Arnold Schönberg: A Survivor from Warsaw op. 46

  • Arnold Schönberg: A Survivor from Warsaw op. 46

    Ein musikalisches Mahnmal (Orchestereinleitung, Erzählung, Chor) - das Trauma dieser Extremsituation, von einem nach wie vor fassungslos Entsetzten, einem Überlebenden aus Warschau, enorm aufgewühlt wiedergegeben und von beißend atonal-klangscharfer Musik zusätzlich punktgenau psychologisiert, die Erinnerung daran, wie chancenlose jüdische Opfer zur Gaskammer gequält werden, wie der Feldwebel brüllt, wie sie zu zählen beginnen müssen, wie sich aus dieser völligen Ausweg- und Hoffnungslosigkeit dann aber doch ein die Situation überzeitlich überstrahlender „Trotzdem“ Chor „Schma Jisrael“ (eine Vertonung des zentralen jüdischen Gebets) ballt, diese Momentaufnahme einer Standard-Extremsituation der Kriegsjahre bis 1945 verdichtet Arnold Schönberg im August 1947, angeregt durch einen Bericht aus dem Warschauer Ghetto, in einem Melodram von sieben Minuten Spieldauer mit Sprecher (englisch, Feldwebelrufe deutsch), Orchester und Männerchor zu einer plastischen Szene, die polarisieren muss, weil sie die Hörerschaft so extrem wie fast noch kein Musikwerk davor fordert, inhaltlich wie vom musikalischen Ausdruck her.

    Ausführende müssen immer damit rechnen, dass Teile des Publikums weder den Inhalt noch das Werk hören wollen, sei es weil man der Meinung ist, dieses Thema solle nicht länger hochgekocht werden oder weil man mit dieser atonalen, noch dazu extrem emotionalisierten Zwölftonmusik nichts zu tun haben möchte. Da es aber Interpreten immer wieder ein Anliegen ist dieses Werk aufzuführen, wird es hin und wieder als Eröffnungsstück von Konzerten aufgeführt, bei denen danach – „klugerweise“ ohne Pause - Zugpferde wie Beethovens 9. Symphonie folgen. Längst ist das Werk auch Musik-Unterrichtsstoff, in Kombination mit dem Geschichtsunterricht einsetzbar.

    Bei wikipedia findet sich eine sehr genaue Detailanalyse des Werks.

    Der Schreiber dieser Zeilen hat das Werk vor vielen Jahren in einer Schallplattenaufnahme mit Robert Craft und dem Philharmonia Orchestra (Erzähler David Wilson-Johnson) und (im Oberstufen-Unterricht) in einer Radioaufnahme mit Eberhard Wächter als Sprecher kennengelernt. Claudio Abbado hat das Werk im Mai 1974 auch mit Eberhard Wächter als Sprecher und den Wiener Philharmonikern im Großen Musikvereinssaal zweimal aufgeführt. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre hat er dann mit den Wiener Philharmonikern wesentliche Orchestermusik der Zweiten Wiener Schule geblockt und zielgerichtet aufgeführt und aufgenommen (und insofern orchesterhistorisch wirklich Bedeutsames geleistet). „A Survivor from Warsaw“ brachte diesmal Gottfried Hornik als Erzähler und den Männerchor der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor zu den Wiener Philharmonikern im Mai 1989 zu einer Wiederaufführung in den Großen Musikvereinssaal (CD DGG 431 774-2). Der Sprecherpart ist ja ganz genau auf die Musik zugeschnitten, trotzdem muss der Sprecher die aufwühlende Emotion transportieren, als lebte er, mit dem Orchester als psychologischer Grundlage, die Situation immer wieder (mit jeder Aufführung) neu. Hornik fängt diese Betroffenheit plastisch ein. Es versteht sich, dass selbst die sonst ihre Klangschönheit nur allzu gerne kultivierenden Philharmoniker die Schärfen der Musik ausloten und sich das meist selbst in seelentief abgründiger Musik durchhörbare Tröstliche und Hoffnungsvolle wirklich erst mit dem kompakt aufstrahlenden Männerchor entladen darf.

    Welche anderen Aufnahmen sind den Capricciosi bekannt? Gelingt es ihnen, die gewünschte Emotionalisierung zu transportieren, so dass das Werk im erschütternden Sinn unter die Haut geht?

