freie informationssammlung zu gesang der jünglinge karlheinz stockhausen

  • freie informationssammlung zu gesang der jünglinge karlheinz stockhausen

    alles was in irgend einem subjektiven oder (möglichen) objektiven zusammenhang zum gesang der jünglinge steht darf hier (reich friedlich vernunftentwickelt (oder phantasielos)) ausgesprochen werden

  • gäbe es die möglichkeit gehirne miteinander zu vernetzen und das resultat dieser vernetzung in form von musik wiederzugeben, so könnte man in vier räumen, vier personen platzieren, deren gehirne miteinander vernetzt wurden, ihnen jeweils unterschiedliche musik vorspielen und das resultat in einem fünften raum vorspielen.
    würde man nun in raum 1 "varèse - amériques", in raum 2 "schönberg - moses und aron", in raum 3 "die tödliche doris - die unsichtbare (5. LP)" und in raum 4 "kraftwerk - ralf und florian" spielen, so würde man in raum 5 vielleicht den "gesang der jünglinge" hören (auch wenn zwei der vorgespielten werke erst nach 1955 entstanden sind).

  • Stockhausen, Karlheinz: Gesang der Jünglinge (1955/56)

    I. Anekdotisches

    Im Herbst 1954 wollte Stockhausen eine Messe für Stimmen und Elektronik komponieren. Durch seinen damaligen Mentor Herbert Eimert, Direktor des elektronischen Studios des WDR, ließ er beim Diözesanbüro des Erzbistums um Erlaubnis anfragen, das Werk im Kölner Dom aufzuführen. Die abschlägige Antwort, die damit begründet wurde, dass Lautsprecher nicht in eine Kirche gehören, enttäuschte Stockhausen schwer.

    Den Entschluss, ein geistliches Werk zu schreiben, behielt er bei, den zugrundeliegenden Text änderte er jedoch.

    II. Annäherung an die Textvorlage

    Der Text ist dem apokryphen Anhang des Buches Daniel aus dem Alten Testament entnommen, Apk Dan 3, 34-49. Dies ist der Mittelteil des „Gesanges der drei Männer im Feuerofen“, der insgesamt die Verse 28 bis 66 umfasst.

    Worum geht es? Dan 3, 1-23 (im nicht-apokryphen Teil des Buches Daniel) erzählt: Nebukadnezar („Nabucco“), König von Babel, „ließ ein goldenes Bild machen, sechzig Ellen hoch und sechs Ellen breit“. Dann ließ er die Mächtigen seines Landes zusammenrufen und sprach zu ihnen: „Wenn ihr hören werdet den Schall der Posaunen, Trompeten, Harfen, Zithern, Flöten, Lauten und aller anderen Instrumente, dann sollt ihr niederfallen und das goldene Bild anbeten, das der König Nebukadnezar hat aufrichten lassen. Wer aber dann nicht niederfällt und anbetet, der soll sofort in den glühenden Ofen geworfen werden.“

    Die Musik hub an, alles Volk fiel nieder und betete an, die Juden aber nicht („du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ bzw. 3. Mose 26,1). Einige wurde verpetzt, namentlich Schadrach, Meschach und Abed-Nego. Von Nebukadnezar zur Rede gestellt, sprachen sie: „Wenn unser Gott, den wir verehren, will, so kann er uns erretten; aus dem glühenden Ofen und aus deiner Hand, o König, kann er erretten.“

    Nebukadnezar „wurde voller Grimm“, und „er befahl, man solle den Ofen siebenmal heißer machen, als man sonst zu tun pflegte.“ Die drei Juden wurden gefesselt und in den Ofen geworfen. Der Ofen aber war so heiß, dass die Männer, die sie dorthin führten, von den Feuerflammen getötet wurden.

    Apk Dan 3, 22 sagt: „Aber der Engel des Herrn war zugleich mit Asarja [sic, der andere Name irritiert] und denen, die mit ihm waren, in den Ofen gestiegen, hatte die Feuerflamme aus dem Ofen herausgestoßen und ließ es mitten im Ofen so sein, als ob ein Wind wehte, der kühlen Tau bringt. So rührte das Feuer sie überhaupt nicht an und fügte ihnen weder Schmerz noch Schaden zu. Da fingen die drei wie mit einem Munde an zu singen, priesen und lobten Gott in dem Ofen und sprachen: ‚Gelobt seist du, du Gott unserer Väter, …‘“. Letzteres ist der Beginn des „Gesangs“, Apk Dan 3, 28ff.

