Mehrstimmige Vokalmusik - ein Ärgernis?

  • Mehrstimmige Vokalmusik - ein Ärgernis?

    [Die folgenden 10 Beiträge stammen aus Strauss: "Salome" – das Tor zur Neuen Musik.
    :wink:
    Gurnemanz]

    Zitat

    Ich bin zwar kein Freund davon, aber ich kann nachvollziehen, was du meinst und es auch verstehen. Wobei, ich finde, wenn sowas gemacht wird, sollte es ein Text sein, der vorher schon "verständlich" gesungen wurde. Wenn plötzlich 4 Personen durcheinander singen, ihre Texte aber "neu" sind, und auch für die Handlung wichtig, dann würde es mich schon stören, dass ich es nicht verstehe.


    Hmmmm… wenn man so alles zusammenzählt, was Dich in der Musik stört: Viel scheint da nicht übrigzubleiben, da wird die Anzahl der Werke (und die der Genres sowieso) schon sehr übersichtlich… ;+)

    Also: das Verfahren, daß vier (oder mehr) Personen bzw. Personengruppen gleichzeitig unterschiedliche Texte auf unterschiedliche Melodie singen, ist fast so alt, wie die überlieferte Musik. Die Motette (http://de.wikipedia.org/wiki/Motette) stammt aus dem 13. Jh…. Und nicht nur so alt: Das ist ein ganz elementares Element gesungener westlicher Musik. Das ist das grundlegende Prinzip der Vokalmusik bis in das 17. Jahrhundert überhaupt und sowieso, das grundlegende Prinzip der missa brevis (zumindest in Gloria und Sanctus, heißt dort Polytextur) und aus der Oper ist es ja nun überhaupt nicht wegzudenken… Und in keinem dieser Beispiele ist es sinnvoll (musikalisch, in Bezug auf die Zeit oder dramatisch), das vorher mal "durchzusingen", damit der Hörer den Text schon mal vernommen hat. Beispiele, glaub' ich, kann ich mir schenken, es ist zu offensichtlich. Alle denselben Text zur selben Zeit synchron singen zu lassen ist ein Stilelement. Den selben Text zeitverschoben, vielleicht gar auf unterschiedliche Rhythmen/Melodien oder überhaupt unterschiedliche Texte gleichzeitig zu singen sind auch Stilelemente…

    Was da möglich ist, kannst Du Dir z.B. auf dieser CD anhören:

    oder das 4*9-stimmige Deo gratias von Johannes Ockeghem auch hier:

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    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Da kann man immer noch was draufsetzen: die isorhythmischen Motetten der Ars Nova und der Ars Subtilior. Da sind einige Stücke dabei, bei denen jede Stimme nicht nur ihre eigene Melodie- und Rhythmusfolge, sondern auch einen jeweils anderen Text hat. Und manchmal gibt es mehrsprachige Texte (z.B. Latein & Französisch).

    Hier ein Hörbeispiel als eins von Vielen (drei Stimmen, drei Texte in einer Sprache):

    CD2 - Track 2


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Hmmmm… wenn man so alles zusammenzählt, was Dich in der Musik stört


    Nö, nur am Gesang.

    Es muss doch erlaubt sein zu kritisieren, wenn handlungsrelevanter Text nicht mehr verständlich ist, weil 3 oder 4 andere Personen dazu unterschiedliche Sachen singen. Das mag musikalisch vielleicht gut klingen (mich macht es nervös), aber geschichtserzähltechnisch finde ich das nicht so prickelnd.

  • Es muss doch erlaubt sein zu kritisieren, wenn handlungsrelevanter Text nicht mehr verständlich ist, weil 3 oder 4 andere Personen dazu unterschiedliche Sachen singen.

    Die Komponisten wissen auch, daß solche Stellen unverständlich bleiben können. Deshalb wird in diesen Stellen auch keine handlungsrelevanter Text verwendet, sondern nur solcher, der die Stimmung der Charaktere beschreibt; solcher Text, den man auch weglassen könnte, ohne die Handlung zu verändern.

    Somit geht deine Kritik durchaus ins Leere, lieber Merkatz.


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Somit geht deine Kritik durchaus ins Leere, lieber Merkatz.


    Damit macht man es sich aber ziemlich leicht, oder?