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Vielen Dank, lieber Alexander, für Deine informative und sensible Einführung in ein Werk, über das sich nun wahrlich nicht so gelassen diskutieren läßt wie über andere Musik, auch solche, deren Thematik ebenfalls ins Tragische geht (z. B. Mahlers 6. Symphonie, bei der es mir leichter fiele).

    Ausführende müssen immer damit rechnen, dass Teile des Publikums weder den Inhalt noch das Werk hören wollen, sei es weil man der Meinung ist, dieses Thema solle nicht länger hochgekocht werden oder weil man mit dieser atonalen, noch dazu extrem emotionalisierten Zwölftonmusik nichts zu tun haben möchte.

    Auch ich empfinde Unbehagen beim Hören, nicht wegen der "extrem emotionalisierten Zwölftonmusik, damit bin ich ja durchaus vertraut - sondern natürlich wegen der Thematik selbst - aber auch wegen der Art der Verarbeitung des Schreckens durch Schönberg.

    Gerade habe ich das Werk in der einzigen Aufnahme angehört - nach langer Zeit wieder einmal -, die sich bei mir findet:


    Günther Reich, Sprecher; BBC Chorus & Orchestra; Ltg.: Pierre Boulez; Sony, aufg. 1976

    Diese Aufnahme finde ich durchwegs überzeugend: transparent, emotional, mit einem Sprecher, der, kompetent auch in der sprachlichen Gestaltung, die Rolle glaubhaft verkörpert.

    Was mein Unbehagen angeht, so läßt sich das vielleicht am besten als Frage formulieren: Kann Musik überhaupt an den Schrecken herankommen, von dem hier die Rede ist, selbst mit den Mitteln der äußersten Expressivität, die der Zwölftonmusik möglich ist? Auch die Konstruktion, eine verzerrte Form (?) des Beethovenschen "Per aspera ad astra", mit dem "Sch'ma Jisroel" des Männerchors als Finale: Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll: Übernimmt sich die Musik hier nicht?

    Beim Hören dieses Werks empfinde ich Ratlosigkeit.

    Theodor W. Adornos Ambivalenz, die in zwei Zitaten deutlich wird (dem von Alexander erwähnten Wikipedia-Artikel entnommen), finde ich diskussionswürdig:

    „Etwas Peinliches gesellt sich der Komposition Schönbergs, […] als ob die Scham vor den Opfern verletzt wäre. Aus diesen wird etwas bereitet, Kunstwerke, der Welt zum Fraß vorgeworfen, die sie umbrachte.“

    „So wahr hat nie Grauen in der Musik geklungen, und indem es laut wird, findet sie ihre lösende Kraft wieder vermöge der Negation. Der jüdische Gesang, mit dem der ‚Überlebende von Warschau‘ schließt, ist Musik als Einspruch gegen den Mythos.“

    Wahrer Ausdruck des Grauens einerseits, Schamverletzung anderereits: Widerspricht sich Adorno hier?

    Meine Ratlosigkeit löst sich dadurch nicht...

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ratlos wie Gurnemanz bin ich hier gar nicht.

    8+) Bei mir erzielt das Werk genau das, was es auch bewirken soll: Erschütterung und zugleich Begeisterung für das Werk, das die Thematik auf den Punkt bringt.

    :!: Ein Überlebender in Warschau gehört für mich persönlich zu den wichtigsten Schönberg-Werken und genau so wichtig = zu den Werken von Schönberg die voll geniessbar sind und nicht so einen "mathematisches Klanggewusel" (um mich gesittet auszudrücken), wie einige seiner Werke - das KK ist für mich Klang-Horror ! Ich schätze ja im Prinzip die Werke aus dem 20.Jhd höher, als die reine Klassik ... aber die Wiener Schule ist nicht meine Welt.

    Ich besitze auch die von Gurnemanz abgebildte Schönberg-Aufnahme unter Boulez (CBS) (aber auf meiner CBS-LP anders ;+) und für mich mit geniessbarerem Schönberg-Programm gekoppelt). Ich kenne das Werk bereits aus einer uralten Rundfunkaufnahme mit dem Kölner RSO. :thumbup: Aber sowohl Boulez mit dem BBC SO als auch der Sprecher kommen noch eindringlicher rüber. Da scheint mir eine sehr wichtige Aufnahme des Werkes zu sein.

