• Alfred Brendel

    Es gibt Pianisten, die schneller oder langsamer, leiser oder lauter spielen als Alfred Brendel. Viele haben ein größeres Repertoire, einige ein kleineres. Manche spielen "historisch informierter", andere beleuchten Klassik und Romantik stärker aus der Sicht der Moderne. Die einen spielen "texttreuer", die anderen nehmen sich radikalere Freiheiten heraus.

    Manch einer findet Alfred Brendels Klavierspiel deshalb langweilig. Hören wir mal in einige Statements unseres Forums hinein:

    Die beste Voraussetzung dafür, eine Musik nicht zu mögen, scheint mir jedenfalls zu sein, sie sich von Brendel vorspielen zu lassen.

    Mir ist völlig schleierhaft, was man mit dieser Absolutheit gegen Brendel haben kann. Das ist für mich ein Satz, der mich darin bestätigt, in vielen dieser Interpreten-Namedroppings nur wenig gehaltvolle Geschmäcklerei zu sehen (Daumen hoch / runter).


    Überschätzt: [...]
    Brendel; nicht weil er irgendwie schlecht wäre, aber der Mozart/Beethoven/Schubert-Papst-hype ist völlig übertrieben und höchstens bei Mozart ein wenig gerechtfertigt

    ich finde die Aufnahmen [gemeint sind die Schubert-Interpretationen von Christian Zacharias] interessanter als Brendel und ich finde Brendel bei Schubert lange nicht so furchtbar wie bei Beethoven.


    In jungen Jahren hat er tolle Sachen gemacht.

    Es gibt schon auch später Vieles, was ich sehr toll finde. Seine Anschlagsnuancierung und feine Farbigkeit in den Beethoven-Sonaten wird immer raffinierter, wenn auch manchmal gegenüber den früheren Einspielungen auf Kosten der Dynamik, aber besonders die späteren Schubert-Einspielungen möchte ich nicht missen, besonders mit m.E. seinem absoluten Gipfel, den späten Live-Aufnahmen der späten Schubert-Sonaten. :juhu: :juhu: :juhu:


    Das sollte fürs erste reichen. Vielleicht mag der eine oder die andere seine Einschätzung Brendels erläutern, Beispiele nennen usw. Ich werde auf ein paar Aspekte näher eingehen, die ich besonders interessant finde. Klar können auch Aufnahmen empfohlen oder verrissen werden.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Brendel zeichnet sich auf jeden Fall dadurch aus, dass er wie wenige Musiker über Musik schreiben kann und sein Agieren als Pianist immer wieder schriftlich reflektiert hat.

    Seltsam, dass ich Brendels gesammelte Texte zur Musik erst jetzt in Gänze zur Kenntnis genommen habe. Erstens mag ich Brendel als Pianisten sehr. Zweitens lese ich gerne über Musik. Und drittens kenne ich drei der Texte - zu Schuberts Klaviersonaten 1822-1828, zu Liszts Spätwerk und zu dessen h-moll-Sonate - schon seit fast drei Jahrzehnten und fand sie überaus anregend (vgl. z.B. diesen Beitrag).

    Der früheste Beitrag ist von 1954 (zum 30. Todestag von Busoni, dem drei weitere Texte gewidmet sind), der späteste von 2004 (zu Brendels Lehrer Edwin Fischer). Die gewichtigsten Aufsätze sind nicht einfach Essays, "Gedanken eines Pianisten" o.ä., sondern systematische Texte auf der Höhe des Forschungsstands, die trotzdem jederzeit lesbar bleiben: so Form und Psychologie in Beethovens Klaviersonaten, die beiden grundlegenden Texte zur "lustigen Musik" (an den Beispielen Haydn und Beethoven), Analysen zu Schumanns Kinderszenen, Schönbergs Klavierkonzert und - besonders ehrgeizig - zum zyklischen Zusammenhang von Schuberts letzten drei Klaviersonaten (mit ziemlich klug gestalteten Thementafeln und Exkursen zu Mozarts Sinfonien 39-41 und Beethovens Sonaten op. 109-111). Erwartungsgemäß stehen Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Liszt (sowie Busoni) im Mittelpunkt. Über grundsätzliche Fragen der Interpretation wird in einem Aufsatz zur "Werktreue" und in einem hochinteressanten (Streit-)Gespräch mit dem Schnabel-Schüler Konrad Wolff über Artur Schnabels Interpretationslehre reflektiert. Auch praktische Probleme wie Vom Umgang mit Flügeln, Studio oder Live? und Über Soloabende und Programme werden erörtert. Hinzu kommen kleinere Texte aller Art bis hin zu Danksagungen.