    (Mag es sein, dass die Textwahl etwas mit der in der Anekdote berichteten Enttäuschung Stockhausens zu tun hat? Ein apokrypher Text anstelle des Messordinariums, Singen im Ofen statt im Dom, … Im Nachkriegsdeutschland eine historisch-politische Komponente des Sujets der singenden Juden im Feuerofen zu leugnen, wäre wohl ebenfalls abwegig.)

    Hier der komponierte Text Apk Dan 3, 34-49:

    Preiset (Jubelt) den(m) Herrn, ihr Werke alle des Herrn,
    lobt ihn und über alles erhebt ihn in Ewigkeit.

    Preiset den Herrn, ihr Engel des Herrn —
    preiset den Herrn, ihr Himmel droben.

    Preiset den Herrn, ihr Wasser alle, die über den Himmeln sind —
    preiset den Herrn, ihr Scharen alle des Herrn.

    Preiset den Herrn, Sonne und Mond —
    preiset den Herrn, des Himmels Sterne.

    Preiset den Herrn, aller Regen und Tau —
    preiset den Herrn, alle Winde.

    Preiset den Herrn, Feuer und Sommersglut —
    preiset den Herrn, Kälte und starrer Winter.

    Preiset den Herrn, Tau und des Regens Fall —
    preiset den Herrn, Eis und Frost.

    Preiset den Herrn, Reif und Schnee —
    preiset den Herrn, Nächte und Tage.

    Preiset den Herrn, Licht und Dunkel, —
    preiset den Herrn, Blitze und Wolken.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • III. Material und Verarbeitung

    Stockhausen verwendete drei Materialien:

    (1) eine Knabenstimme (gesungen vom damals zwölfjährigen Josef Protschka),
    (2) elektronisch generierte Sinustöne,
    (3) elektronisch generierte Pulse.

    Dieser Ansatz der Integration von Elektronik und menschlichen Gesang unterscheidet sich sowohl von der in Köln bis dato praktizierten „reinen“ elektronischen Musik als auch von der in Frankreich geschaffenen „musique concrète“.

    Alle drei Materialquellen wurden elektronisch nachbearbeitet, etwa mit Hall, und in komplexer Weise übereinander geschichtet.

    Letzteres geschah mit mehrspurigen Tonbändern. Stockhausen wünschte dazu ein Gerät mit fünf unabhängigen Tonspuren. Ein solches war zu dieser Zeit nicht verfügbar, state of the art waren Vierspurmaschinen. Die Idee, ein Vierspur-Tonbandgerät mit einem weiteren einspurigen zu synchronisieren und auf diesem Wege fünf separate Kanäle zu erhalten, ließ sich nicht verwirklichen. Stockhausen löste das Problem so, dass er die ursprünglichen Spuren vier und fünf miteinander vorab mischte und das Ergebnis als finale vierte Spur benutzte. Leider sind die originalen Bänder der Spur fünf nicht mehr vorhanden. Mit großem technischen Aufwand wurden sie jedoch rekonstruiert.

    Bei Aufführungen war eigentlich geplant, fünf Lautsprecher um das Publikum herum zu platzieren. Ob es aus Mangel eines Fünfspur-Tonbandes bei vier Lautsprechern geblieben ist, konnte ich leider nicht herausfinden. Für Rundfunksendungen und Schallplattenaufnahmen erstellte der Komponist Stereo- und Monofassungen des Werkes.

    IV. Kompositorische Parameter

    Außer bisher bekannten Parametern wie Tonhöhe/Frequenz, Klangfarbe, Lautstärke, Zeit/Tempo führte Stockhausen in dieser Komposition die Textverständlichkeit und den Raum als neue kompositorische Freiheitsgrade ein.