    :| Ich würde das Werk auch nicht unter Vocalmusik einordnen, nur weil ein Sprecher dabei ist ....

    ______________

    Gruß aus Bonn

    Wolfgang

  • Ich würde das Werk auch nicht unter Vocalmusik einordnen, nur weil ein Sprecher dabei ist ....

    Na ja, am Schluss gibt es ja auch noch den Chor, der das "Schma Israel" singt.

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Zitat

    „Etwas Peinliches gesellt sich der Komposition Schönbergs, […] als ob die Scham vor den Opfern verletzt wäre. Aus diesen wird etwas bereitet, Kunstwerke, der Welt zum Fraß vorgeworfen, die sie umbrachte.“

    Ja ja. Das ist bei jedem Kinofilm über ...mindestens genauso. Trotzdem

    Zitat

    Begeisterung für das Werk

    wegen der

    Zitat

    emotionalisierten Zwölftonmusik

    Dass das geht, ist mir an diesem Werk sofort klar geworden. :wink:

    Ich bin weltoffen, tolerant und schön.

  • Das Werk "Ein Überlebender aus Warschau" finde ich sehr beeindruckend, ergreifend und auch erschütternd. Das "Unbehagen", wie es Gurnemanz formulierte, kann ich nur bedingt nachvollziehen, denn meiner Meinung nach kann man dieses unvorstellbare Grauen nicht anders oder gar besser in Musik darstellen.

    Nach der europäischen Erstaufführung am 15. November 1949 in Paris durch den Dirigenten und Schönberg-Schüler René Leibowitz erzählte ihm ein Zuhörer: "Man hat ganze Bände, lange Aufsätze, viele Artikel über diese Probleme geschrieben, aber Schönberg hat in acht Minuten weit mehr ausgedrückt, als es bis jetzt irgend jemand vermocht hat." Besser kann man es nicht ausdrücken wie ich finde.

    Da dieses Werk für Sprecher, Männerchor und Orchester besetzt ist, gehört es sehr wohl zur Vokalmusik und ist vielleicht mit der Kantate vergleichbar.

    Das Werk habe ich in der gleichen Aufnahme (Abbado) wie Alexander und ich kann mich seinen Eindrücken voll und ganz anschliessen.

    Interessant ist vielleicht diese Seite mit interessanten Informationen über Geschichte und Hintergründe zu diesem Werk:
    "http://www.austria-lexikon.at/af/Wissenssamm…er_aus_Warschau"

    Lionel

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

  • neu auf youtube:

    Schönberg, A Survivor from Warsaw.

    Wiener Sinfonieorchester, Akademischer Kammerchor, Hans Jaray (Sprecher), Dir.: Hans Swarowsky. Aufnahme ca. 1952

    https://youtu.be/z7K9oLKIkHs

    ebenfalls auf yt mit denselben Interpreten:

    Schönberg, Kol Nidre, op. 39

    https://youtu.be/epnqxowSYus

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Ich glaube, das war vor Jahren schon Thema: Mich beeindruckt gerade bei Schönberg und insbesondere auch in diesem Werk der Ausdruck. Ich verstehe nun die Theorie sowieso nicht. Daher frage ich die Theoriekenner: Wird die Expressivität hier dem Zwölftonrahmen geradezu abgetrotzt, oder trägt er sogar zu ihr bei? Oder spielt er keine Rolle dafür?

    Ich hole das mal hierher in den Werkfaden. Vielleicht ergibt sich ja eine Diskussion über kunnukuns Frage.

  • Daher frage ich die Theoriekenner: Wird die Expressivität hier dem Zwölftonrahmen geradezu abgetrotzt, oder trägt er sogar zu ihr bei? Oder spielt er keine Rolle dafür?

    Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Frage richtig verstanden habe, aber grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Dodekaphonie ein kompositorisches System ist, welches genauso wenig einen bestimmten Ausdruck determiniert wie irgendein anderes System. Dass ein bestimmtes Stück dodekaphonisch ist, sagt genauso wenig über seinen Ausdruck wie die Feststellung, dass ein anderes in C-Dur steht.

