Schubert: Der Erlkönig - "Ein sichtbares Bild"

  • Falko Hönisch

    ... gefällt mir ziemlich gut! Ich habe mich gestern ziemlich auf das übermäßige Dramatisieren in vielen Versionen eingeschossen und eine zurückhaltende Interpretationen bevorzugt - aber natürlich kann man das auch anders machen! Daß Hönisch es übertreibt, kann man aber ja auch nicht sagen.

    Mir ist noch einmal aufgefallen, wie sehr Schubert die Emphase bestimmter Stellen durch den Einbau vokaler Schwierigkeiten steuert - so ist die Betonung der letzten Silbe aus "... so brauch' ich Gewalt" ja nicht zuletzt durch den heftigen Sprung nach unten, unmittelbar vor einem forte im Klavier hervorgehoben - und gleich danach geht es ordentlich in die Höhe. (Vielleicht hat ja jemand die Noten zur Hand und kann was über die Tessitura sagen.)

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • so ist die Betonung der letzten Silbe aus "... so brauch' ich Gewalt" ja nicht zuletzt durch den heftigen Sprung nach unten, unmittelbar vor einem forte im Klavier hervorgehoben - und gleich danach geht es ordentlich in die Höhe

    Gewalt: A-D, dann Oktavsprung für "Mein Vater". Allerdings ist das fff im Klavier nicht nach, sondern auf "walt", unmittelbar gefolgt von einem decrescendo.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Allerdings ist das fff im Klavier nicht nach, sondern auf "walt", unmittelbar gefolgt von einem decrescendo.

    Ah, dann ist die häufig zu hörende Verlegung des fff in den Moment danach eine Lösung für das Problem, die Stelle hörbar zu machen; und ein übermäßiges Betonen des Sängers auf der Silbe eine andere.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Im Autograph steht das fff noch nicht, anscheinend hat Schubert es erst für den Erstdruck hinzugefügt? Zu dieser Zeit ist fff noch eine extrem seltene Dynamikvorschrift, bei Beethoven z.B. kommt sie m.W. fast nie (einmal im Finale der siebten Sinfonie, glaube ich) vor, in Schuberts letzten Jahren aber häufiger - sowohl in Klaviermusik (D.850, D.894), Kammermusik (Streichquintett), Orchestermusik (große C-dur-Sinfonie) als auch im Klaviersatz von Liedern (Erlkönig, später Atlas oder Doppelgänger, wahrscheinlich noch viele andere Beispiele).

    Wie in vielen (den meisten?) seiner Lieder gibt Schubert auch hier der Singstimme kaum bzw. keine dynamischen Anweisungen, diese beschränken sich auf die Klavierstimme - an der sich der Sänger bis zu einem gewissen Grad orientieren muss (worauf u.a. Alfred Brendel hingewiesen hat). Ich finde es deshalb schon legitim, auf der zweiten Silbe von Gewalt einen extremen Akzent zu setzen, vielleicht sogar den Gesangston zu verlassen. Ein bisschen "Oper" ist gerade dieses Lied schon, wobei zugegebenermaßen der Grat zwischen scharfer Charakterisierung und "Kasperltheater" schmal ist. Mit Orchestrierungen kann ich bei Schubert-Liedern generell wenig anfangen.

    Bezüglich der Tessitura finde ich interessant, dass der Erlkönig eher unauffällig, weil leise den höchsten Ton vorgibt (g', auf Mutter und singen), während das Kind sich bei seinen letzten Verzweiflungsrufen auf dem ges' festbeißt und erst - sozusagen im Moment des Todes - das g' erreicht (Erlkönig hat mir ein Leids gethan!).
    PS: Stimmt gar nicht, bereits der Erzähler erreicht am Anfang das g': Es ist der Vater.... Wobei die durch den höchsten Ton ausgezeichneten Wörter und Momente (Vater, Mutter, singen und der "Todesschrei" des Kindes) schon ein semantisches Gerüst ergeben.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Im Autograph steht das fff noch nicht, anscheinend hat Schubert es erst für den Erstdruck hinzugefügt?