    Beispiel: der Eremit singt im Freischütz am Ende "Weicht nimmer von der Tugend Pfade, um eures Glückes Wert zu sein". Bloß: man versteht es nicht, weil alle durcheinander singen.
    Oder: Ännchen singt während dieser Stelle, dass sie nächstes Mal Agathe aufs neue zum Brautaltar führen wird. Hört man auch nicht.

    Oder, um beim Thema zu bleiben: Salome, kurz nachdem sie das erste Mal den Kopf des Jochanaan haben will. Da sagt die Mutter (die ja bis dahin auch nichts von Salomes Plänen wusste) "Ach! Das sagst du gut, meine Tochter, das sagst du gut".
    Und was ist mit Herodes? Wenn er das erste Mal hört, was Salome haben will, will ich doch wissen, wie er drauf reagiert! Ich will wissen, was er darauf sagt, und das ist durchaus handlungsrelevant, und kann nicht einfach weggelassen werden. Er sagt "Nein nein, Salome; das ist es nicht, was du begehrst".

    Weder Herodes noch Herodias versteht man, weil beide durcheinander singen, obwohl es interessant wäre zu wissen, was beide in der Situation zu dem ungewöhnlichen Wunsch von Salome sagen.

    Und das hat sicher wenig mit der Stimmung des Charakters zu tun ... wobei, wenn man die Sache so angeht, dann stellt sich die Frage, ob nicht JEDER Satz einer Figur dessen Stimmung wiedergibt.

  • Tja, wenn im richtigen Leben auch alle alle ausreden ließen und vielleicht sogar zuhören würden, was die anderen zu sagen haben und sie sich vieleicht gar noch die Mühe machen würden, das Gehörte auch zu verstehen...
    DA wär's gelegentlich vielleicht sogar wirklich "handlungsrelevant"...
    Nachdem es aber im richtig'n Leb'n angeblich vorkommen soll, daß sich Leute nicht zuhören und/oder durcheinanderreden und ohnehin keiner den anderen versteht oder verstehen will: Warum sollte das dann gerade in der Oper anders sein...? Warum sollten sich ausgerechnet im Freischütz alle auf einmal für klerikale Tugendratschläge interessieren, wo sie' in echt auch nicht machen? Und wen interessiert schon ernsthaft, was Cousine Anny zum Besten gibt, dieses pubertierende Girlie, der es ja doch nur um den Event als solchen und ihre Rolle als "bridal maid" geht? Mehr noch: Warum sollten sie es gerade in dieser Szene tun, wo doch jetzt eigentlich alles klar ist, das happy end so gut wie besiegelt (ok, wir müssen bis zur Hochzeit noch ein Jahr warten), und die Endorphine aus den Ohren spritzen? Da ist keine Handlung mehr!

    Wenn in Fidelio in der Nr 4 (oder 3, je nach Ausgabe), dieser wunderbaren, statischen Momentaufnahme ("

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    "), vier Leute ihren jeweils ganz eigenen Gedanken nachhängen (für mich eine der schönsten Ensemble-Szenen der Operngeschichte!), was sollen sie denn da machen? Gemeinsam die Gedanken der jeweils drei anderen mitsingen? Das geht wohl kaum. Keiner weiß, was der andere denkt. Oder jeder getrennt nacheinander an die Rampe schreiten und seine Gefühle vortragen, so wie man in der Schule ein Gedicht aufsagt? Das wäre nicht nur ganz schön langweilig, das wäre schlechterdings nicht theaterwirksam. Ausserden passiert es ja tatsächlich gleichzeitig. Es ist nicht das Hauptanliegen der Oper, Texte oder gar Handlungen zu vermitteln, zumindest nicht auf lange Strecken. Lass' den Yuotubeauschnitt auf Dich wirken, vielleicht verstehst Du dann, was ich meine. Es geht doch wohl kaum jemand wegen der nicht selten an den Haaren herbeigezogenen Handlung oder wegen der unsäglichen Texte in die Oper. Oder doch?

    Handlung findet in der Oper im Rezitativ und seinen Abkömmlingen statt. Oder in den gesprochenen Zwischentexten. Alles andere ist m.E. Reflexion.

    Die Alternative heißt "Ballade". Oder "Lied". Oder im Extremfall: Lesung.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Die Inszenierung ist eh wieder ein Schmarrn, da muss ich nicht auf die Bühne schauen. Orchester ist interessanter


    Nö, nur am Gesang.