  • Ich könnte mir vorstellen, daß nicht die Tatsache, daß Schönberg im Survivor nach den Grundsätzen der Dodekaphonie komponiert, wohl aber die spezifische Art und Weise, wie er Dodekaphonie hier einsetzt, zum Ausdruck beiträgt oder diesen sogar trägt; das könnte eine Analyse der musikalischen Semantik erweisen. Die Strenge der Technik entspräche dann einer Strenge im Ausdruck. Ob man das wirklich so nachweisen kann, das weiß ich nicht.

    Schönberg hat ja die Dodekaphonie auch in Werken angewendet und damit eher heiter-verspielte Wirkungen erzielt, z. B. im Bläserquintett.

    Daher stimme ich meinem Vorredner zu: Auch ein Werk in C-Dur bietet grundsätzlich ganz verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Hier gabs einen Thread mit einem nah vewandten, sozusagen komplementären Thema:

    Kann frei dissonante („atonale“) Musik heiter klingen?

    Was ich mir zu der sehr interessanten Frage so zusammenreime (ich spreche in keiner Weise als "Theoretiker") wäre etwa:

    Grundsätzlich stimme ich

    dass die Dodekaphonie ein kompositorisches System ist, welches genauso wenig einen bestimmten Ausdruck determiniert wie irgendein anderes System. Dass ein bestimmtes Stück dodekaphonisch ist, sagt genauso wenig über seinen Ausdruck wie die Feststellung, dass ein anderes in C-Dur steht.

    zu; ich komme aber schwer von der Vorstellung weg, daß es sowas wie "primäre Affinitäten" gibt.

    z.B. eine farbpychologische Bestimmung würde wohl zur Farbe "Rot" "primäre" Assoziationen wie Wärme, Liebe, Leben feststellen, oder zur Farbe "Grün" Natur, Behagen, Wohltun.

    So etwas darf aber keinesfalls "festlegend" verstanden werden, selbstverständlich gibt es auch ein kaltes, hartes, fades Rot und ein giftiges, widriges, gruseliges Grün, womit keinerlei ästhetische Minderwertung verbunden ist.

    So ähnlich stelle ich es mir auch bei der Frage betreffend Survivor vor.

    Wenn ich an Schuberts "Gruppe aus dem Tartarus" denke, in dem das fürchterlichste C-Dur vorkommt, so könnte ich mir auch den Survivor tonal komponiert vorstellen (Schubert ist allerdings auch nicht ohne Chromatik ausgekommen).

    Dennoch - eine zu Schubert zeitgenössische sprachliche Gestaltung sehe ja auch anderes aus als sie Schönberg vorlag.

    (ch weiß, die Frage ist so höchstens ein wenig angekratzt).

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
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  • Entdeckte deine Ratlosigkeit eben erst....

    Beim Hören dieses Werks empfinde ich Ratlosigkeit.

    Find ick dufte ! Mir gehts vermutlich nicht viel anders beim Überlebenden-Reinziehn......

    Der jüdische Gesang, mit dem der ‚Überlebende von Warschau‘ schließt, ist Musik als Einspruch gegen den Mythos.“

    Vielleicht wäre zunächste mal Teddieleins Mythos-Begriff im Schnelldurchlauf aufzudröseln:
    Er operiert damit gleichsam epochen-übergreifend (zuweilen droht er ins Unscharfe abzukacken) => Mythos nicht bloß auf Antike beschränkt, sondern gegenwärtige Verhältnisse sind auch im Mythos verstrickt.
    Teddieleins Mythos beschreibt streng reglementierte (aber keinesfalls dabei totalst !) Verhältnisse unter unerbittlich sich reproduzierender Herrschaft, Funktionszusammenhang.
    An der Tagesordnung ist ausgleichende strikt-blinde Gerechtigkeit. Die Rechnung eiskalt serviert ! Auf Übertretung folgt unerbittlich Rache. Pardon gibts nicht. Ausweg aus dem Kreislauf funzt keinesfalls; scheint völlig ausgeschlossen. Mythos fordert dienstbares, beflissenes Einpassen/Anerkennen herrschender Verhältnisse, als alternativlos ein.

    „So wahr hat nie Grauen in der Musik geklungen, und indem es laut wird, findet sie ihre lösende Kraft wieder vermöge der Negation.