    Besonders wichtig: Brendel kann schreiben. Zum Einstieg in das Buch empfehle ich die ursprünglich 1981 in der Sunday Times erschienene Rezension des "New Grove Dictionary of Music and Musicians". Brendel klärt die Voraussetzungen: Wer meint, ich sollte lieber Klavier spielen, sei beruhigt: Zur Lektüre von 18000 Seiten fehlt mir inzwischen der Schwung. Was ihn aber nicht daran hindert, ziemlich scharfsinnige Beobachtungen zu ausgewählten Artikeln mit autobiographischen lexikalischen Erfahrungen und skurrilen Zitaten aus einem Musiklexikon des 19. Jahrhunderts zu einem Text zusammenzubauen, der witziger ist als das meiste, was in unserem Forum unter "Eben gelacht" gepostet wird.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Brendel zeichnet sich auf jeden Fall dadurch aus, dass er wie wenige Musiker über Musik schreiben kann und sein Agieren als Pianist immer wieder schriftlich reflektiert hat


    Das mag stimmen. Dazu fällt mir ein:

    Andere Pianisten kommen eventuell zu der Auffassung, dass sie besser spielen als schreiben können und beschränken sich deswegen aufs Spielen. Was nicht heißt, dass sie nicht auch interessant schreiben könnten, wenn sie wollten.

    Zum anderen: Einen Arzt würde ich nur danach beurteilen, ob er mich gesund macht, und nicht danach, ob er darüber schreibt.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Au ja, bei Brendel würde ich mich auch über Rezeptionshilfe freuen!

    Ich habe mir während meines Zivis, um den bis dato unbekannten Geldsegen irgendwie loszuwerden, eine Runde zu den "Großen" der Klavierzunft gegönnt. Bei Argerich erinnere ich mich an das durchdringendste Piano, das ich je hören durfte (2. Satz, Beethoven 1. KK), bei Barenboim an den falschesten Anfang von Brahms 2. KK, gekoppelt mit einer abartigen musikalischen "Macht" und bei Brendel - bin ich eingepennt.

    Das mag sicher mit seinem eher weichen Anschlag (den ich aber im Vergleich zu Gilels keinen "Wert an sich" finde) und einem auch eher lyrischen Repertoire zusammenhängen (auch bei Perahia döse ich öfter weg), aber bei in dieser Hinsicht ähnlich gelagerten Pianisten wie Uchida oder Lipati passiert mir das nicht...
    Wer weiß, woran's liegt und was da hilft? :S

    PS: Was Brendel und auch Perahia über Musik schreiben, finde ich oft sehr spannend. Aber das:

    Einen Arzt würde ich nur danach beurteilen, ob er mich gesund macht, und nicht danach, ob er darüber schreibt.

    ...trifft in der Musik wohl noch eher als auf anderen Gebieten zu.

  • Andere Pianisten kommen eventuell zu der Auffassung, dass sie besser spielen als schreiben können und beschränken sich deswegen aufs Spielen. Was nicht heißt, dass sie nicht auch interessant schreiben könnten, wenn sie wollten.

    Zum anderen: Einen Arzt würde ich nur danach beurteilen, ob er mich gesund macht, und nicht danach, ob er darüber schreibt.

    Ich übersetze mal in Klartext: Es besagt nichts über Brendels Qualität als Pianist, dass er klug über Musik schreibt.

