Theodor W. Adorno über Wagner, Mahler, Berg u. a. m.: Inzwischen überholt oder immer noch aktuell?

  • Um den Strauss-Literatur-Thread nicht mit Adorno vollzumüllen also hier:

    Ich habe in der Bibliothek in meiner Wohnung das von Bernd gepostete Adorno-Buch "Schriften I-III" oder so, mit dem Strauss-Aufsatz gefunden, und heute vor dem Frühstück die ersten 4 Seiten gelesen, dann die ersten 2 nochmal, um im Kopf zu haben, was denn da so drinsteht an Inhalt und nicht nur eine Idee von Adornos stilistischen Fähigkeiten zurückzubehalten.

    Das einzige für mich wirklich Interessante war ein Zitat aus einem anderen Buch, in dem Strauss zitiert wurde über Schillings. Strauss meinte, die Skrupel Schillings', etwas Vulgäres zu Papier zu bringen, seien ihm fremd und unsympathisch, da er wisse, dass er nichts Vulgäres in sich habe, und daher auch nichts Vulgäres schreiben könne (nicht wörtlich, da jetzt aus dem Gedächtnis nacherzählt). Ich bin zwar insofern eher der Typ Schillings, sehe aber nicht, warum man Strauss seine komfortable Selbstgewissheit ankreiden solle, schließlich finde ich seine Musik auch nicht vulgär. Adorno meint dann, schlechten Geschmack bei Strauss finden zu können, verrät uns aber nicht, wo. Naja, vielleicht kommt das ja noch später im Laufe des Aufsatzes ...

    Hauptsächlich reitet Adorno aber auf der "Bürgerlichkeit" herum, meines Erachtens völlig ergebnislos. Mir ist ja bekannt, dass so etwa mit Beethoven der Adel als Hauptauftraggeber vom Bürgertum abgelöst wurde, also mag Beethovens Musik bürgerlich sein im Gegensatz zu Haydns feudaler, genaugenommen fürstlicher Esterhazy-Musik. Das ist doch recht witzlos. Adorno meint dann, das Bürgerliche auch in Straussens Musik erkennen zu können, da sie genauso schamlos protzerisch sei wie das reiche Bürgertum selbst (wieder nicht wörtlich zitiert). Wenn man aus dem Prunk die Bürgerlichkeit ableiten könnte, wäre aber Versailles das Bürgerlichste was sich denken ließe. Wäre Strauss als Musikproduzent irgendeines Bayernkönigs stilistisch anders gewesen?

    Für mich ein doch recht leeres Wortgeklingel, das Adorno-Produkt. Aber ich weiß, ich habe nur die ersten 2 Seiten im Kopf und nur die ersten 4 gelesen.
    :wink:

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Ich werde mir mal den Adorno wieder vornehmen. Doch eine Bemerkung vorweg: Der Begriff der "Bürgerlichkeit" ist vieldeutig - und kann bei unserem Dialektiker sowohl große Zustimmung wie entschiedene Ablehnung bedeuten. Auch scheint mir das Kriterium des Auftraggebers zu unscharf. Man sagt ja, dass man des Lied singt, der es einem bezahlt. Aber der konkrete Befund ist doch vielschichtiger. Ist Bachs Musik, schreibt er sie für den Rat bürgerlich, schreibt er sie für den König feudal? Ist die "Kaffeekantate" bürgerlich, die "Bauernkantate" aber feudal?

    Nach der französischen Revolution gibt es noch den feinen Unterschied zwischen bourgeois und citoyen - und im 20. Jahrhundert stellen sich die Fronten wieder ganz anders dar, etwa wenn sich das Bürgertum mit dem Faschismus identifiziert, Anfälligkeit für den Nationalsozialismus bei großbürgerlichem Gehabe vermutet wird.

    Die Begriffsunschärfe ist Adorno nicht anzulasten, man muss den Begriff halt immer historisch aufklären. Erst Recht, wenn man wissen will, was Adorno da Strauss vorwirft - und was nicht.

