HÄNDEL: Brockes-Passion HWV 48
Während Händel, der zwei Jahre zuvor mit einem Schlaganfall zusammengebrochen war, gerade wieder auf den Beinen war und sich - nun zurück in London - anschickte den "Saul" und "Israel in Egypt" erstmals zur Aufführung zu bringen, veröffentlichte sein alter Freund und einstiger Duellgegegner, der mittlerweile weitgehend taube Allrounder Johann Mattheson, 1739 seine musiktheoretische Schrift "Der vollkommene Capellmeister". In diesem Werk äußert er sich u.a. zu der Gattung des Oratoriums, das sowohl er selbst als auch sein Freund Händel schon lange zuvor bedient hatten. Tatsächlich jährte sich in diesem Jahr zum zwanzigsten Mal die Uraufführung von Händels "Brockes-Passion" unter der Leitung von Mattheson im Refektorium des Hamburger Doms.
Mattheson schreibt nun in der Retrospektive, dass, um zu einer "seligen Wirckung zu gelangen, die Ausdrückung in den Melodien eines Oratorii (welches so viele Abzeichen als Leidenschafften hat) zwar nicht so wild, aber wol so lebhafft, wo nicht lebhaffter seyn [muss], als in Opern: Denn ein Oratorium ist gleichsam eine geistliche Oper und die göttliche Materie verdiene es vielmehr als die menschliche, daß man sie nicht schläfrig ausarbeite."
Hinzu käme bei "Passiones" eine zusätzliche Aufgabe, den sie sollen
"die Gemüter sowol zur Andacht und heiliger Furcht, als auch zum Mitleiden und andern Regungen, vornehmlich aber zum Lobe Gottes und zur geistlichen Freude antreiben; durch Choräle, Chöre, Fugen, Arien, Recitative etc. die artigste Abwechslung treffen, und selbige mit verschiedenen Instrumenten, nachdem es die Umstände erfordern, klüglich und bescheidentlich begleiten."
Ob Mattheson auch an seines Freundes Händels Passionsoratorium gedacht hat, als er diese Charakterisierung vornahm?
Vieles vom Gesagten lässt sich bestens in Händels wohl 1716 in London abgeschlossenem Passionsoratorium wiederfinden. Schließlich war Händel ein Mann der Oper, die musikalische Affektenlehre war sein täglich Brot, die dramtische Ausgestaltung evokativer Texte sein Handwerk. Somit überrascht es nicht, dass sich dieses oratorische Werk in seiner Gestaltung sehr an die barocke italienische Opera seria anlehnt, dass es einen Hang zur knappen, konzentrierten Arie gibt, dass die Chöre noch verhälnismäßig spärlich gesät sind. Hinzu kommt die sehr farbenfrohe, sich schon fast lustvoll in der grausamen Darstellung des Leiden Christi suhlende Dichtung des Hamburger Ratsherren und Dichters Barthold Hinrich Brockes, die so viele Kompositionen erfahren hat - denn auch Mattheson selbst, aber auch Keiser und Telemann haben neben Händel diesen Text vertont.
[EDIT: Über die unterschiedlichen Vertonungen der Brockes'schen Dichtung kann man sich in DIESEM von Algabal gestarteten Thread informieren.]
Arientexte wie der folgende mögen den heutigen Hörer irritieren, damals aber entsprachen sie nicht nur dem Geschmack, sondern stimulierten ihn ihrer Bühnenhaftigkeit auch die Fantasie:
"Komm, erwäge, wie durch die Heftigkeit der Schläge der beulenvolle Scheitel kracht; weil sie sein heil'ges Hirn zerschellen, wie seine Taubenaugen schwellen! Schau, sein zerrauftes Haar, das vor mit Tau gesalbt und voller Locken war, ist jetzt von Eiter nass und klebt von dickem Blut!"
In Händels Passionsoratorium tritt uns etwas anderes entgegen als in den bei aller Dramatik doch auf das Innerliche zielenden oratorischen Passionen Bachs und es mag die drastische Opernhaftigkeit des Werkes sein, die es - wie viele andere Passionoratorien - im Schatten der Werke des Thomaskantors verschwinden ließ. Warum es Händel, der ja seit 1712 als Opernkomponist in London lebte, überhaupt komponierte, ist bis heute umstritten. Möglich, dass er es auf seine Freundschaft mit Brockes zurückzuführen ist, möglich auch, dass ihn seine nicht immer ganz unproblematische Lage in London dazu veranlasste, sich mit einem deutschsprachigen Oratorium wieder in Deutschland, namentlich in Hamburg, etablieren zu können. Aufgeführt hat er selbst dieses Werk indes nie. Das blieb - wie erwähnt - Mattheson vorbehalten.
Peter Neumanns Einspielung der "Brockes-Passion" kann ich rückhaltlos empfehlen. Neumann schickt sich ja in den letzten Jahren immer mehr an, zum wichtigsten deutschen Händel-Dirigenten zu werden und diese Einspielung ist ein weiteres Zeugnis seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Komponisten. Nicht nur Neumanns Hauschor (der Kölner Kammerchor), der in diesem Werk ja eher eine untergeordnete Rolle spielt, musiziert höchst engagiert, auch das Collegium Cartusianum und die Solisten machen diese Aufnahme des gut zweieinhalb Stunden währenden Werkes zu einem echten Hörgenuss. Aus dem Solistenensemble einzelne Sänger/innen hervorzuheben erspare ich mir an dieser Stelle, zumal sie alle und eben als Ensemble eine ausgesprochen engagierte Leistung präsentieren.
Kaufempfehlung!
Agravain