    Eigentlich gibt es drei Handschriften. Keine hat das fff. Eine davon ist hier zu sehen:
    "http://www.themorgan.org/music/manuscript/115640"
    Die vier Versionen (3 Handschriften + Erstausgabe) sind bereits in der alten Gesamtausgabe gedruckt worden und sind auch on line anschaubar. Das fff kommt tatsächlich in der Erstausgabe vor. Man darf annehmen, daß diese Erstausgabe von Schubert besonders kontrolliert wurde (es war sein op.1) und daß er dort Anweisungen hinzugefügt hat, die er von der Aufführungspraxis hatte (zwischen 1815 und 1821 hat er das Lied öfter selber begleitet).

    Du erwähnst Atlas und Doppelgänger, im Schwanengesang gibt es drei fff, das dritte ist in Aufenthalt. Ich nehme auch an, daß man viele andere finden kann. In seinen letzten Jahren geht Schubert nicht selten vom ppp zu fff, was allerdings von Aufführenden leider zu oft in einen Bereich vom mp bis mf reduziert wird (Tendenz fallend).

    Wie in vielen (den meisten?) seiner Lieder gibt Schubert auch hier der Singstimme kaum bzw. keine dynamischen Anweisungen, diese beschränken sich auf die Klavierstimme -

    Es sind tatsächlich die allermeisten. Lieder mit dynamischen Anweisungen für die Singstimme sind die Ausnahme. Dazu zählen die Drei Gesänge des Harfners D480. Gerald Moore ist auch der Meinung, daß der Sänger einen gewissen Freiheitsgrad hat.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Gestern diese Interpretation von Jaroussky bei yt gefunden...hat was :

    "

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    "

    "Allwissende! Urweltweise!
    Erda! Erda! Ewiges Weib!"

  • Zitat

    Gestern diese Interpretation von Jaroussky bei yt gefunden...hat was :

    Kann man wohl sagen. Danke für den Hnweis.

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Habe in letzter Zeit des Öfteren eine Live-Version des Erlkönigs von Elisabeth Söderström gehört.
    Keine Ahnung wie die geneigten Leser hier dazu stehen, wenn der/die Interpret/in die drei verschiedenen Rollen verschieden gibt, eine Version mit drei Stimmen wurde ja schon etwas kritisiert (ich mag das), aber die Söderström ist ja der Wahnsinn. Als ich das das erste Mal hörte, musste ich erstmal ganz still sitzen und das Ohr an die Lautsprecher halten, wie sie die Stimme des Knaben interpretiert, ich dachte wirklich, dass da ein Kind singt, aber sie ist es, das finde ich unglaublich spannend. Es sind 3 Personen, aber doch immer die Söderström, auch der Erlkönig hat ein anderes Gepräge als Vater und Erzähler. Aber vor allem der Knabe und seine Angst, machen mir wirklich Gänsehaut zum Mitleiden.
    Zu hören übrigens auf dieser CD :

    "Allwissende! Urweltweise!
    Erda! Erda! Ewiges Weib!"

  • Eigentlich schade, dass der " Gegenentwurf " zu Schubert, nämlich Carl Loewes Erlkönig, op. 1 g - moll ( ! ), hier nicht wenigstens erwähnt wird, denn er steht Schuberts Version, die Loewe nicht kannte, keineswegs nach. Die geisterhafte Atmosphäre arbeitet Loewe fast noch stringenter heraus, und die Herausforderung an die Interpreten sind durchaus vergleichbar. Ich habe immer gern beide Vertonungen gesungen und wüsste nicht, welcher ich den Vorzug geben sollte.

    Ciao. Gioachino :juhu:

    miniminiDIFIDI

  • Eigentlich schade, dass der " Gegenentwurf " zu Schubert, nämlich Carl Loewes Erlkönig, op. 1 g - moll ( ! ), hier nicht wenigstens erwähnt wird, denn er steht Schuberts Version, die Loewe nicht kannte, keineswegs nach.

    Hier etwas, das ich in einem anderen Leben über beide Vertonungen verbrochen hatte:

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Im Jahr 1830, zwei Jahre vor seinem Tod, hat Goethe übrigens Schuberts Vertonung des Erlkönigs noch gehört, das Werk wurde ihm in Weimar von der Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient vorgetragen. Der Schauspieler Eduard Genast war dabei und berichtete später:

    Sie sang ihm unter anderem auch die Schubertsche Komposition des Erlkönig vor, und obgleich er kein Freund von durchkomponierten Strophenliedern war, so ergriff ihn der hochdramatische Vortrag der unvergleichlichen Wilhelmine so gewaltig, daß er ihr Haupt in beide Hände nahm und sie mit den Worten: "Haben Sie tausend Dank für diese großartige künstlerische Leistung!" auf die Stirn küßte; dann fuhr er fort: "Ich habe diese Komposition früher einmal gehört, wo sie mir gar nicht zusagen wollte, aber so vorgetragen, gestaltet sich das Ganze zu einem sichtbaren Bild."