    Das ist sicher richtig. Trotzdem scheint es mir sinnvoll, dass sich Interpreten Gedanken über die Musik machen, die sie interpretieren (egal ob im stillen Kämmerlein oder coram publico). Brendel bezeichnet sein Schreiben u.a. als "Ratschläge und Informationen, die an mich selbst gerichtet sind". Brendels Reflexionen haben unmittelbare Auswirkungen auf die musikalische Interpretation, so etwa - um nur ein Beispiel zu nennen - wenn er sich über die Notation des Hauptthemas des Kopfsatzes von Beethovens op. 2 Nr. 1 Gedanken macht und daraus Konsequenzen für das zu spielende Tempo zieht. Demjenigen, der Brendel sowohl hört als auch liest, können seine Ausführungen dabei helfen zu verstehen, warum er bestimmte interpretatorische Entscheidungen trifft.

    Die zusätzlich durchschimmernde Insinuation "Brendel schreibt besser über Musik als er sie spielt" wäre leichter nachzuvollziehen, wenn sie denn konkret begründet würde. Ich kann ihr jedenfalls nicht folgen.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Das mag sicher mit seinem eher weichen Anschlag (den ich aber im Vergleich zu Gilels keinen "Wert an sich" finde) und einem auch eher lyrischen Repertoire zusammenhängen (auch bei Perahia döse ich öfter weg), aber bei in dieser Hinsicht ähnlich gelagerten Pianisten wie Uchida oder Lipati passiert mir das nicht...

    Brendel ist kein Pianist der Superlative, das hatte ich schon im Eröffnungsbeitrag angedeutet. Wer also auf der Suche ist nach dem dröhnendsten Anfang von Beethovens op. 111 (allerdings ist nur Forte notiert), nach dem langsamsten Kopfsatz von Schuberts D.960, der schnellsten h-moll-Sonate oder eben auch nach dem "durchdringendsten Piano, das ich je gehört habe" wird bei Brendel nicht fündig werden. Wer auf der Suche nach Nuancen ist, schon eher: die zarte Coda des Kopfsatzes von Schuberts D.959 (Liveaufnahme von 2000), die widerspenstige Pointierung in den ersten beiden Sätzen von Beethovens op. 31 Nr. 1, die differenziert akzentuierten Trillerketten in der Arietta von op. 111 (Gesamtaufnahme aus den 90ern)...

    Ich weiß nicht, ob Brendels Repertoire "eher lyrisch" war: einen größeren Teil der Beethoven'schen Werke würde ich nicht so charakterisieren. Und Liszts Klavierwerke schon gar nicht. Und auch nicht die Klavierkonzerte von Brahms oder Schönberg.

    Ich kann verstehen, dass man Brendel mit einem "eher weichen Anschlag" in Verbindung bringt. Generell lässt sich - soweit ich das überblicke - schon sagen, dass Brendels Anschlag im Laufe seiner Karriere immer differenzierter und nuancierter geworden ist und dass er den harten Zugriff, das "Donnern" zunehmend meidet. Das lässt sich aber nicht pauschal sagen, sondern es kommt - typisch für Brendel - auf das jeweilige Werk an.


    Um das Klischee vom langweiligen Brendel zu widerlegen, eignet sich besonders gut der Live-Mitschnitt der Diabelli-Variationen von 1976 (die erste publizierte Live-Aufnahme Brendels überhaupt). Wohl nur noch in dieser Form erhältlich:

    (Die Amazon-Hörschnipsel klingen schrecklich, vermitteln aber eine Ahnung von der Interpretation.)

    Da schreibe ich demnächst mal was im entsprechenden Thread. Ich kenne einige Aufnahmen von Beethovens op. 120, aber keine, die so vielfältig, oft bissig charakterisiert und die Steigerung vor dem Komplex der langsamen Variationen am Ende so mitreißend gestaltet (es gibt noch - mindestens - drei weitere Aufnahmen des Werks durch Brendel).


    Was den "weichen Anschlag" betrifft:

    Ein Leib- und Magenstück Brendels war von Beginn seiner Karriere an Schuberts Wandererfantasie. Die kommt in den Ecksätzen mit enormem virtuosen Aplomb und atembereaubenden dynamischen Steigerungen daher, wirkt sehr konzentriert. Ich kenne nur die analoge Aufnahme von 1972, die digitale aus den 80ern soll aber ganz ähnlich gestaltet sein:

     