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Ich hatte gestern wider Erwarten doch auch Vergnügen an dieser seltsamen Lektüre, und so habe ich heute die dritte Seite nochmals gelesen, wobei ich den Fehler begangen habe, den Autor zu ernst zu nehmen, was denn auch zu erheblicher Verstimmung führte.
    :wacko:
    Er hüpft ja permanent zwischen gesellschaftlicher, künstlerischer und biographischer Thematik hin und her, in der Hoffnung, dass durch das Themenhopping so etwas wie Zusammenhang zwischen den Themen sich ergäbe, was soweit nicht so arg ist, solange man aufmerksam bei der Sache ist, und für sich die Dinge, die er verschmiert, säuberlich getrennt behält. Nur hat man dann als "ungläubiger" Leser das Problem, dass manche Sätze ins Nonsensialistische abdriften, jedoch dank Bierernstes ohne dadaistischen Reiz verbleiben. So meint er etwa, dass Straussens Musik kapitalistisch sei (in Zusammenhang mit dem finanziellen Erfolg, den Strauss verbuchen konnte, und in Zusammenhang mit Straussens Selbstbewusstsein und mit der souveränen Großzügigkeit der Musik, und weil die Musik zwar modern war aber nicht so radikal wie die von Schönberg). Das finde ich dann doch eher peinlich. Aus der von ihm angenommenen kapitalistischen Grundeinstellung der Musik von Strauss folgert er dann auch noch ihre Amoralität.
    :D
    Das braucht nicht mehr wirklich kommentiert zu werden, denke ich ...

    Auch etwas anderes poppt ziemlich unvermittelt-frech auf: Die Idee, Strauss hätte zu wenig Achtung vor dem Entwicklungsbedürfnis des Gefüges. Habe ich bei Strauss nie hören können.
    :beatnik:

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  • So meint er etwa, dass Straussens Musik kapitalistisch sei [...]. Das finde ich dann doch eher peinlich.

    Ich nicht. Adorno versuchte bekanntlich, Gesellschaftliches in der Struktur der Musik selbst aufzuspüren. Wenn man diese Prämisse grundsätzlich akzeptiert, erscheint es keineswegs lächerlich, in Strauss' Musik Abbilder, Denkformen, Strukturen u. a. m. kapitalistischer Produktion vorzufinden. Wenn man diese Prämisse ablehnt, wird man konsequenterweise auch nichts mit Adornos Kritik an Strauss anfangen wollen, zumal Adornos marxistisch geprägte Kapitalismuskritik noch mitgedacht werden müßte. Das ist sehr komplex.

    Was mich angeht: Beim Versuch, Adornos ästhetische Konzeption konkret an Werken nachzuvollziehen, gerate ich schnell an meine Grenzen, allein schon dadurch, daß ich nicht in der Lage bin, Musik zu analysieren, geschweige denn, Ergebnisse solcher Analyse als das Semantische daran mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenzubringen. Was aber nicht bedeutet, daß ich solche Ansätze ablehne.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Was mich angeht: Beim Versuch, Adornos ästhetische Konzeption konkret an Werken nachzuvollziehen, gerate ich schnell an meine Grenzen, allein schon dadurch, daß ich nicht in der Lage bin, Musik zu analysieren, geschweige denn, Ergebnisse solcher Analyse als das Semantische daran mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenzubringen.

    Tja, die Frage ist, wie es Adorno bei dieser spaßigen Beschäftigung gegangen sein mag, sofern er es überhaupt versucht hat, und nicht einfach seine schrägen Thesen drauflosgeplappert hat, die mich doch etwas an FPÖ-Parolen erinnern (faule Sozialschmarozer und so - nachweisen braucht man nix, da das Zielpublikum eh begeistert ist).

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  • Man kann das, was man nicht kennt oder nur am Rande wahrnimmt immer als spaßig ansehen. Das sagt nun mehr über einen selbst aus als über das Objekt der Kritik.

    Ich war während meines Studiums und eine Zeitlang darüber hinaus erklärter Adorno-Gegner, wie ich überhaupt eine große Distanz zur Frankfurter Schule hatte, nicht zuletzt weil sie mir im Studium an allen Ecken und Enden begegnete. Spätestens als ich mit Werner einem entschiedenen Adorno-Kritiker begegnete, begann ich mich für Adorno zu interessieren und ernsthaft auseinanderzusetzen. Inzwischen war die Frankefurter Schule aus der Mode gekommen und man las allenthalben viel Adorno-Kritisches. Eine gute Zeit, die Pferde zu wechseln. Es gibt noch immer genug, was meine Zustimmung nicht findet. Aber ich entdecke auch immer wieder (für mich) Neues, was mich begeistert. Vor allem habe ich einen Riesenrespekt vor dem Mann und seiner Lebensleistung.