    Schönbergs Mucke klingt m.E. Teddielein wahr, weil erstemal weil sie versucht Grauen darin nicht zu bemänteln.
    Ferner macht Schönbergs Überlebender sich andererseits damit nicht gemein, passt sich dem Grauen nicht schicksalsergeben ein. Denn Chor im Überlebenden kommt m.E. als weiterer Einspruch gegen Mythos ja schon deshalb rüber, weil er im Muckenstück eben - befehlswidrig - nicht länger mehr abzählt, sondern „Höre Israel " (sogar in Hebrew und nicht dt.) singt.
    Somit gerät Schönbergs Überlebender nicht schicksalshörig zum willfährig-ideologischen Komplizen von Nazi-Verhältnissen, sondern funzt als Negation.

    Wahrer Ausdruck des Grauens einerseits, Schamverletzung anderereits: Widerspricht sich Adorno hier?

    „Etwas Peinliches gesellt sich der Komposition Schönbergs, […]

    Mein Brägen neigt momentan dafür zu plädieren, dass Teddieleins Schreibe sich hier nicht widerspricht.
    Menno, es wundert doch nicht, dass unter und von den Verhältnissen auch der Einspruch gegen den Mythos was in die Fresse kriegt. Mit Beulen behaftet, demolierte Züge: „etwas Peinliches.. “ „etwas“ => gerät ja also nicht totalst peinlich...
    Versuch von Einspruch/Negation ist damit nicht hinfällig, sondern sollte m.E. versuchen dieses Problem in sich aufzunehmen…

    us diesen wird etwas bereitet, Kunstwerke, der Welt zum Fraß vorgeworfen, die sie umbrachte.“

    Günter Anders schrieb dazu nicht minder drastisch:
    "Söhne der Mörder beklatschen die Leichen der von ihren Eltern Ermordeten".

    Bragen könnte andererseits aber auch sich fragen, wie viel schrecklicher noch Realität gegenüber Schönbergs Überlebenden im ästhetischen Kokon ist.

    Später wies dann Teddielein darauf hin, dass Paul Celans fetzige Versequälerei ihre Kraft daraus gewinnt, indem sie kaum kompatibles „Entsetzen“ eben „durch Verschweigen“ bzw. durch „Diskretion“ zur Gestalt kommen lässt; ähnliche Chose auch in Becketts Endspiel, indem sein Stück nicht zum Euphemismus von Weltuntergangsszenario abkackt ..

    Meine Ratlosigkeit löst sich dadurch nicht...

    :jaja1: :jaja1:
    Meine Lauscherchen und Brägen haben gleichfalls damit noch lange nicht fertig…

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Grundsätzlich stimme ich

    zu; ich komme aber schwer von der Vorstellung weg, daß es sowas wie "primäre Affinitäten" gibt.

    z.B. eine farbpychologische Bestimmung würde wohl zur Farbe "Rot" "primäre" Assoziationen wie Wärme, Liebe, Leben feststellen, oder zur Farbe "Grün" Natur, Behagen, Wohltun.

    So etwas darf aber keinesfalls "festlegend" verstanden werden, selbstverständlich gibt es auch ein kaltes, hartes, fades Rot und ein giftiges, widriges, gruseliges Grün, womit keinerlei ästhetische Minderwertung verbunden ist.

    Die Analogie zu den Farben passt meines Erachtens nicht, weil deren Auswahl und Verwendung schon auf der gestalterischen Ebene liegt. Schönberg hat sich aber nicht speziell für das Sujet dieses Werks für die Dodekaphonie entschieden, sondern er hat - in dieser Phase - praktisch alles dodekaphon komponiert. Es war also keine gestalterische Entscheidung, um einen bestimmten Ausdruck zu erzielen, sondern eine grundsätzliche Systementscheidung.

  • OT, aber erhellend ist m.E. auch, sich mal ein Stück Hauers, der die Zwölftonmethode unabhängig von Schönberg "erfunden" hat, anzuhören. Was ich davon gehört habe (eine cpo-CD) ist weit "entspannter", "neutraler", kaum expressionistisch im Sinne Schönbergs. (Es gibt natürlich auch nach Schönberg Einsatz der Zwölftonmethode, die deutlich anders klingt als Schönberg (+Schule). Ebenso ist Schönberg ja auch in seinen vor-dodekaphonischen Stücken meistens sehr spannungsreich und expressionistisch.)