    Brendel hat auch eine sehr stürmisch-dramatische Version des Klavierparts des d-moll-Konzerts von Brahms geboten, in seiner ersten (?) Einspielung des Werks von 1973 mit dem Concertgebouw-Orchester unter Hans Schmidt-Isserstedt (die letzte Aufnahme dieses Dirigenten). Insgesamt sehr empfehlenswert. Kann man sich hier anhören:

    "

    Externer Inhalt www.youtube.com
    Inhalte von externen Seiten werden ohne deine Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklärst du dich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.
    " (und Folgelinks)

    Auf CD wohl nur so erhältlich:

    Später - mit Abbado - hat sich Brendels Interpretationskonzept des Brahms-Konzertes doch erheblich gewandelt.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • "Langweilig" finde ich Pianisten, die sich nicht entscheiden mögen oder können, die sich auf vorhersehbaren Gleisen bewegen, deren Klang- und Ausdrucksspektrum zu eng ist. Nichts von alledem trifft auch nur ansatzweise auf Brendel zu: Er vertritt seine künstlerischen Entscheidungen mit aller Entschiedenheit, überrascht dabei immer wieder mit unkonventionellen Überlegungen, Einsichten und Entscheidungen, und er ist am Instrument ein Meister der Differenzierung. Am meisten beeindruckt bin ich von seinem Mozart-Spiel. Es ist voller Farbe und Ausdruckskraft, verbindet Kantabilität mit artikulierter Klarheit, vermeidet jede Einseitigkeit, ohne sich deshalb nur in der sicheren Mitte zu bewegen. Mit Brendels eigenen Worten (aus "Ermahnungen eines Mozart-Spielers an sich selbst"): "Zwischen Frische und Verfeinerung (...), Kraft und Durchsichtigkeit, Natürlichkeit und Ironie, Distanz und Innigkeit, zwischen Freiheit und Facon, Selbstvergessenheit und Stil, Leidenschaft und Grazie eine Balance zu finden, gehört zu den Mühen des Mozartspielers, die nur der Glücksfall belohnt." Dieser Glücksfall ist ihm immer wieder gelungen. Ähnlich gut finde ich seine Liszt-Aufnahmen, bei denen er eindrucksvoll zeigt, wie groß diese Musik ist, wenn man sie ernst nimmt. Gelegentlich, z.B. bei Schubert, finde ich sein Spiel etwas "eigenbrötlerisch", manchmal hat man auch den Eindruck, dass er quasi gegen andere Ansichten anspielt, worunter dann die Natürlichkeit seines Spiels leiden kann. Aber auch wenn ich ihm da nicht immer folgen kann: Langweilig ist das nie.

    Christian

  • Nur ein kurzer Einwurf:

    Von Beethoven's Klavierkonzerten habe ich folgende Boxen:

    Ich stelle fest, daß ich immer lieber Gould als Brendel höre...

    Evtl. als Startpunkt einer weiteren DIskussion brauchbar? Genauer kann ich es im Momemnt leider nicht ausführen...

    Matthias

    "Bei Bachs Musik ist uns zumute, als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf." (Friedrich Nietzsche)
    "Heutzutage gilt es schon als Musik, wenn jemand über einem Rhythmus hustet." (Wynton Marsalis)
    "Kennen Sie lustige Musik? Ich nicht." (Franz Schubert)
    "Eine Theateraufführung sollte so intensiv und aufregend sein wie ein Stierkampf." (Calixto Bieito)

  • Zitat von Zwielicht

    die differenziert akzentuierten Trillerketten in der Arietta von op. 111 (Gesamtaufnahme aus den 90ern)...

    Die haben mich auch beeindruckt (und seine Wandererphantasie mag ich auch sehr... allerdings kenne ich da nur die Aufnahme aus den 80ern).

    Schuberts Sonate in B-Dur D.960 höre ich lieber mit Wiederholung der Exposition, aber das ist beim besten Willen kein Argument gegen den Pianisten Brendel.

    Weicher Anschlag? Ich sage dazu Leichtigkeit: etwas, was ich bei Brendel ausgesprochen bewundere.

    Und Glenn Gould? Der ist auch toll... es gibt ja glücklicherweise mehrere großartige Pianisten - und die spielen auch noch ganz unterschiedlich.

    Super, oder?

    Tharon.