    Adorno-Lektüre setzt einiges voraus, ein wenig Benjamin gehört auch dazu. Dass die gesellschaftliche Analyse und die Kapitalismuskritik sich nicht in einfachen stalinistischen Kategorien abbilden lässt, bedeutet für die Lektüre eine enorme Anstrengung, denn die Leute haben ihren Marx gelesen und verstanden, auf ihre Art. Mit platten Sprüchen kann man ihnen auf jeden Fall nicht beikommen. Wer da FPÖ hineinliest, disqualifiziert sich mE von vorne herein. Das Gemeinsame ist: In beiden Fällen wird die deutsche Sprache benutzt, bei Adorno wohl mit einem solchen Anspruch, dass ein solches groteske Missverständnis bei geschichtsunkundigen Lesern aus Austria entstehen kann. Selbstverständlich gab es auch bei den Nationalsozialisten sozialistische Sprüche, immerhin bezeichneten sie sich ja auch als Arbeiterpartei. Von daher auf eine Identität von NS und Sozialdemokratie oder KPD zu schließen, setzt eine grenzenlose Naivität voraus: Der Dieb, der sich mit Gestohlenem schmückt, wird als Urheber dessen gesehen, was für ihn nur eine Camouflage, eine Verkleidung, ist.

    Fachgebiete wie die Musiksoziologie bestünden nicht, hätte sie nicht Adorno begründet und zu den theoretischen Höhen geführt, die sie heute noch auszeichnen. Sein letztes unvollendetes Werk über Musikrezeption ist für mich eine Fundgrube von fantastischen theoretischen Entwürfen, noch weitgehend im Embryo-Stadium, aber mit einer Herausforderung, der man sich erst stellen muss.

    Wie gesagt, auch heute teile ich Grundsätzliches bei Adorno nicht, aber ich achte und respektiere, was er geschrieben hat. Und immer wieder - Gurnemanz hat es mit Recht angesprochen - trifft man auf brillante Analysen, bahnbrechende Gedanken, superbe Einfälle.

    Wie immer: Eine solche historisch-kritische (nun mal in anderer Bedeutung ;+) ) Analyse auf einen Einzelfall wie Strauss anzuwenden, im Kulturellen aus eine ästhetischen Theorie heraus langfristige Prognosen abzuleiten, ist immer ein riskantes Unternehmen - und da ist Adorno mE in der Zeit verhaftet geblieben, der er entstammt. Vieles war richtig prognostiziert, aber Entscheidendes mE verfehlt. Aber da unterscheidet sich Adorno nicht von anderen großen Denkern seines Ranges. Von denen gibt es in der deutschen Geistesgeschichte nur wenige. Mit Marx und Hegel hat Teddy auf jeden Fall auf Augenhöhe geschrieben. Und oft verwechselt man die Simplifizierungen, die man bei einer Reihe seiner Jünger findet, mit dem tatsächlich Geschriebenen

    Ad usum delphinum: Maß (fast) aller Dinge war ein Fortschrittsglaube in der Musik, der Adorno die Zwölftonmusik als notwendige Konsequenz zweitausendjähriger Musikgeschichte sehen ließ. Entsprechend kritisch wurden Komponisten und Werke betrachtet, die sich scheinbar zwischen die Werke der Wiener Schule und das Publikum stellten. Wo von Kunst die immanente Kritik an den Verhältnissen als Konstituens unterstellt wurde, bedeutete dies, dass bei diesen Komponisten und ihren Werken das Kulinarische das Kritische ersetzt hatte - Musik also für den Konsum, das Vorhalten existierender guter Welten statt der Negation die Affirmation, statt der Kritik die kritiklose Zustimmung.

    Ich denke schon, dass es sich lohnte, die Argumentation Adornos zu studieren, auch wenn man sich an ihr ärgert, bzw. ärgern kann. Aber unter der Latte durchlaufen und dann "Hurra" schreien, gilt nicht.

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Selbstverständlich gab es auch bei den Nationalsozialisten sozialistische Sprüche, immerhin bezeichneten sie sich ja auch als Arbeiterpartei. Von daher auf eine Identität von NS und Sozialdemokratie oder KPD zu schließen, setzt eine grenzenlose Naivität voraus: Der Dieb, der sich mit Gestohlenem schmückt, wird als Urheber dessen gesehen, was für ihn nur eine Camouflage, eine Verkleidung, ist.