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • habe folgenden gründlichen Aufsatz überflogen:

    Christian Martin Schmidt: Schönbergs Kantate "Ein Überlebender aus Warschau" op. 46, in: Archiv für Musikwissenschaft, 33. Jahrg., H. 3. (1976), pp. 174-188 + H. 4. (1976), pp. 261-277.
    Stable URL: https://www.jstor.org/stable/930864 , https://www.jstor.org/stable/930474

    ich kann hier nur ganz grob einen Punkt referieren, der auch nicht die Fragestellung direkt betrifft, aber diese doch wohl berührt.

    Schmidt gliedert den Survivor in 2 Teile sehr unterschiedlicher Länge: (1) alles bis zum chorischen Gebet, (2) das Gebet selber.

    Teil I arbeitet mit zwei Motivgruppen (neben amotivischen Passagen), (1.) militärischen Motiven wie namentlich Fanfaren- und Trillerpfeifen-Motivik, (2.) Gefangenenmotive, die im Kern auf kleine Sekunden bzw. auf das traditionelle "Seufzermotiv" zrückgehen.

    Teil II besteht aus der (bis auf dreimalige "Vorerinnerungen" bzw."Vorauszitate") einzigen "Melodie" der gesamten Komposition, die aus der horizontalen Ausfaltung der dem Stück zugrundeliegenden Zwölftonreihe gebildet ist.

    Schmidt setzt diese beiden Teile in Parallele zu zwei Epochen des Schönbergschen Komponierens:

    Denn es stehen sich hier nicht Teile gegenüber, deren Ausprägungen auf einer Ebene des kompositorischen Stils, auf einer Stufe der Entwicklung des musikalischen Materials verglichen werden könnten. Vielmehr treffen in ihnen zwei Perioden des Schönbergschen Komponierens aufeinander: Der I. Teil greift in wesentlichen Momenten auf solche der freien Atonalität bzw. des Übergangs zu ihr zurück, der II. führt ohne Brechung gebundene Zwölftonkomposition aus. Ihr Verhältnis zueinander wird in den für Schönberg entscheidenden Aspekten (horizontale und vertikale Tonhöhenorganisation, Formbildung, expressive Bedeutsamkeit) paradigmatisch auskomponiert, d.h. es wird gleichsam eine geraffte vergleichende Interpretation beider Perioden gegeben.

    (Schmidt, Teil 1, S. 140)

    der Verweis von Teil I auf die Periode der "freien Atonalität" mag plausibler werden (der Survivor ist ja insgesamt ein in Zwölftontechnik komponiertes Werk), wenn man an das Streichtrio mit seinen "neuromantischen" Stellen (hier besprochen) denkt.

    In der Parallelsetzung sieht Schmidt eine Interpretation des Textes durch die Musik:

    Während aber die Erwartung in der hilflosen Vereinsamung verharrt: ,,Im Ausdruck der Angst, als Vorgefühle, bezeugt die Musik aus Schönbergs expressionistischer Phase die Ohmacht" [S. zitiert hier Adorno], wird jetzt ein Weg gewiesen aus der angstvollen Isolierung, von der op. 46 ebenso seinen Ausgang nimmt: die Solidarisierung als Kollektiv, die sich im Glauben verwirklicht sieht; wahrhaft kann man hier [mit einem anderen Autor] von politischer Eschatologie sprechen. Und dieser Ausweg wird identifiziert mit der Zwölftontechnik, die für Schönberg in ähnlicher Weise Ausweg aus den kompositorischen Schwierigkeiten der freien Atonalität gewesen sein mag wie aus den Konflikten persönlicher und gesellschaftlicher Art seine Rückkehr zum Judentum, in der politische und religiöse Momente untrennbar verschmolzen sind.

    (Schmidt, Teil 2, S. 277)

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Die Analogie zu den Farben passt meines Erachtens nicht, weil deren Auswahl und Verwendung schon auf der gestalterischen Ebene liegt. Schönberg hat sich aber nicht speziell für das Sujet dieses Werks für die Dodekaphonie entschieden, sondern er hat - in dieser Phase - praktisch alles dodekaphon komponiert. Es war also keine gestalterische Entscheidung, um einen bestimmten Ausdruck zu erzielen, sondern eine grundsätzliche Systementscheidung.