  • Weicher Anschlag? Ich sage dazu Leichtigkeit: etwas, was ich bei Brendel ausgesprochen bewundere.

    Ich sage dazu "Klangqualität" ;+) . Und natürlich hat Brendel in seiner Palette nicht nur weiche Klangfarben zur Verfügung...

    Und Glenn Gould? Der ist auch toll... es gibt ja glücklicherweise mehrere großartige Pianisten - und die spielen auch noch ganz unterschiedlich.

    Aber einer muss doch einfach der beste sein! Dass Du es aber auch immer so kompliziert brauchst!

    Christian

  • Dunnerlütchen, 2014 melde ich mich in diesem Thread zurück, wenn ich unter Berücksichtigung der Charakterisierungen alle empfohlenen Aufnahmen durch hab. So in etwa hatte ich mir das gedacht, mit der "Zugangshilfe"... :klatsch:

  • Mozart: Klavierkonzerte

    Am meisten beeindruckt bin ich von seinem Mozart-Spiel. Es ist voller Farbe und Ausdruckskraft, verbindet Kantabilität mit artikulierter Klarheit, vermeidet jede Einseitigkeit, ohne sich deshalb nur in der sicheren Mitte zu bewegen.

    Dieser Meinung schließe ich mich in aller Bescheidenheit an, möchte aber noch zusätzlich auf die fast immer sehr gelungenen eigenen Eingänge und (wo notwendig) Kadenzen Brendels in den Klavierkonzerten hinweisen. Außerdem auf die von ihm nicht übermäßig häufig, aber doch regelmäßig und sehr stilsicher geübte Praxis, Verzierungen anzubringen - ich verweise hier mal auf diesen Beitrag zum Mittelsatz von KV 488.


    Bereits in den 60ern (auch schon in den 50ern?) hat Brendel acht Mozart-Konzerte und KV 365 mit Walter Klien für Vox aufgenommen, mit verschiedenen Orchestern und Dirigenten (Orchester der Wiener Volksoper, I Solisti di Zagreb). Die kenne ich nicht. In dieser Box zu finden, die auf 35 CDs alle Aufnahmen aus Brendels Wiener Zeit enthält:


    Es folgen in den 70er Jahren, mit Ausläufern bis Mitte der 80er, sämtliche Mozart-Konzerte ab KV 175 mit der Academy of St Martin in the Fields unter Neville Marriner. Die bekommt man preiswert, eine besonders lohnende Anschaffung:


    Schließlich von 1999 bis 2005 noch einmal acht Konzerte, diesmal mit dem Scottish Chamber Orchestra unter Charles Mackerras:

     
     

    Außer der Scheibe mit KV 482 und KV 595 kenne ich diese Aufnahmen und zähle sie zu den schönsten mir bekannten Mozart-KK-Interpretationen. Das liegt auch an Mackerras und seinen Schotten, die einen plausiblen Mittelweg zwischen HIP und Kammerorchester-Stil fahren und der (beileibe nicht schlechten) Academy Marriners damit überlegen sind.

    Explizite Vergleiche zwischen den Brendel-Aufnahmen mit Marriner und Mackerras habe ich hier für KV 453 und hier für KV 466 versucht.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Ich möchte dann doch noch eine kleine Lanze für Brendels Schubert-Spiel brechen. M. E. kommen ihm hier zwei Attribute sehr zugute, nämlich sein ausgeprägt kultivierter Anschlag und der Umstand, daß er eben halt gerade kein Pianist der Extreme ist. Vielmehr besitzt Brendel eine gewisse Gabe, Schuberts Klaviermusik einfach laufen zu lassen und auf ihre Ausdruckskraft zu vertrauen, ohne diese mit überflüssigen Garnituren besonders herausarbeiten zu müssen. Leider hat er sich bei der Sonate D. 960 in die Idee von der wegzulassenden Wiederholung der Exposition im 1. Satz verrannt (und begründet dies auch ausführlich in einem seiner Aufsätze), aber ich glaube daß es Christian Köhn war, der an entsprechender Stelle bereits darauf hingewiesen hat, daß man sich doch bitte nicht zu sehr an dieser Wiederholungs-Frage festbeißen möge. Dem möchte ich ausdrücklich zustimmen, denn wenn man diesen Punkt außer acht läßt, bekommt man von Brendel eine sehr schöne Interpretation von D. 960 mit einem geradezu natürlich anmutenden Fluß geboten.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Vielmehr besitzt Brendel eine gewisse Gabe, Schuberts Klaviermusik einfach laufen zu lassen

