Schönberg: "VERKLÄRTE NACHT", Sextett für 2 Violinen, 2 Violen und 2 Violoncelli op. 4

  • Hast ja schon recht, lieber Kater! Vielleicht hat sich Richard da einiges zurechtgebogen - wenn das Gedicht überhaupt auf Idas Kind aus erster Ehe anspielen sollte. Ich bin ja selbst skeptisch gegenüber Interpretationen, die den biographischen Kontext zu sehr bemühen, um Kunstwerke verstehen zu wollen.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ja, aber ist doch ein ziemlicher Unterschied, ob man einen legitimen Sohn aus erster Ehe hat und zu einem neuen Mann wechselt oder ob man, wie im Gedicht nahegelegt, den gegenwärtigen Verlobten/Mann (mit dem der Spaziergang stattfindet) betrogen hat. Im ersten Falle hat der neue Mann nichts zu verzeihen, sondern höchsten der Exmann, und es ist auch kein besonderes Entgegenkommen, das Kind aus der ersten Ehe zu akzeptieren. Im zweiten Falle wie im Gedicht ist es dagegen eine großzügige Geste des betrogenen Mannes, das "Kind der Untreue" zu akzeptieren.

    ich denke schon, daß man die Parallelsetzung verstehen kann.

    Die Frau hat insofern "Verrat" begangen, sls sie einen ungeliebten Mann geheiratet hat, das kann man als "Verrat an der Liebe" ansehen, bzw., wie es die Frau auch ausspricht, als "Verrat an ihr selbst". Nun ist die wahre Liebe in ihr Leben eingetreten, und damit der Verrat offenbar geworden. Das betrifft dann auch den wahrhaft geliebten Mann. Zu "verzeihen" hat dieser allerdings nichts, davon ist im Gedicht auch nicht die Rede, sondern er spricht ihr eine Art "Absolution" zu (oder besser, zeigt ihr die sich in der wahren Liebe von selbst vollziehende Absolution), die der Frau es möglicht macht, sich selbst zu verzeihen.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Die Frau im Gedicht hat doch niemanden „betrogen“; sie ist vom Ex schwanger, den sie (angeblich) nicht geliebt hat, hat jetzt ein neues Glück gefunden und Angst, dass das Kind ihr neues Glück zunichte macht; der Mann liebt sie und ist bereit, das Kind anzunehmen (was damals keine Selbstverständlichkeit war, siehe Jenufa). Oder lese ich da was falsch?

    Nach heutigem Verständnis eigentlich kein Ding, aber um 1900 in manchen gesellschaftlichen Kreisen wohl noch ein Liebesbeweis.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Die Frau im Gedicht hat doch niemanden „betrogen“;

    sie hat sich selbst (bzw. "die wahre Liebe" würde ich interpretieren) verraten, das sagt sie ganz deutlich:

    Ich hab mich schwer an mir vergangen;
    ich glaubte nicht mehr an ein Glück

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • "Ich trag ein Kind, und nit von dir,
    ich geh in Sünde neben dir.
    Ich hab mich schwer an mir vergangen;
    ich glaubte nicht mehr an ein Glück
    und hatte doch ein schwer Verlangen
    nach Lebensfrucht, nach Mutterglück
    und Pflicht - da hab ich mich erfrecht,
    da ließ ich schaudernd mein Geschlecht
    von einem fremden Mann umfangen
    und hab mich noch dafür gesegnet.
    Nun hat das Leben sich gerächt,
    nun bin ich dir, o dir begegnet."

    Naiv gelesen klang das für mich nach einem Seitensprung ("erfrecht" "fremder Mann"), evtl. nach einer Beziehungskrise. Zumal ich mir ziemlich sicher bin, genau die Ehebruch-Verzeihungs-Deutung schon gelesen zu haben, bevor ich überhaupt zum ersten Mal das Gedicht komplett gelesen habe. Aber die Deutung zabkis ist mit einer voreilig eingegangenen vorherigen Beziehung/Ehe tatsächlich plausibler. Ändert aber nichts daran, dass es zumindest damals in jedem Falle eine leicht skandalösen Einschlag hatte., zumal es im Gedicht eben nicht nach einer vorherigen legitimen Ehe, sondern nach einer flüchtigen, nichtehelichen Affäre klingt. Was nun biographisch nicht stimmt, aber das kann man anhand des Gedichts ja nicht wissen.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • voreilig eingegangenen vorherigen Beziehung/Ehe


    es steht ja eigentlich genau da:

    Nun hat das Leben sich gerächt,
    nun bin ich dir, o dir begegnet.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

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