    Jetzt bist Du etwas abgeirrt ... die Gemeinsamkeit von Adorno und Strache war: Es wird irgendwas behauptet, was dem Zielpublikum plausibel erscheint, weshalb man sich nicht mit Begründung abgeben muss. Es werden dabei viele Sätze gebildet, die irgendwie ums Thema kreisen und Zusammenhang suggerieren. Es gibt aber keine schlüssige Ableitung des Behaupteten. (Wurde schon vorher in diesem Thread als Adorno-typisch benannt).

    Zitat

    Mit Marx und Hegel hat Teddy auf jeden Fall auf Augenhöhe geschrieben.

    Ist jetzt nicht wichtig, aber etwas Kritik an Deinem Stil muss erlaubt sein: Ein amikales Verhältnis mit dem "großen Dialektiker" hast Du wohl nicht gehabt.

    Zitat

    Ich denke schon, dass es sich lohnte, die Argumentation Adornos zu studieren, auch wenn man sich an ihr ärgert, bzw. ärgern kann.

    Das kann schon sein, aber nicht mit diesem Strauss-Aufsatz, wenn man etwas über Strauss lernen will - und so wurde er von Zwielicht im Strauss-Literatur-Thread empfohlen. Du bestätigst eigentlich ungewollt, was ich meine: Adorno ist interessant für Adorno-Interessierte, nicht für den, der sich über Strauss informieren will.
    :wink:

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  • Maß (fast) aller Dinge war ein Fortschrittsglaube in der Musik

    Ich habe damit mein Problem. Ohne bisher ansatzweise bei Hegel und Marx durchgestiegen zu sein (die Linie Schopenhauer-Nietzsche liegt mir mehr), vermute ich doch die Hauptursache hinter dem Ganzen Hegels Geschichtsphilosophie, welche der Geschichte einen Sinn bzw. ein Telos unterstellt. Ein notwendiges Aufwärts auf einer Leiter zu immer aufgeklärterem, fortschrittlicherem Bewusstsein. Und wer da nicht folgt (etwa ein Komponist, der sich nicht reflexiv zu seinem Medium verhält. In Spahlingers Worten: "Nur das ist Neue Musik, die vor die Frage stellt, ob das überbaut noch Musik ist."), ist hinten dran, steht unter Ideologieverdacht, ist überhaupt ästhetisch irrelevant.
    Ich habe aus dem Bauch heraus eher eine Affinität zu Schopenhauers Bild der Geschichte als "Karneval des Immergleichen"...

    Ein Problem damit habe ich dann auch, dass demnach jeder Künstler die zweifellos komplizierten Gedankengänge von Hegel, Marx, Benjamin, Adorno usw. nachvollzogen haben müsste, bevor er überhaupt anfangen könnte (nach Adornos Sicht und derjenigen seiner Jünger), "auf der Höhe der Zeit" zu schaffen und ästhetisch relevante Kunstwerke hervorzubringen.
    Was aber, wenn jemand einfach gute Musik schreibt, die musikalisch komplex ist (keine Klischees wiederkäut) und ihre Abnehmer findet (also im einfachsten Sinne "relevant" ist)?

  • So naiv-teleologisch ist das nun aber nicht gemeint. (Naive Telelologie gibt es m.E. am häufigsten als Strohmann naiver Kritiker, die oft überhaupt nicht mehr verstehen, was telelogisches Denken war/ist.)
    Dialektik heißt ja, ganz grob, dass ein bestehender Widerspruch erkannt und auf einer "höheren" Ebene aufgehoben wird. Die Dynamik entsteht also nicht durch ein vorbestimmtes Ziel am Ende der Geschichte, sondern durch einen Widerstreit von (sehr allgemein verstandenen) "Kräften" im Hier und Jetzt. Wobei "aufgehoben" bedeutet, dass mit "Aufheben" des Widerspruchs zugleich Momente der widerstreitenden Kräfte "aufbewahrt" werden. Und ein aufgelöster Widerspruch ist erst einmal "besser", zumal wenn Aspekte des ursprünglichen Problems nicht einfach vom Tisch gewischt wurden, sondern sich "aufgehoben" in der Synthese finden.
    Gewiss kann man manche Entwicklungen wider jede historische Empirie in solch ein Modell zwingen, aber das Modell ist auch nicht völlig bescheuert, zumal es eben eine ähnliche Denkweise beinahe seit Beginn der abendländischen Geistesgeschichte gibt und sie allein dadurch in den entsprechenden Disziplinen auch schon vor Hegel u.a. relevant gewesen ist. Auch in Ökonomie und Gesellschaft gibt es viele Fälle, in denen sowohl real einander widerstrebende Kräfte als auch widersprechende Ideen solche dynamischen Prozesse in Gang setzen.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Auch etwas anderes poppt ziemlich unvermittelt-frech auf: Die Idee, Strauss hätte zu wenig Achtung vor dem Entwicklungsbedürfnis des Gefüges. Habe ich bei Strauss nie hören können.

