Gustav Mahler: Rückert-Lieder
Im Gegensatz zu vielen anderen Liedkomponisten hat sich Gustav Mahler für seine bedeutendsten Lieder auf eigene Texte („Lieder eines fahrenden Gesellen“), auf Texte aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ und auf Texte von Friedrich Rückert (1788-1866) beschränkt. Neben den „Kindertotenliedern“ (1901-1904) auf Rückert Texte gibt es fünf weitere Rückert-Vertonungen Mahlers, die 1901 (nur „Liebst du um Schönheit“ 1902) entstanden und sowohl in Fassungen für Singstimme und Klavier als auch für Singstimme und Orchester vorliegen.
Erstmals als Notenausgabe veröffentlicht wurden sie zusammen mit den „Wunderhorn“ Liedern „Revelge“ und „Der Tambursg´sell“ 1905 unter dem Titel „Sieben Lieder aus letzter Zeit“.
Die Liedtitel:
Blicke mir nicht in die Lieder
Ich atmet´ einen linden Duft
Ich bin der Welt abhanden gekommen
Um Mitternacht
Liebst du um Schönheit
Hier finden sich die Liedertexte:
"http://www.recmusic.org/lieder/assembl…?SongCycleId=24"
Heute werden die Rückert-Lieder oft für sich stehend in der Orchesterversion aufgeführt. Die Reihenfolge wird meist so festgelegt, dass die drei unter drei Minuten kurzen Lieder an den Anfang gestellt werden und die über sechs Minuten langen „Um Mitternacht“ und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ den Abschluss bilden.
Mahlers vielfach durchsichtige Instrumentierung bei den Orchesterfassungen verstärkt den Ausdrucksgehalt der Lieder auf ganz eigene Art. „Blicke mir nicht in die Lieder“ ist gewissermaßen ein Künstlerbekenntnis, mit markanten Wellenbewegungen in der Begleitung, Mahler hielt dieses Lied für weniger bedeutend, aber für vielversprechend was seine Durchsetzung beim Publikum betrifft, „Ich atmet´ einen linden Duft“ kommt hell und licht als Vergegenwärtigung eines Augenblicks tief empfundener Liebe, „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ hält ein paar Minuten mit Englischhorn und (wer es so hören will) Vorausschau auf das Adagietto aus Mahlers Fünfter Symphonie die Welt an, „Um Mitternacht“ spart die Streicher aus und bringt einen fassungslosen Menschen dann doch dazu, sich durchaus erhaben bis pathetisch in Gottes Hand zu begeben, und „Liebst du um Schönheit“ ist eine sanfte Liebeserklärung Gustavs an Alma. Hier stammt die Instrumentierung nicht von Mahler selbst, sondern von Max Puttmann.
Die Lieder (außer „Liebst du um Schönheit“) wurden in der Orchesterfassung am 29.1.1905 unter Mahlers Leitung in Wien uraufgeführt.
Kennengelernt habe ich die Rückert-Lieder, als Claudio Abbado im November 1988 in Wien ein Konzert des Chamber Orchestra of Europe dirigierte. Solistin war Marjana Lipovsek. Danach kamen Aufnahmen und Konzerte mit Leonard Bernstein, der sowohl als Pianist wie auch als Dirigent bei diesen Liedern am CD Markt vertreten ist. Hier persönliche, subjektive Eindrücke:
Dietrich Fischer-Dieskau und Leonard Bernstein (Klavier) nahmen vier dieser Lieder am 6.11.1968 im Columbia 30th Street Studio in New York City auf, nur „Liebst du um Schönheit“ berücksichtigten sie nicht. Hier beherrscht die Innenspannung zwischen Sänger und Pianist das Geschehen total. Leonard Bernstein entwirft am Klavier einen eigenen Kosmos, und in diesem Kosmos muss Fischer-Dieskau verweilen, immer länger ziehen sich seine auszuhaltenden Gesangsbögen. Um die gewünschte Intensität aufrecht zu erhalten, ist allerhöchste Konzentration und profundeste Atemtechnik vonnöten. Das ist ein Zelebrieren dieser und ein ganz tiefes Eintauchen in diese Lieder. „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ führt quasi ins Zentrum der Welt, 8:03 Minuten Ewigkeit, eine Grenzerfahrung. Ich finde diese Aufnahme faszinierend. Dem Aufschrei der Seele folgt das feierliche Bekenntnis zum Gottvertrauen in „Um Mitternacht“, Fischer-Dieskau und Bernstein scheuen sich hier nicht vor dem etwas plakativen Pathos, sie kosten es vielmehr total aus.