    Bei D.960 vielleicht, evtl. auch bei D.894, aber grundsätzlich ist Brendel doch ein Pianist, der häufig mit kleinen Tempo- (und anderen) Modifikationen bei Harmoniewechseln, neuen Formabschnitten usw. arbeitet. Extrem ist mir das neulich wieder beim Kopfsatz der A-dur-Sonate D.959 aufgefallen, und zwar sowohl bei der Studioaufnahme aus den 70ern als auch bei der schönen Live-Aufnahme von 2000: Brendel bremst das Seitenthema ziemlich ab, singt es wunderbar aus, zieht dann das Tempo beim Folgeabschnitt wieder stark an (nach meinem Gefühl über das Grundtempo hinaus). Das ist schon sehr "gemacht", für meinen Geschmack zu viel, obwohl ich grundsätzlich gegen Tempomodifikationen nichts einzuwenden habe.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Ich möchte dann doch noch eine kleine Lanze für Brendels Schubert-Spiel brechen. M. E. kommen ihm hier zwei Attribute sehr zugute, nämlich sein ausgeprägt kultivierter Anschlag und der Umstand, daß er eben halt gerade kein Pianist der Extreme ist. Vielmehr besitzt Brendel eine gewisse Gabe, Schuberts Klaviermusik einfach laufen zu lassen und auf ihre Ausdruckskraft zu vertrauen, ohne diese mit überflüssigen Garnituren besonders herausarbeiten zu müssen. Leider hat er sich bei der Sonate D. 960 in die Idee von der wegzulassenden Wiederholung der Exposition im 1. Satz verrannt (und begründet dies auch ausführlich in einem seiner Aufsätze), aber ich glaube daß es Christian Köhn war, der an entsprechender Stelle bereits darauf hingewiesen hat, daß man sich doch bitte nicht zu sehr an dieser Wiederholungs-Frage festbeißen möge. Dem möchte ich ausdrücklich zustimmen, denn wenn man diesen Punkt außer acht läßt, bekommt man von Brendel eine sehr schöne Interpretation von D. 960 mit einem geradezu natürlich anmutenden Fluß geboten.

    Ich weiß nicht mehr, ob ich das mit der Wiederholung geschrieben habe, auf jeden Fall entspricht es meinem Standpunkt. Brendels Gründe gegen diese Wiederholung sind für mich durchaus nachvollziehbar. Und im Zweifelsfall ist mir immer noch lieber, jemand spielt den Kopfsatz ohne Wiederholung so, dass ich diese gern noch von ihm gehört hätte, als dass ich sie mir nur aus vermeintlicher philologischer Korrektheit anhören muss. Die Wiederholung so zu spielen, dass sie wirklich als musikalische Notwendigkeit erscheint, ist fabelhaft schwer, sie so zu hören, ebenfalls.

    Die von Dir beschriebenen Qualitäten seines Schubert-Spiels unterstreiche ich. Für meinen Geschmack (!) erreicht er nur bei Schubert nicht immer ganz dieselbe Natürlichkeit wie bei Mozart. Bei seinem Schubert denke ich oft "interessant, so kann man das machen", gelegentlich auch "warum macht er das jetzt so?", bei seinem Mozart hingegen fast immer "großartig, so muss man das machen". Das Äquivalent zu dieser wunderbaren Gelöstheit in Verbindung mit gestalterischer Entschiedenheit, wäre bei Schubert für mich Radu Lupu. Dessen Aufnahme z.B. der G-Dur-Sonate ist für mich schlechterdings unübertrefflich.

    Christian

  • Das ist sicher richtig. Trotzdem scheint es mir sinnvoll, dass sich Interpreten Gedanken über die Musik machen, die sie interpretieren (egal ob im stillen Kämmerlein oder coram publico).


