Was wäre die französische Musik ohne Debussy?
In dem Thread über die möglichen Irrwege der Evolution wurde diese Spezialfrage angeschnitten, die ich für ein interessantes Gedankenexperiment halte, die dort weiter zu diskutieren jedoch zu weit vom dortigen Thema weg führen würde. Ich habe mir deshalb die Freiheit genommen, dazu einen eigenen Thread zu eröffnen und die bisherigen Äußerungen zu dem Thema herüber zu holen. Natürlich mit der Aufforderung, dieses spannende Thema weiter zu vertiefen.
Lieber Wulf,
diskutieren wir beide doch mal über die Entwicklung der
französischen Musik unter der Annahme, es habe keinen Debussy gegeben. Wäre
doch lustig...
Ich bin zwar nicht Wulf, aber mein erster Beitrag zu einer solchen Spekulation wäre die Annahme, dass dann der Nachruhm Chabriers verdientermaßen viel größer ausgefallen wäre. Rideamus
Das wage ich bei aller Liebe zu Chabriers Werken zu bezweifeln - zumindest was den deutschen Raum anbelangt. Chabrier steht ja in so manchem Werk, wie ich meine auszumachen, in einer Bizet-"Tradition" - zumindest unter melodisch-harmonischen Gesichtspunkten.
Was wäre ohne Claude passiert? Wagner. Franck, die große Figur der Vor- bzw. Vorvor-Generation Debussys wirkt ja noch in Dukas nach (Symphonie), ob dem so wäre, wenn sein Freund Debussy nicht die Musikwelt zu erneuern gedachte? Vielleicht. Dukas blickt ja quasi gleichzeitig nach vorn und rückwärts. Welche französischen Komponisten gibt es denn zwischen Franck und Debussy, die in Erinnerung geblieben sind?
Da wären: Bizet, Chabrier, mit großen Abstrichen Widor und Chausson. Desweiteren fallen mir keine französischen Komponisten der Romantik bzw. Spätromantik ein, deren Name noch heute geläufig ist. Woran also anknüpfen?
In der Franck-Generation Saint-Saens und später dann Fauré, der immerhin ein paar Jahre älter war als Debussy. Schaut mal nicht nur auf Opern, sondern auf Klavier- und Kammermusik. Es hätte einen "direkten" Übergang nach der Spätromantik zu einem spezifisch französischen Neoklassizismus/Neobarock geben können (so zB schon in dem Septett mit Trompete von Saint-Saens). Für eine "harmonische Befreiung" jenseits des Wagnerismus hätte man sich die Inspiration auch von Mussorgsky und Rimsky holen können.
Das ist doch schon mal eine ganze Reihe von Anregungen. Weitere Überlegungen:
Wären die Idiosynkrasien von Debussys Generationsgenossen Eric Satie nicht auch ohne ihn denkbar? Was wäre, wenn die Groupe des Six nur ihn (und davor Chabrier und Berlioz) sowie natürlich Wagner als wesentlichen Einfluss gehabt hätten?
Aber auch die Oper war so unbedeutend nicht. Mag man auch (mit Chabrier) Thomas und womöglich sogar die Opern von Saint-Saens für nachrangig halten, die von Offenbach und Massenet waren es sicher nicht, auch wenn sie die Musik natürlich nicht so drastisch weiter entwickelt haben wie Debussy, der aber seinerseits seine Beeinflussung durch Chabrier gerne eingestand. Auch die wenigen Opern von Gustave Charpentier, Lalo und Fauré sind alles andere als unbedeutend oder auch nur bloße Weiterentwicklungen, auch wenn die natürlich schon viel Debussy gehört haben
Ansonsten glaube ich aber gerade wegen des Abstands dieser immer noch bedeutenden Komponisten zu Debussy und Berlioz, dass in Ermangelung eines Debussy Chabrier als bedeutender Einfluss stärker anerkannt worden wäre.
Vielleicht sollte man aber zunächst einmal umreißen, was genau die entscheidenden Enflüsse waren, ohne die die französische Musik nach ihm nicht (so wie sie wurde) denkbar wäre.
Rideamus