    Wenn ich Dich so lese, frage ich mich ernsthaft, wieso Du Dich nicht endlich mal mit ernsthafter Musik (Instrumentalmusik meine ich) beschäftigen willst. :hide:

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Nachdem es aber im richtig'n Leb'n angeblich vorkommen soll, daß sich Leute nicht zuhören und/oder durcheinanderreden und ohnehin keiner den anderen versteht oder verstehen will: Warum sollte das dann gerade in der Oper anders sein...?

    Weil eine Oper keine Dokumentation des richtigen Lebens sein soll, sondern eine Kunstform. Kein Mensch drückt sich in Reimen aus oder wird ständig von Musik begleitet - in der Oper schon, und wir stoßen uns nicht daran. Ich glaube, keiner wird im Publikum sitzen und Szenen vermissen, wo Leute durcheinanderreden. Im echten Leben ist sowas schon anstrengend genug - siehe Polit-Talkshows. Im Freischütz gibts auch Geister, Freikugeln etc.. Wenn solche unrealistischen Dinge vorkommen, wieso sollte dann plötzlich der Text der Personen "realistisch" sein, indem durcheinandergesungen wird?
    Oder anders gesagt: wieso sollte es mich stören, wenn in einer Oper, wo viele unrealistische Dinge passieren, ein bisschen Realismus fehlt?

    Was ist mit Chören? Da stehen zig Bauern auf der Bühne und singen alle das gleiche! Ist DAS nicht unrealistisch? Wird nicht jeder Bauer etwas anderes dazu denken, was auf der Bühne passiert?

    Ausserdem: im echten Leben reden die Leute schon mal durcheinander, ja, aber sicher nicht mehrere Minuten am Stück, wie das manchmal vorkommt.

    Ich glaube ja schon fast, dass ein Komponist solche Sachen nur macht, damit er nicht zuviel komponieren muss, und mehrere Texte auf einmal verarbeiten kann - da fallen "schlechtere" Melodien im Stimmengewirr auch kaum auf :D

    Wenn in Fidelio in der Nr 4 (oder 3, je nach Ausgabe), dieser wunderbaren, statischen Momentaufnahme ("

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    "), vier Leute ihren jeweils ganz eigenen Gedanken nachhängen (für mich eine der schönsten Ensemble-Szenen der Operngeschichte!), was sollen sie denn da machen?

    Vorschlag: ruhig sein :thumbup:

    Gemeinsam die Gedanken der jeweils drei anderen mitsingen? Das geht wohl kaum. Keiner weiß, was der andere denkt. Oder jeder getrennt nacheinander an die Rampe schreiten und seine Gefühle vortragen, so wie man in der Schule ein Gedicht aufsagt? Das wäre nicht nur ganz schön langweilig, das wäre schlechterdings nicht theaterwirksam.


    Damit widersprichst du dir aber ein klein wenig selber:einerseits ist dir scheinbar wichtig, dass es in der Oper "realistisch" ist, indem durcheinandergesungen wird, bzw. andererseits soll das Geschehen auf der Bühne, also auch die Personenführung etc., "theaterwirksam" sein.

    Ich meine, worauf achtet man in solchen Szenen? Nur mehr auf die Melodien? Oder versucht man EINER Person zuzuhören?

    Handlung findet in der Oper im Rezitativ und seinen Abkömmlingen statt.

    "O wie hell die goldnen Sterne, mit wie reinem Glanz sie glühn", "Ob Mond auf seinem Pfad wohl lacht? Welch schöne Nacht!" - beides Rezitative der Agathe. Ist das Handlung, dass uns Agathe beschreibt, wie es draussen aussieht?

  • Weil eine Oper keine Dokumentation des richtigen Lebens sein soll, sondern eine Kunstform.

    Eben :D. Deshalb singen mehrere Menschen gleichzeitig verschiedene Texte, obwohl kein realistisches Durcheinanderreden impliziert ist. In den meisten klassischen Ensembles.