    Zunächst zur Textverständlichkeit. Stockhausen schrieb: „Die Vorarbeiten zur elektronischen Komposition Gesang der Jünglinge nahmen anderthalb Jahre in Anspruch. Sie gingen von der Vorstellung aus, gesungene Töne mit elektronisch erzeugten in Einklang zu bringen: sie sollten so schnell, so lang, so laut, so leise, so dicht und verwoben, in so kleinen und großen Tonhöhenintervallen und in so differenzierten Klangfarbenunterschieden hörbar sein, wie die Phantasie es wollte, befreit von den physischen Grenzen irgendeines Sängers. So brauchte ich auch sehr viel differenziertere elektronische Klänge als bisher, da gesungene Sprachlaute wohl das Komplexeste an Klangstruktur darstellen und also eine Verschmelzung aller verwendeten Klänge in einer Klangfamilie nur dann erlebbar wird, wenn gesungene Laute wie elektronische Klänge, wenn elektronische Klänge wie gesungene Laute erscheinen können. Die gesungenen Klänge sind an bestimmten Stellen der Komposition zum verständlichen Wort geworden, zu anderen Zeitpunkten bleiben sie reine Klangwerte, und zwischen diesen Extremen gibt es verschiedene Grade der Wortverständlichkeit. Silben und Worte sind dem Gesang der Jünglinge im Feuerofen (3. Buch Daniel) entnommen. Wo immer also aus den Klangzeichen der Musik für einen Augenblick Sprache wird, lobt sie Gott.
    (Karlheinz Stockhausen: Texte zu eigenen Werken und zur Kunst Anderer, Köln 1964, S. 49 f.)

    Man kann allerdings sagen, dass die Unverständlichkeit eher dort besonders hoch ist, wo der Text aus dem Kontext ergänzt werden kann. Stockhausen ging insbesondere davon aus, dass der Text grundsätzlich bekannt ist.

    Zum Raum: Sicher gab es lange vorher mehrchörig-dialogische Kompositionen, sicher gab es im „Dies irae“ des Verdi-Requiems bereits Trompeten aus den vier Ecken des Raumes u. v. a. m. Im Rahmen der elektronischen Musik war der mehrkanalige Ansatz mit mehreren Lautsprechern jedoch neu. Stockhausen: In dieser Komposition wird die Schallrichtung und die Bewegung der Klänge im Raum erstmalig vom Musiker gestaltet und als eine neue Dimension für das musikalische Erlebnis erschlossen. Der ‚Gesang der Jünglinge‘ ist nämlich für 5 Lautsprechergruppen komponiert, die rings um die Hörer im Raum verteilt sein sollen. Von welcher Seite, von wie vielen Lautsprechern zugleich, ob mit Links- oder Rechtsdrehung, teilweise starr und teilweise beweglich die Klänge in den Raum gestrahlt werden, das alles wird für dieses Werk maßgeblich.
    (Karlheinz Stockhausen: Texte zu eigenen Werken und zur Kunst Anderer, Köln 1964, S. 49 f.)

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • V. Annäherung an das erklingende Werk

    Man kann den Text ganz gut mitverfolgen.

    Kann man das Werk „im Großen“ ganz naiv-tonmalerisch verstehen? Was sollte man denn bitteschön hören, wenn drei Männer in einem mit höchster Kraft brennenden Ofen sängen, der wohl mit Holz oder Holzkohle geheizt wird? Ab und zu ein paar Wortfragmente, dazwischen alle möglichen Geräusche des Feuers, der knisternden Scheite, Zischen von sprühenden Funken, wo ein Rest Wasser im Holz eingeschlossen war usw. usw. Das passt sehr gut zu dem, was man bei Stockhausen hört. Oder?

    Auch für eine naive Tonmalerei „im Kleinen“ gibt es Anhaltspunkte. Man höre die statischen Klänge bei „Ewigkeit“, den Tanz der „Engel“, den Chor der „Scharen“, die räumliche Weite der Hintergrundklänge bei „Sonne und Mond“, das Gefunkel vor und bei „des Himmels Sternen“, die Geräusche vor und bei „aller Winde“, die gläsernen Klänge der „Sommersglut“, die Eisklänge vor der „Kälte“, die Fragmentierung des Textes beim „starren Winter“ usw. usw.

    Nochmal Stockhausen selbst über eine mögliche Hörhaltung: „Im Gesang der Jünglinge ist eine Einheit von elektronischen - also synthetischen Klängen und gesungenen - also ‚natürlichen' Tönen erreicht: Eine organische Einheit, die noch vor drei Jahren als ferne Utopie erschien. Sie bestärkt den festen Glauben an eine reine, lebendige Musik, die wieder unmittelbar den Weg zum Hörer finden wird. Und welcher Musiker wäre nicht glücklich bei dem Gedanken, dass er es vielleicht erlebt, wie die musikalische Sprache sich von allen Schlacken gereinigt hat und wie sie den, der zuhört, in eine neue musikalische Welt mitnimmt.“

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!