Die aus Weißrussland stammende US-amerikanische Mezzosopranistin Jennie Tourel (1900-1973) hatte unter anderem Bernsteins Liederzyklus „I Hate Music!“ 1943 uraufgeführt, am 8.2.1960 nahm sie im St. George Hotel (Brooklyn, New York) drei der fünf Lieder auf, „Ich atmet´ einen linden Duft“, „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ und „Um Mitternacht“, dazu auch das „Wunderhorn“ Lied „Das irdische Leben“ (gehört von CD Box Sony SX12K 89499). (Acht Tage später folgte die Aufnahme der „Kindertotenlieder“.) Leonard Bernstein und das New York Philharmonic Orchestra blättern die Musik ungemein feinfühlig auf, und die Solistin singt für mein Empfinden wirklich innig. „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ ist mit 6:36 Minuten eineinhalb Minuten schneller als in Bernsteins Klavierkosmosaufnahme mit Fischer-Dieskau und wirkt dadurch gegenüber dem „absoluten Weltstillstand“ auch lebendiger, nicht nur des Orchesters wegen.
Ich hatte das Glück, 1990 die letzten Konzerte Leonard Bernsteins in Wien im Musikverein mitzuerleben. Im Februar 1990 sang Thomas Hampson Mahlers Rückert-Lieder im Großen Wiener Musikvereinssaal in der Reihenfolge „Liebst du um Schönheit“, „Blicke mir nicht in die Lieder“, „Ich atmet´ einen linden Duft“, „Um Mitternacht“ und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Mitgeschnitten wurden die Konzerte für CD und fürs Fernsehen. Hier konnte Hampson ein Vollbad sondergleichen im Wiener Klangluxus nehmen (gehört von Box DGG 459 0802). Wahrscheinlich ist diese Interpretation vielen zu manieriert. Der ganz große gemeinsame Atem zwischen Sänger und Orchester steht im klangschwelgerischen Vordergrund. Die Lieder wirken hier verklärt, überhöht, aber warum auch nicht, man ist eben „der Welt abhanden gekommen“.
Entschlackter als der inbrünstige Bernstein führt John Eliot Gardiner in der Liveaufnahme vom Jänner 1993 aus der Musikhalle Hamburg (CD DGG 439 928-2) das NDR-Sinfonieorchester durch die Partituren, die musikalischen Bögen gleichwohl auch sehr schön spannend, für jemand der das Werk nicht kennt möglicherweise eine einfacher zugängliche Aufnahme als Hampson/Bernstein. Anne Sofie von Otter achtet sehr auf die Textintensität. Während Jennie Tourel fast engelhaft große Linien zeichnet, kommt bei Anne Sofie von Otter der deklamatorische Ausdrucksgehalt der Lieder deutlicher zum Tragen.
Die DVD Aufnahme des Hampson/Bernstein Konzertmitschnitts (DVD DGG00440 073 4167) führt in den wie immer bei Bernsteins Konzerten zum Blattgold extra rot verkleideten Musikverein. Die Kameraführung ist streng konservativ – Standbild auf den Sänger wenn er singt, in den kurzen Gesangspausen Blick auf die jeweils spielenden Orchesterinstrumente, bei „interessanteren“ Passagen Blick von der Seite auf Sänger und Dirigent. Damit unterstützt die Kameraführung die überhöhte Ruhe der Interpretation, die schon eine enorme Innenspannung hat und deren Intensität ich mich nicht zu entziehen vermag.
Ein unmittelbarer Radiohinweis dazu: Am 6.7.2012 (also heute) sendet SWR 2 Radio ab 20:03 Uhr eine Konzertaufzeichnung vom 24.5.2012 aus dem Konzerthaus Freiburg. Michael Gielen dirigierte an diesem Tag das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg. Nach Arnold Schönbergs Thema und Variationen op. 43 b und vor Johannes Brahms´ Sinfonie Nr. 3 F-Dur op.90 sang die österreichische Mezzosopranistin Elisabeth Kulman die fünf Rückert-Lieder. Zum Zeitpunkt dieser Threaderöffnung demnächst im Radio...
Weitere Anmerkungen zu den Liedern, andere Aufnahmen, wer kommt noch der Welt abhanden, wahrscheinlich um Mitternacht...