Was Du als "Handicap" beschreibst, ist in meinen Augen eine seiner Stärken: Die Orchester spielen zu lassen, sie nicht nur zu "dirigieren" sondern vor allem hörend zu animieren. Anders gesagt: Er beherrscht die Kunst, nicht zu stören, und das ist für einen Dirigenten keine Kleinigkeit. Im Ergebnis spielen z.B. die Wiener Philharmoniker bei den Beethoven-Symphonien (von denen ich seit gestern ein paar gehört habe) so temperamentvoll und mitreißend, wie ich sie schon lange nicht mehr gehört habe (und übrigens auch in den Tempi weit ab von der angeblichen "teutonischen Schwerfälligkeit", die Thielemann immer wieder unterstellt wird). Ob das Ergebnis nun mehr "Konzeption" des Dirigenten oder des Orchesters ist, scheint mir eine müßige Frage zu sein, weil sein Einfluss einerseits in jedem Moment hörbar ist, er aber andererseits natürlich so auch nur mit Spitzenorchestern arbeiten kann. Sein Konzept besteht auch sicherlich nicht darin, Furtwängler "nachzueifern", sondern er sieht sich seiner grundsätzlichen Musizierweise in einer Tradition mit diesem verbunden. Das ist etwas ganz anderes.
(Hervorhebungen durch den Zitierenden)
Daß die Wiener unter seiner Leitung gut klingen und daß auch ich diese Beethoven-Aufnahmen besser finde als nach meinem Thielemann-Mozart-Erlebnis antizipiert, habe ich ja bereits oben geschrieben. Dennoch: was heißt es, daß ein Dirigent mit einem Spitzenorchester gute Ergebnisse erzielt und dort nicht stört? Eben dieses: er kann gut mit diesen Musikern umgehen, etwas besser vielleicht als Hinnerk Hinnerksen, weshalb das Orchester auch besser klingt als bei Hinnerk Hinnerksen. Das ist eine Leistung, vielleicht gar eine Kompetenz, aber für meine Begriffe wenig mehr als die Kompetenz eines guten bis sehr guten Kapellmeisters. Von einem Weltklasse-Dirigenten hingegen erwarte ich mehr, z. B. daß er es schafft, ein Orchester so klingen zu lassen, wie man es nicht erwarten würde - so daß man sich fragt: "wie macht der das nur"?
Thielemann mag die Wiener und die Berliner gut zum Klingen bringen, aber würde man ihm eine Leistung wie Järvi in Bremen oder früher Rattle in Birmingham zutrauen - einem Orchester der Mittelklasse zu Höchstleistungen zu verhelfen?
Und wenn er sich in einer Tradition mit Furtwängler sieht, muß er es sich gefallen lassen, auch an diesem gemessen zu werden. Ich habe bei meiner Begegnung mit Thielemanns Beethoven dieses Experiment gemacht: die (wirklich nicht schlechten) Thielemann-Aufnahmen gehört, und direkt danach Meister Wilhelm. Sorry, aber da hat Thielemann keine Chance gehabt! Diese Intensität und Binnenspannung in Furtwänglers Neunter finde ich bei Thielemann in dieser Form schlicht nicht.
Im Übrigen plädiere ich sehr dafür, die Bewertung seiner musikalischen Ergebnisse von der seines Seitenscheitels, seiner Interview-Eloquenz, seiner vermeintlichen oder tatsächlichen politischen Vorlieben zu trennen. Da scheint mir hier doch mancher die Dinge etwas zu vermischen...
Dafür möchte ich auch plädieren - nur ist es dafür wohl zu spät. Namentlich bei denjenigen, die sich mit klassischer Musik seit längerem befassen, ist ein Thielemann-Bild entstanden, dass sich nicht mehr löschen lässt. Der Seitenscheitel hat sich derart eingebrannt, dass er bestimmend wird, und die Diskussion um Thielemann doch vielfach schon zu Beginn ersterben oder ins Unergiebige kippen lässt. Es ist ja auch naheliegend: Wer sich gegen Thielemann positioniert, ist ein moderner, aufgeklärter Klassikliebhaber; wohingegen den Thielemann-Freund der Ruch des Gestern umweht, weil doch der Kapellmeister eben auch so gestrig ist. Ende der Debatte.
Ich würde dies ja gerne unterschreiben, aber Thielemann ist an der semantischen Aufladung seines Seitenscheitels selbst schuld. Es liegt mir eigentlich nicht, Leute nach Äußerlichkeiten einzuschätzen, aber wenn der Verdacht naheliegt, daß jemand mit seiner äußeren Erscheinung etwas signalisieren möchte oder diese Teil einer übergeodneten Konzeption ist, so fände ich es merkwürdig, dies nicht zu thematisieren.
Hierzu möchte ich zunächst etwas klarstellen: niemand, der eine Thielemann-Aufnahme oder auch ihn selbst schätzt, ist deswegen sogleich der deutschnationalen Ecke zuzuordnen! (Ebenso ist ein Fan der "Toten Hosen" nicht automatisch ein Punk...) Man sollte sich aber doch mal vergegenwärtigen, aus welcher Sektion der Klassikhörerschaft Thielemann den lautstärksten Applaus bekommt und warum (auch in einem gewissen Internet-Forum ist das übrigens ganz gut dokumentiert...). Was ich Thielemann vorwerfe ist nicht, daß er musikalische Vorlieben in Sachen Repertoire und Musizierstil pflegt, die sich evtl. mit den Präferenzen der nationalkonservativ bis reaktionär eingestellten Hörer decken. Ich werfe ihm vor, daß er nichts tut, um diese vermeintliche Verbindung zu kappen oder zu schwächen und infrage zu stellen, sondern sie im Gegenteil als seine persönliche Komfortzone zumindest toleriert, wenn nicht gar pflegt. Dies meinte ich weiter oben mit dem "Gesamtkunstwerk" dieser Stoßrichtung, zu dem er letztlich geworden ist. Es geht mir dabei nicht primär darum, daß diese Denkrichtung nicht die meine ist (das ist sie in der Tat nicht, aber das ist eigentlich unerheblich), sondern eher darum, daß man sich hier auf relativ plumpe Art mit einer Gruppe von Leuten verbrüdert, die in der Musik ihre Weltanschauung meinen ausleben zu müssen. Wäre Thielemann ein Linker, der sich chronisch bei irgendwelchen Palästina-Solidaritätskonzerten verdingt, würde meine Einschätzung nicht wesentlich anders ausfallen.
Aber noch einmal: auch ich schätze gewisse musikalische Leistungen von Thielemann durchaus hoch ein (wenn ich ihn auch nicht für den großen Heilsbringer halte) und bin ganz gewiß nicht daran interessiert, einem Liebhaber von Thielemann-Aufführungen oder -Aufnahmen umgehend irgendeine politisch-weltanschauliche Haltung unterstellen zu wollen. Ich kann sogar verstehen, wenn man es erfrischend findet, daß ein Dirigent mittleren Alters mal nicht der große HIP-Fan ist, sondern Traditionen des Musizierens schätzt, die manche vielleicht als altmodisch empfinden. Aber Thielemann nimmt diese Rolle auf eine Art und Weise ein, die mir aus den oben genannten Gründen nicht sehr sympathisch ist.
LG