    Ja, und daher passt

    Ich könnte mir vorstellen, daß nicht die Tatsache, daß Schönberg im Survivor nach den Grundsätzen der Dodekaphonie komponiert, wohl aber die spezifische Art und Weise, wie er Dodekaphonie hier einsetzt, zum Ausdruck beiträgt oder diesen sogar trägt; das könnte eine Analyse der musikalischen Semantik erweisen. Die Strenge der Technik entspräche dann einer Strenge im Ausdruck. Ob man das wirklich so nachweisen kann, das weiß ich nicht.

    Schönberg hat ja die Dodekaphonie auch in Werken angewendet und damit eher heiter-verspielte Wirkungen erzielt, z. B. im Bläserquintett.

    Ich bin weltoffen, tolerant und schön.

  • Ich muss gestehen, dass ich dieses:

    Ich könnte mir vorstellen, daß nicht die Tatsache, daß Schönberg im Survivor nach den Grundsätzen der Dodekaphonie komponiert, wohl aber die spezifische Art und Weise, wie er Dodekaphonie hier einsetzt, zum Ausdruck beiträgt oder diesen sogar trägt; das könnte eine Analyse der musikalischen Semantik erweisen.

    nicht verstanden habe. Der Ausdruck eines Musikstücks hängt selbstverständlich von der "spezifischen Art und Weise" der Komposition ab, wovon auch sonst? Das ist natürlich in jedem System so, sei es Dur-Moll-Tonalität, Komponieren in Modi, Dodeaphonie oder was auch immer. Sollte sich die Aussage auf eine vermeintlich systemimmanente besondere "Strenge" der Dodekaphonie beziehen, dann wäre das zu belegen. Ich glaube, dass der Nachweis schwer wird, dass die Regeln der Dodekaphonie "strenger" sind als z.B. die des Kontrapunkts oder des vierstimmigen Satzes. Dazu kommt, dass es kaum ein Stück gibt, welches die Zwölfton-Regeln wörtlich anwendet, im Gegensatz zu vierstimmigen Sätzen usw.. Aber wie gesagt: Vielleicht habe ich die Aussage auch falsch verstanden, und da ich mir nichts "zusammenreimen" möchte, lasse ich das mal lieber so stehen :) .

  • Man könnte auch andersherum argumentieren:
    Wenn Dodekaphonie sich für Schönberg nicht als passendes Medium für sein Sujet präsentiert hätte, dann hätte er dieses Sujet nicht verkomponiert. Er hätte entweder einen anderen Stil für sein Sujet ausgesucht oder sogar entwickelt, oder er hätte sich gegen das Sujet entschieden.
    Ich sage nicht, dass es in diesem Fall so war, aber die Wahl des Sujets hat grosse Bedeutung in weiterem Sinne. Nur weil jemand zu einer Zeit in einem gewissem Stil komponierte, heisst das noch lange nicht, dass er sich nicht Gedanken gemacht hat, ob dieser Stil passend ist.
    Dies setzt natürlich voraus, dass überhaupt mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Man konnte von einem Beethoven selbstverständlich nicht erwarten, dass er auf einmal antonal komponiert, weil das Sujet im dies so erscheinen liess. Aber Schönberg hatte die Qual der Wahl, sozusagen.

  • Wenn Dodekaphonie sich für Schönberg nicht als passendes Medium für sein Sujet präsentiert hätte, dann hätte er dieses Sujet nicht verkomponiert. Er hätte entweder einen anderen Stil für sein Sujet ausgesucht oder sogar entwickelt, oder er hätte sich gegen das Sujet entschieden.

    Ich glaube nicht, dass die Wahl des "Sujets" von "A Survivor from Warsaw" stilistischen Überlegungen entsprang.

  • Nur noch eine schnelle Ergänzung:

    Nur weil jemand zu einer Zeit in einem gewissem Stil komponierte, heisst das noch lange nicht, dass er sich nicht Gedanken gemacht hat, ob dieser Stil passend ist.

    Dodekaphonie ist kein "Stil" sondern ein Kompostionssystem. Dass dieses System Musik verschiedenster Stile erlaubt, ist leicht nachweisbar.

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