    Es wurde behauptet, um Adorno zu verstehen, müsse man dies und jenes gelesen haben, vor allem natürlich Adorno. Mag sein.
    Obiger Satz (der ziemlich wörtlich zitiert ist) sollte aber schon recht unmittelbar mit Komposition zu tun haben. Adorno benennt hier etwas, das auch außerhalb seiner Konstrukte jedem Kunst-Schaffenden bekannt sein dürfte: Dass das Werk ab einem bestimmten Punkt des gebildet-Seins seine eigenen Gesetze hat, denen der Künstler bei der Vollendung desselben zu folgen hat, zumindest insofern, als er weniger Bewegungsfreiheit hat, als zu Beginn des schöpferischen Prozesses. Das hat jetzt einmal mit Gesellschaftskritik und Moral erfreulicherweise erstmal gar nichts zu tun, und wenn man Strauss vorwirft, das nicht zu beherzigen, braucht man auch keine Fortschrittstheorien, um zu beurteilen, ob dieser Vorwurf gerechtfertigt ist oder nicht. Also bedarf es zumindest eines Beispieles, wo man das etwa beobachten könnte. Das nur zu behaupten ist für mich billige Propaganda.
    :wink:

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  • Das nur zu behaupten ist für mich billige Propaganda.
    :wink:

    Na, glücklicherweise lesen ja nicht gar sooooo viele Leute Adorno, dass eine demagogische Wirkung zu befürchten ist und nun ein aufgebrachter Mob die Bibliotheken stürmt, um Strauss-Partituren zu verbrennen ...

    Lies' vielleicht mal Adornos Artikel zu Straussens 60. Geburtstag (vom 11. Juni 1924 - enthalten in "Musikalische Schriften V"). Der ist knapper und IMO auch klarer formuliert als der Essay zum 100. Ich denke, da wird man schnell verstehen, woran sich Adorno reibt (nämlich an dem von ihm konstatierten Desinteresse des Herrn Strauss an Fragen der "Formgestaltung" bzw. daran, dass Strauss sich nicht produktiv mit der "Form" auseinandersetze und damit zu ihrer Fortentwicklung beitragen würde, sondern sie nur als Hohlform verwende).

    Ich finde Adornos Strauss-Analysen gar nicht blöd (etwa unter Gesichtspunkten einer Sozial- und Kulturgeschichte der Ästhetik oder der Kultursoziologie). Ob man seine Schlussfolgerungen hinsichtlich einer Bewertung von Strauss dann teilen muss, steht auf einem ganz anderen Blatt ...

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Dialektik heißt ja, ganz grob, dass ein bestehender Widerspruch erkannt und auf einer "höheren" Ebene aufgehoben wird. Die Dynamik entsteht also nicht durch ein vorbestimmtes Ziel am Ende der Geschichte, sondern durch einen Widerstreit von (sehr allgemein verstandenen) "Kräften" im Hier und Jetzt. Wobei "aufgehoben" bedeutet, dass mit "Aufheben" des Widerspruchs zugleich Momente der widerstreitenden Kräfte "aufbewahrt" werden. Und ein aufgelöster Widerspruch ist erst einmal "besser", zumal wenn Aspekte des ursprünglichen Problems nicht einfach vom Tisch gewischt wurden, sondern sich "aufgehoben" in der Synthese finden.

    Schon klar, das ist in der Theorie immer leicht erklärt, aber wie genau das jetzt als Werkzeug dienen kann, um all diese apodiktischen Urteile zu fällen, finde ich schwer nachzuvollziehen...

  • Na, glücklicherweise lesen ja nicht gar sooooo viele Leute Adorno, dass eine demagogische Wirkung zu befürchten ist und nun ein aufgebrachter Mob die Bibliotheken stürmt, um Strauss-Partituren zu verbrennen ...