    Das gleichzeitige Reden bzw. Schreien von Herodes und Herodias an der genannten Stelle ist eher eine Ausnahme: hier ist wirklich im "realistischen" Sinne das gegenseitige Überschreien gemeint, und das macht große Wirkung - man merkt, wie sehr beide unter Druck stehen, das ist wie eine Explosion.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Ich glaube ja schon fast, dass ein Komponist solche Sachen nur macht, damit er nicht zuviel komponieren muss, und mehrere Texte auf einmal verarbeiten kann - da fallen "schlechtere" Melodien im Stimmengewirr auch kaum auf :D

    Ich bin vielmehr überzeugt, dass die Ensembles einfach der Abwechslung dienen und einen Höhepunkt schaffen. Das kann man gut bei italienischen Barockopern beobachten - so sehr mir die Musik grundsätzlich gefällt, ich bin doch immer froh, wenn es wenigstens alle eineinhalb Stunden einmal ein Duett gibt und die liederabendartige Abfolge von (meist Sopran-)Arien wenigstens einmal unterbrochen wird. ;+)

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Zitat


    Mehrstimmige Musik - ein Ärgernis?


    [Die folgenden 10 Beiträge stammen aus Strauss: "Salome" – das Tor zur Neuen Musik.
    :wink:
    Gurnemanz]


    Kurze Zwischenfrage:


    ist hier Mehrstimmigkeit nur vokal - die entnommenen Beiträge entstammen ja ausnahmslos einem Opernthema - oder auch instrumental gemeint? In letzter Zeit wurden ja vereinzelt Vorbehalte hinsichtlich der Fugen bei Bach, insbesondere im Zusammenhang mit den Sonaten und Partiten für Violine solo, geäußert.

  • Lieber Yukon,

    ich würde das Thema hier auf vokale Mehrstimmigkeit beschränken, da es - so war der Ausgangspunkt - um die Wortverständlichkeit von Mehrstimmigkeit geht. Bei Instrumentalmusik sieht das womöglich wieder anders aus: Wenn wir hier jetzt auch die "Verständlichkeit" Bachscher Fugen miteinbeziehen, könnte das eher verwirren und eine neue moderative Zellteilung fordern. Die von Dir angesprochenen Vorbehalte in Bezug auf Polyphonie in Instrumentalmusik wären evt. einen eigenen Thread wert...

    Zur Sicherheit ergänze ich den Titel ("Vokalmusik" statt "Musik").

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Lieber merkatz,

    ich würde Dir raten, das Finale des erstens Akts von Rossinis L'Italiana in Algeri zu hören. Da singen alle von fern oder nah an der Handlung Beteiligte gerade das, was ihnen im Moment einfällt, sei es "din din din din" oder "bum bum bum bum". Wie man auf Italienisch sagt, gran confusione. Und Rossini vermag es, musikalisch dieses Durcheinander zu strukturieren und daraus einen dramatischen Höhepunkt zu schaffen. Es zeigt uns, daß man das "Gesprochene" nicht verstehen muß, um die Handlung nachzuvollziehen. Hier gibt es einfach nix zu verstehen und trotzdem geschieht etwas. In solchen Situationen zeigt die Oper ihre ganze Macht als Kunstform (nicht nur die Oper übrigens, wie bereits erwähnt ist die Macht der Polyphonie früh erkannt worden). Die Wörter bringen nur ihren Klang zum Ausdruck einer Situation, die zwar aus dem Inhalt dieser Wörter gestaltet, aber in Musik umgesetzt wurde. Und in diesem Beispiel geht es so weit, daß die Wörter buchstäblich auf Klang reduziert werden.

    Nicht so extrem, was die Abstrahierung der Wörter angeht, aber genauso meisterhaft in der musikalischen Darstellung verfährt Mozart im zweiten Finale von Le Nozze di Figaro.
    Die Musik vermag besser als die Wörter die Spannung einer Situation darzustellen, die unter anderem dadurch entsteht, daß die verschiedenen Beteiligten eine unterschiedliche und sogar konfliktuelle Sicht der Dinge haben. Eigentlich "sprechen" sie nicht mal. Sie denken nur, und die Musik macht dieses Spannungsfeld fühlbar.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Ich glaube ja schon fast, dass ein Komponist solche Sachen nur macht, damit er nicht zuviel komponieren muss, und mehrere Texte auf einmal verarbeiten kann - da fallen "schlechtere" Melodien im Stimmengewirr auch kaum auf :D

    Auch wenn das vermutlich als absichtlich naive Provokation gemeint ist, verkennt es doch gründlich, wie sehr Mehrstimmigkeit geradezu die musikalische Errungenschaft des Abendlandes ist. Immer haben am Text orientierte Kulturträger wie die Kirche daran Anstoß genommen, daß die "heiligen" Texte nur noch zum Anlaß kunstvoller musikalischer Gebilde genommen werden. Das kannst Du jetzt als handlungsorientierter Opernfreund gerne wiederholen, allein, am gängigen Urteil, in diversen Ensembleszenen geradezu die Höhepunkte der Opernkunst zu sehen, wird es nicht viel ändern.

