben ist.
Man fand sich also, sagen wir, Ende 50ger, 60ger als Schönberg-Fan vor. Was war die naheliegendste Lektüre? Adorno war klarerweise der schriftstellerische Exponent der Wiener Schule (ich sage nicht "Sprecher"!). da gabs dann als zugängliche Werke die Sammlungen Moments musicaux, Impromptus, Dissonanzen (sowas wie Philosophie der neuen Musik kommt hier nicht in Betracht). Da gabs dann auch über Schubert, späten Beethoven, Ravel, Parsifal, Webern zu lesen, wie so bei keinem leicht zugänglichen Musikschriftsteller (oder wer hätte es sein können?) auch bei Tristanfieber half Adorno.
Adorno hatte damals Breitenwirkung. Außer der Auseinandersetzung mit der Wiener Schule wären das m.E. die drei Gebiete:
1) Kritik der "musikpädagogischen Musik ", was damalige Musikpädagogik gehörig aufmischte
2) Kritik an den ersten Anfängen oder Vorläufern der Alte-Musik-Bewegung
3) Mahler. Adorno hat gewiß nicht die Mahler-Renaissance in Gang gesetzt, aber ich möchte behaupten, daß seine Art der Mahlerdeutung bis heute das Mahlerhören mitbestimmt, auch bei Leuten, die nie ein Wort von Adorno gelesen haben, ob man nun eher mit Adorno mitgeht oder sich an ihm reibt.
ok, das wäre Vergangenheit, aber doch offenbar eine, die noch heute virulente Fragestellungen aufwirft.
natürlich
An musikbezogenen Veröffentlichungen nach Adornos Tod wären m.W. vor allem die beiden Fragment gebliebenen Projekte, das Beethoven-Buch und die Aufzeichnungen zur "Theorie der musikalischen Reproduktion" zu nennen . Letzter dürften nicht nur im Bereich der Wiener Schule, sondern überhaupt zu den am weitestgehenden diesbezüglichen theoretischen Bemühungen zählen (daß Adorno auf dem Gebiet Praktiker war, dürfte er mit dem getreuen Korrepetitor hinreichend belegt haben).
Auch bei den Beethoven-Aufzeichnungen finde ich es wohltuend, Adorno bei seiner Bemühung um Details, Aspekte zusehen zu können, ohne daß man irgendwie schon weiß, was herauskommt.
Adorno dürfte im Umkreis der Wiener wohl dem Interpreten die größte Bedeutung zugemessen haben (in "Reproduktion" steckt immerhin "Produktion"), aber von der Interpretation als "eigenständigem Kunstwerk" kann natürlich keine Rede sein. Also hochaktuell.
Bei alledem möchte ich keinesfalls den Eindruck erwecken, ich wäre der Meinung, Adorno zu "verstehen".
Wie machen es eigentlich die Metaphern, philosophischen Begriffe und Gedanken, sich auf Musik beziehen zu können und den Eindruck zu erwecken, hochdifferenzierte ästethische Erfahrungen formulieren zu können?
ich möchte aber noch auf einen anderen Adorno hinweisen und ihn empfehlen.
und das ist der Adorno, der für Kulturottonormalzeitungsleser geschrieben hat. In Bd. VI der Musikalischen Schriften (Suhrkamp) finden sich ca. 300 Seiten Konzert- und Opernkritiken aus den 20ger Jahren. Ich denke, auch für denjenigen, der an Adorno kein besonderes Interesse hat, eine interessante Quelle. Hier gilts nicht, im Interesse der Kunst die kritischen Instrumente soweit möglich zu schärfen, hier gilts wohlwollender Förderung des Musiklebens.
Dabei steht für Adorno immer die Auseinandersetzung mit den Kompositionen im Zentrum, so daß sich Stellungnahmen zu 100ten von Werken finden, was auch geeignet sein sollte, eine besseren Einblick in Adornos Interessenshorizont zu kriegen.