    :D

    Zitat

    Lies' vielleicht mal Adornos Artikel zu Straussens 60. Geburtstag (vom 11. Juni 1924 - enthalten in "Musikalische Schriften V"). Der ist knapper und IMO auch klarer formuliert als der Essay zum 100. Ich denke, da wird man schnell verstehen, woran sich Adorno reibt (nämlich an dem von ihm konstatierten Desinteresse des Herrn Strauss an Fragen der "Formgestaltung" bzw. daran, dass Strauss sich nicht produktiv mit der "Form" auseinandersetze und damit zu ihrer Fortentwicklung beitragen würde, sondern sie nur als Hohlform verwende).

    Danke für den Hinweis, das klingt interessanter, nachdem mir schon etwas die Lust vergangen ist, bei der 100-Jahresfeier weiterzulesen. Muss ich nachsehen, ob dieser Band auch zu Hause vorrätig ist.
    :wink:

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  • Am witzigsten finde ich, dass in der Auseinandersetzung mit Strauss Adorno zu Heidegger findet.

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • vermute ich doch die Hauptursache hinter dem Ganzen Hegels Geschichtsphilosophie

    auch, sicher, im Sinne jedenfalls dessen dass Geschichte als solche immer noch die Leitgröße ist. Aber ganz sicher ohne den Positivismus und Fortschrittsglauben. Adorno stand hier Benjamins Thesen viel näher als Hegel.

    Aber darum geht es bei Adorno m. E. gar nicht, sondern um den Geist, der durch die Werke geht.


    und in diesem Sinne: v. a. Hegels Ästhetik, also eine Geist-, Ideen-, Produktionsästhetik. Adorno versucht immer, qua "Erfahrung" (auch in diesem Thread schon gestreift) dem Geist der Werke nahezukommen (der nicht in ihrer subjektiven Intention aufgeht). Je idiosynkratischer oder anti-mainstreamiger der Geist ist, desto weniger warenförmig das Werk. Desto mehr begegnet Adorno im Werk wiederum einer anderen "Erfahrung" (unreglementierten), also quasi einem Menschen mehr als einer Ware.

    Dies finde ich einen hervorragenden Zugang zu Kunst - und auch zu Wagner, Mahler, Berg (besonders Mahler; bei Berg schiebt sich klein bisschen der reale Mensch dazwischen). Was mir fehlt, in der gesellschaftskritischen Dimension, sind die anderen Erfahrungen: die der Rezipienten-Seite (abgesehen von Adorno selbst). Da war er mir zu wenig Soziologe oft. Aber das Material übers Publikum usw. ist historisch auch sehr heterogen, und bei Musik hat diese Art Forschung m. E. erst in den letzten Jahren wirklich an Fahrt aufgenommen.

    ________________________________________________________________________________________________________

    Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi

  • Ein Problem damit habe ich dann auch, dass demnach jeder Künstler die zweifellos komplizierten Gedankengänge von Hegel, Marx, Benjamin, Adorno usw. nachvollzogen haben müsste, bevor er überhaupt anfangen könnte (nach Adornos Sicht und derjenigen seiner Jünger), "auf der Höhe der Zeit" zu schaffen und ästhetisch relevante Kunstwerke hervorzubringen.
    Was aber, wenn jemand einfach gute Musik schreibt, die musikalisch komplex ist (keine Klischees wiederkäut) und ihre Abnehmer findet (also im einfachsten Sinne "relevant" ist)?


    Das ist ein Missverständnis. Hat er Schönberg je vorgeworfen zu wenig Hegel gelesen zu haben? Sicher kann man sagen, dass Adorno durch seine Neigung, Theorien durch Andeutungen heranzuzitieren, nahelegt, es gebe einen Kanon der Theorie, den man kennen sollte. Und den Adorno selber natürlich wie seine Westentasche kennt :D
    Das hat schon was Einschüchterndes. Allerdings muss man sich ja nicht unbedingt einschüchtern lassen.

    Schon klar, das ist in der Theorie immer leicht erklärt, aber wie genau das jetzt als Werkzeug dienen kann, um all diese apodiktischen Urteile zu fällen, finde ich schwer nachzuvollziehen...