    Lieber Zwielicht, lieber Bernd,

    ja, ohne Zweifel ist das alles wahr - aber entschuldige bitte, das ist in meinen Augen doch eine Platitüde. Dass sich ein Interpret Gedanken über die von ihm wiedergegebene Musik macht, setze ich bei jedem voraus, auch bei einem Zwischenprüfungsstudenten im Nebenfachinstrument. Ansonsten wäre ja das Wort "Interpret" unangebracht.

    Mit anderen Worten: Ein Interpret, der sich Gedanken macht, ist ein weißer Schimmel. Ein Interpret, der sich Gedanken macht und darüber schreibt, ist ein weißer Schimmel, der sagt "ich bin weiß".

    Brendels Reflexionen haben unmittelbare Auswirkungen auf die musikalische Interpretation, so etwa - um nur ein Beispiel zu nennen - wenn er sich über die Notation des Hauptthemas des Kopfsatzes von Beethovens op. 2 Nr. 1 Gedanken macht und daraus Konsequenzen für das zu spielende Tempo zieht.


    Sorry, auch das ist in meinen Augen eine Platitüde - natürlich haben die Reflexionen Konsequenzen, die sich in der Interpretation niederschlagen. Wobei das Wording eigentlich falsch ist: Das Reflektieren ist der erste Teil des Interpretierens, der analysierende, der verstehen-wollende, der deutende Teil. Die Wiedergabe (für die manchmal das Wort "Interpretation" gebraucht wird) ist dann der zweite Teil, der resynthetisierende, der vermittelnde, der kommunizierende Teil.

    Brendel macht eine zweite kommunikative Ebene auf, wenn er nicht nur deutet und vermittelt, sondern seine Deutung rechtfertigt und begründet und diese Rechtfertigung und Begründung kommuniziert. Das taten auch andere Künstler. Monteverdi tat es. Wagner tat es. Schönberg tat es. Stockhausen tat es. Aber auch Harnoncourt, Staier, Fischer-Dieskau und viele andere. Bestimmt keine schlechten, genau wie Brendel.

    Andere sind da zurückhaltender, vertrauen der Kraft ihrer Interpretation (beide Teile). Etwa Krystian Zimerman. Vladimir Horowitz. Martha Argerich. Herbert von Karajan. Auch nicht die schlechtesten ...

    Wenn mir unterstellt wird, ich würde etwas über Brendel insinuieren, dann möchte ich entgegen halten, dass durch die positive Konnotation von Brendels Reflexionen insinuiert werden könnte, dass andere Künstler nicht reflektieren. Absurd.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Bei D.960 vielleicht, evtl. auch bei D.894, aber grundsätzlich ist Brendel doch ein Pianist, der häufig mit kleinen Tempo- (und anderen) Modifikationen bei Harmoniewechseln, neuen Formabschnitten usw. arbeitet. Extrem ist mir das neulich wieder beim Kopfsatz der A-dur-Sonate D.959 aufgefallen, und zwar sowohl bei der Studioaufnahme aus den 70ern als auch bei der schönen Live-Aufnahme von 2000: Brendel bremst das Seitenthema ziemlich ab, singt es wunderbar aus, zieht dann das Tempo beim Folgeabschnitt wieder stark an (nach meinem Gefühl über das Grundtempo hinaus). Das ist schon sehr "gemacht", für meinen Geschmack zu viel, obwohl ich grundsätzlich gegen Tempomodifikationen nichts einzuwenden habe.


    Viele Grüße

    Bernd


    Sicherlich spielt Brendel nicht gerade so, als habe er ein Metronom verschluckt, aber bei seinen Tempomodifikationen habe ich persönlich nur selten das Gefühl, diese seien überdosiert oder gar manieristisch. Im Gegenteil, meistens finde ich ihren Einsatz geschmackvoll, was sicherlich auch dem Zusammenwirken mit seinem sehr kultivierten Anschlag geschuldet ist - so daß das Gesamterlebnis eine irgendwie "gediegene" Wirkung auf den Hörer hat. Die Sonate D. 959 muß man sicherlich nicht so spielen, ich habe an Brendels Interpretation allerdings etwas anderes zu mäkeln (was mir bei Brendels Schubert sonst selten unterläuft): ich finde nämlich, daß er das dämonische Monstrum, welches Schubert im Mittelteil des 2. Satzes von der Leine läßt, etwas arg schöngeistig überspielt, das hätte er ruhig mehr auskosten können (ich beziehe mich auf die Studioaufnahme aus der weißen Decca-Box sowie auch auf die Video-Mitschnitte - stammen die eigentlich aus den 80er Jahren?)