    Nicht so extrem, was die Abstrahierung der Wörter angeht, aber genauso meisterhaft in der musikalischen Darstellung verfährt Mozart im zweiten Finale von Le Nozze di Figaro.
    Die Musik vermag besser als die Wörter die Spannung einer Situation darzustellen, die unter anderem dadurch entsteht, daß die verschiedenen Beteiligten eine unterschiedliche und sogart konfliktuelle Sicht der Dinge haben. Eigentlich "sprechen" sie nicht mal. Sie denken nur, und die Musik macht dieses Spannungsfeld fühlbar.

    Es findet ja in diesen Szenen auch etwas wie die Versöhnung des Kontrapunktes mit der Dramatik statt. :juhu:

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Bei "Mir ist so wunderbar" versteht man m.E. relativ gut die geringfügig unterschiedlichen Texte ("...mir sträubt sich schon das Haar, der Vater willigt ein...) Ein guter Komponist versteht es natürlich auch in Ensembles mitunter Textzeilen so herauszuheben, dass sie verständlich sind. Aber wie andere schon hervorgehoben haben, ist das meistens nicht der Punkt. Wenn einem das nicht zusagt, Pech! Dann muss man sich halt auf Musik beschränken, bei der das nicht oder nur sehr selten vorkommt, zB Wagner.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Immer haben am Text orientierte Kulturträger wie die Kirche daran Anstoß genommen, daß die "heiligen" Texte nur noch zum Anlaß kunstvoller musikalischer Gebilde genommen werden.

    Wobei man sich seinerzeit in Trient doch eher von der pragmatischen Seite gezeigt hat, als man per Dekret verabschiedete, dass im Kirchenraum "nichts Unreines und Laszives" erklingen dürfe. Jedenfalls stand auch nach Trient der Entwicklung polyphoner Kirchenmusik, deren Verbot ursprünglich gefordert wurde (übrigens wegen angeblicher mangelnder Textverständlichkeit), kaum etwas entgegen.

  • Wobei, was im katholischen Kontext des 16.Jahrhunderts als Kompromiß gelten kann, durchaus bedrohliche Züge annehmen kann, wenn etwa die sinnliche Macht der Musik als etwas per se "unreines" erkannt wird: Daß es schon (außer der geistigen Komponente) eine auch sinnliche Kunst ist, wird man ja nicht bestreiten wollen.
    Immerhin gibt es ja fundamentalistische Strömungen z.B. im Islam, die Musik überhaupt verdammen.

    Da lobt man sich ja schon die katholische Generosität von damals...
    Ich denke, da war viel Kunstsinn im Spiel.

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Bei "Mir ist so wunderbar" versteht man m.E. relativ gut die geringfügig unterschiedlichen Texte ("...mir sträubt sich schon das Haar, der Vater willigt ein...) Ein guter Komponist versteht es natürlich auch in Ensembles mitunter Textzeilen so herauszuheben, dass sie verständlich sind.

    Ja. Den jeweiligen Anfang. Das können gute Sänger bei mehrstimmigen Stücken: etwas mit dem Volumen zurückzugehen, wenn eine Stimme neu einsetzt. Dann wird's aber wieder gut gemischt polyphon...

    Wobei man sich seinerzeit in Trient doch eher von der pragmatischen Seite gezeigt hat, als man per Dekret verabschiedete, dass im Kirchenraum "nichts Unreines und Laszives" erklingen dürfe. Jedenfalls stand auch nach Trient der Entwicklung polyphoner Kirchenmusik, deren Verbot ursprünglich gefordert wurde (übrigens wegen angeblicher mangelnder Textverständlichkeit), kaum etwas entgegen.

    Das mit dem Verbot, das gehört zur Legendenbildung des 19. Jhs und stand niemals wirklich zur Debatte. Die 12 (?) Auftragskompositionen mit der Auflage, textverständlich zu komponieren, die für die Kommission unter Borromeo und Vitelli geschaffen und am 28.4.1565 vor der Kommission aufgeführt wurden, waren als Muster für kirchlich politisch korrektes Komponieren gedacht, nicht aber, um darüber Gericht zu sitzen und je nach Ausgang die Kirchenmusik zu verbieten. Letzteres war auch und gerade im Sinne der Gegenreformation politisch überhaupt nicht angestrebt!