    Seine Vorliebe für apodiktische Urteile, die auch einen einschüchternden Charakter haben können ("Das ist so und so. Das weiß man doch, das muss ich nicht noch mal extra erklären."), ergibt sich (ebenso wie das von Putto konstatierte "Themenhopping") aus einer Skepsis gegenüber systematischem, streng logisch deduzierendem Denken. Eine Quelle für diese Skepsis ist in Adornos Fall übrigens Nietzsche.

    Aber wie das halt mit Sätzen ohne Begründung so ist: Sie sind zunächst mal Behauptungen. Sie sind zweifelhaft.
    Vielleicht ist das besser als eine feinsäuberlich gegliederte Abhandlung, die schon durch ihre bloße Form Gerechtfertigtsein suggeriert.

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Das ist ein Missverständnis. Hat er Schönberg je vorgeworfen zu wenig Hegel gelesen zu haben?

    Nein, weil Schönberg offenbar "intuitiv" (bzw. über andere Wege) dem notwendigen Prozess der Geschichte gefolgt ist. Atonalität ist sozusagen der zweite dialektische Schritt, die Negation der Tonalität bzw. das Bewusstsein ihrer Endlichkeit, hinter den man also nicht mehr zurückfallen darf. Deshalb ist Sibelius unzeitgemäß (meinetwegen auch, weil er nicht exzessiv thematisch komponiert hat...)
    Kann natürlich eine vollkommene Missdeutung sein, aber ich stelle das jetzt mal so in den Raum...

  • Adorno versucht immer, qua "Erfahrung" (auch in diesem Thread schon gestreift) dem Geist der Werke nahezukommen (der nicht in ihrer subjektiven Intention aufgeht). Je idiosynkratischer oder anti-mainstreamiger der Geist ist, desto weniger warenförmig das Werk. Desto mehr begegnet Adorno im Werk wiederum einer anderen "Erfahrung" (unreglementierten), also quasi einem Menschen mehr als einer Ware.


    Ja, wobei Adorno zwischen der Form der Waren und ihrem Inhalt, der durch die Warenförmigkeit affiziert sein kann, aber nicht muss, unterscheidet. Sonst würden ja alle Werke ab ca. Beethoven seiner Kritik unterschiedslos verfallen. Einfach schon durch die Bedingungen, unter denen Musik veröffentlicht und aufgeführt wird.
    Meinem Eindruck nach sieht Adorno Beethoven ungefähr als Warenbesitzer, der in Bezug auf den Inhalt seiner Produkte keine Kompromisse macht. Strauss dagegen unterstellt er, dass auch der Inhalt seiner Waren Reklame und Konzessionen an den Mainstream enthält. Wahrscheinlich wird doch auch schon Adorno die eine oder andere Geschichte über Beethoven gekannt haben, wie geschäftstüchtig er mit den Verlegern verhandelt hat.

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  • Nein, weil Schönberg offenbar "intuitiv" (bzw. über andere Wege) dem notwendigen Prozess der Geschichte gefolgt ist.

    Nein, weil Schönberg sich produktiv mit dem status quo von Form und Material auseinander gesetzt und damit den Prozess der Geschichte befördert hat. Strauss und Sibelius dagegen verwenden nur überkommene Formen, ohne etwas aus ihnen (den Formen) zu machen. Meint jedenfalls Adorno.

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Nein, weil Schönberg offenbar "intuitiv" (bzw. über andere Wege) dem notwendigen Prozess der Geschichte gefolgt ist. Atonalität ist sozusagen der zweite dialektische Schritt, die Negation der Tonalität bzw. das Bewusstsein ihrer Endlichkeit, hinter den man also nicht mehr zurückfallen darf. Deshalb ist Sibelius unzeitgemäß (meinetwegen auch, weil er nicht exzessiv thematisch komponiert hat...)
    Kann natürlich eine vollkommene Missdeutung sein, aber ich stelle das jetzt mal so in den Raum...


    Nicht, dass wir das hier diskutieren müssten: Aber wenn Leute wie Hegel, Marx, Benjamin, Adorno usw. vielleicht doch etwas an der Realität getroffen haben sollten, wäre es doch nicht der pure Zufall, wenn jemand intuitiv auf Ähnliches kommt. Dann würde man in z.B. Schönbergs Musik womöglich so etwas wie eine Entsprechung finden. Und die hätte ihren Grund nicht darin, dass Schönberg zufällig einem subjektiven moralischen Maßstab genügt, den Adorno von außen an ihn ranträgt.

    Theorie ist ja idealerweise mehr als eine Tapete für's Gemüt.

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