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Wenn mir unterstellt wird, ich würde etwas über Brendel insinuieren, dann möchte ich entgegen halten, dass durch die positive Konnotation von Brendels Reflexionen insinuiert werden könnte, dass andere Künstler nicht reflektieren. Absurd.


    Das meine ich nicht, da niemand die These vertreten hat, daß die sinngemäße Aussage "Brendel kann über Musik schreiben, also hat er wohl auch sehr gründlich über sie nachgedacht" für andere Interpreten ins negative gewendet gelten würde.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Lieber MB,

    ich erkenne da keinen großen Dissens zwischen uns.

    Dass sich ein Interpret Gedanken über die von ihm wiedergegebene Musik macht, setze ich bei jedem voraus, auch bei einem Zwischenprüfungsstudenten im Nebenfachinstrument.

    Klar - aber die Qualität und das Niveau dieser Gedanken können recht unterschiedlich ausfallen. Zudem bleibt, so denke ich, jeder Wiedergabe eines Musikwerks immer auch ein intuitiver Anteil eigen, der unterschiedlich groß sein kann. Brendel selbst hat den Anteil solcher "intuitiven" interpretatorischen Entscheidungen für das frühe Stadium seiner Karriere als relativ hoch eingeschätzt. Später hat er dann z.B. Czernys Abhandlung über den richtigen Vortrag der Beethoven'schen Klavierwerke gelesen und eine umfassende Systematisierung der Beethoven'schen Vortragsbezeichnungen versucht, was wiederum Konsequenzen für seine späteren Beethoven-Aufnahmen gehabt hat. Trotzdem kann es natürlich vorkommen, dass Hörer die Interpretationen mit größeren intuitiven Anteilen höher schätzen als die späteren reflektierten und entsprechend ausgetüftelten (das passiert gerade bei Brendel immer wieder) - ein bekanntes Problem, bezeichne man es mit dem Gegensatz naiv vs. sentimentalisch oder sonstwie.

    Langer Worte kurzer Sinn: Ja, alle Interpreten machen sich Gedanken, bevor sie ein Werk wiedergeben. Der Reflexionsgrad ist dabei sehr unterschiedlich. Aber auch der höchste Reflexionsgrad ist kein Garant für eine "gute" Wiedergabe. Allerdings stellt er auch kein Hindernis für eine solche dar.


    Wenn mir unterstellt wird, ich würde etwas über Brendel insinuieren, dann möchte ich entgegen halten, dass durch die positive Konnotation von Brendels Reflexionen insinuiert werden könnte, dass andere Künstler nicht reflektieren.

    Ich hatte Deinen Vergleich mit dem schreibenden und nicht heilenden Arzt so verstanden, als würdest Du ihn auch auf Brendel beziehen und nicht nur als allgemeine Erkenntnis präsentieren. Falls ich mich da geirrt haben sollte, tut es mir leid.

    Meine Würdigung von Brendels Schriften im zweiten Beitrag dieses Threads sollte nur herausstellen, dass der Autor profund, erhellend und gelegentlich auch witzig über Musik schreibt. Nicht mehr und nicht weniger. Selbstverständlich reflektier(t)en unzählige andere, berühmte und weniger berühmte Musiker auf hohem Niveau über Musik - wie ich oben schon schrub: egal ob im stillen Kämmerlein oder coram publico.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Ein Interpret, der sich Gedanken macht und darüber schreibt, ist ein weißer Schimmel, der sagt "ich bin weiß".

    Ja, aber nur wenn seine Gedanken lediglich die eigenen Interpretationen wiederholen. Brendels Essays sind weit davon entfernt.

    Andere sind da zurückhaltender, vertrauen der Kraft ihrer Interpretation (beide Teile).

    Ein Interpret, der der Kraft seiner Interpretation vertraut: Das ist jetzt wirklich ein "weißer Schimmel".

    Christian

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!