    Wobei, was im katholischen Kontext des 16.Jahrhunderts als Kompromiß gelten kann, durchaus bedrohliche Züge annehmen kann, wenn etwa die sinnliche Macht der Musik als etwas per se "unreines" erkannt wird: Daß es schon (außer der geistigen Komponente) eine auch sinnliche Kunst ist, wird man ja nicht bestreiten wollen.
    Immerhin gibt es ja fundamentalistische Strömungen z.B. im Islam, die Musik überhaupt verdammen.

    Da lobt man sich ja schon die katholische Generosität von damals...
    Ich denke, da war viel Kunstsinn im Spiel.

    Gruss
    Herr Maria

    Zweifellos. Einerseits. Andererseits hat es genau diese fundamentalistischen Strömungen in unterschiedlicher Ausprägung seit 2000 Jahren auch immer wieder in allen christliche Konfessionen und Sekten gegeben, auch in der katholischen Kirche. Das war immer ein ständiges Spannungsfeld. Nicht zuletzt Augustinus hat den Dualismus zwischen geistiger Komponente und Sinnlichem Gehalt intensiv diskutiert. Mit sehr zwiespältigen Gefühlen.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Damit macht man es sich aber ziemlich leicht, oder?

    Nein.

    Ich bestimmt nicht.

    Oder, um beim Thema zu bleiben: Salome, kurz nachdem sie das erste Mal den Kopf des Jochanaan haben will. Da sagt die Mutter (die ja bis dahin auch nichts von Salomes Plänen wusste) "Ach! Das sagst du gut, meine Tochter, das sagst du gut".
    Und was ist mit Herodes? Wenn er das erste Mal hört, was Salome haben will, will ich doch wissen, wie er drauf reagiert! Ich will wissen, was er darauf sagt, und das ist durchaus handlungsrelevant, und kann nicht einfach weggelassen werden. Er sagt "Nein nein, Salome; das ist es nicht, was du begehrst".

    Weder Herodes noch Herodias versteht man, weil beide durcheinander singen, obwohl es interessant wäre zu wissen, was beide in der Situation zu dem ungewöhnlichen Wunsch von Salome sagen.

    Erstens beschreibst du ja eine Stelle, die exponiert die Reaktion der beiden zum ersten Mal schildert; später diskutieren Herdoes und Salome weiter, denn Herodes will das eigentlich nicht erfüllen.

    An welcher Stelle dahinter wird unklar, worum es an dieser Stelle der Oper geht?

    Es gibt nicht nur Detailarbeit, sondern auch ein konzeptioneller Zusammenhang. Und genau den willst du zugunsten von Textverständlichkeit über den Haufen werfen.

    Und das hat sicher wenig mit der Stimmung des Charakters zu tun ... wobei, wenn man die Sache so angeht, dann stellt sich die Frage, ob nicht JEDER Satz einer Figur dessen Stimmung wiedergibt.

    Bei einer Oper durchaus richtig, aber in welcher Hinsicht? Wenn man im Film oder TV ein Gag aufbaut, muß man auch dem Lachen des Publikums Rechnung tragen und keinen weiteren Gag direkt folgen lassen, sonst geht der im Gelächter unter.

    So ist das auch an dieser Stelle in Salome: man versteht vielleicht nicht genau, was beide sagen, aber der Sinn ihrer Antworten zu dem von Salome gesagten wird später dennoch deutlich. Auch das ist szenisches Arbeiten: es ist ein besonderer Effekt; es ist ja schließlich auch eine ganz zentrale Stelle innerhalb der Handlung.

    Ganz ehrlich, du verkrampfst dich zu sehr auf Details - dir geht der Überblick über den Zusammenhang flöten.


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Naja, dann kann ich mir ja eine Polit-Talkshow ansehen, bei der 2, 3 Leute durcheinanderreden, man nichts versteht und sagen "Das ist toll, das ist ein Stimmungsbild, wie unsere Politiker so drauf sind" oder eine ähnliche Erklärung.

    Ich weiss dann zwar nicht, was die Leute gesagt haben, aber ich erfahre was über deren (uninteressante) Psyche.

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