    E. Genast: Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, 1862

    Goethe hat seine ablehnende Haltung Schubert gegenüber im hohen Alter also noch revidiert. Wie weit und tief diese neue Wertschätzung ging, kann man nur anhand dieser Quelle natürlich nicht sagen.

    Gruß, Carola

    Vom Schlechten kann man nie zu wenig und das Gute nie zu oft lesen. Arthur Schopenhauer

  • Die äußerlich zurückhaltenderen Interpretationen finde ich daher weit passender, besonders gefallen haben mir Ernestine Schumann-Heink (trotz der orchestrierten Fassung), Wilhelm Strienz, Heinrich Schlusnus und Thomas Quasthoff, bei dem das Stück einen geradezu fatalistischen Schluß annimmt.

    Da wird Dir wohl diese neu erschienene Aufnahme auch gefallen:

    Das Ende ist besonders zurückgenommen.
    Eine schöne CD, die ich noch ein paar mal hören muß, bevor ich mich darüber äußern kann. Aber der erste Eindruck ist positiv und ganz besonders das titelgebende Erlkönig vermeidet die Falle der Überzeichnung.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Goethe hat seine ablehnende Haltung Schubert gegenüber im hohen Alter also noch revidiert.

    Da bin ich mir nicht so sicher: Goethe lobte zwar die "großartige künstlerische Leistung" der Sängerin, sprach aber von einem "sichtbaren Bild", zu dem sich ihm die Komposition gestaltete, ohne damit zu sagen, ob es ihm gefiel.

    Klingt vielleicht etwas penibel, aber meines Wissens beherrschte der Dichterfürst die Kunst, ungünstige Urteile so zu formulieren, daß sie wie Lob erschienen.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Für den Augenmenschen Goethe war aber gerade das Anschauliche in der Musik enorm wichtig. Er hat sich häufig ablehnend über Musik geäußert, weil sie keine Bilder in ihm hervorriefen. Insofern denke ich schon, dass er nicht nur einfach etwas Nettes sagen wollte - letztlich weiß man es natürlich nicht. Auch die Verlässlichkeit der Quelle ist schwer zu beurteilen, das Zitat wird aber häufig in der einschlägigen Literatur erwähnt.

    Zum Thema Goethe und die Musik gibt es übrigens unter anderem dieses empfehlenswerte Buch:

    Vor allem durch das Kapitel Zur Problematik der Vertonungen von (Goethes) Gedichten habe ich einiges gelernt.

    Gruß, Carola

    PS. Ich sehe gerade, dass Rideamus in seiner Einführung das Goethe-Zitat vom "sichtbaren Bild" bereits erwähnt hatte.

    Vom Schlechten kann man nie zu wenig und das Gute nie zu oft lesen. Arthur Schopenhauer

  • Seit den letzten Tagen lese ich das Buch von Ian Bostridge "Schuberts Winterreise - Lieder von Liebe und Schmerz", das ich sehr interessant finde und mir sehr gut gefällt (es geht darin nicht nur um Schuberts Komposition, sondern eher um die zahlreichen Querverbindungen, die ihm zu den Texten einfallen). Es ist sehr interessant, die Gedanken eines (sehr guten!) Interpreten zu erfahren.

    Nebenbei kommt Bostridge auch auf Schuberts Erlkönig zu sprechen und schreibt, dass die hämmernden Oktaven im Klavier die donnernden Hufe des Pferdes darstellen - und so gut ich das Buch finde, dieser Satz hat mich irritiert. Das habe ich heute zum Anlass genommen, genauer über Schuberts Erlkönig-Vertonung zu recherchieren, und was ich gefunden habe, hat mich sehr überrascht, denn ich habe erwartet, mich mit einem ein zwar unheimlichen, aber nicht so grausamen Gedicht zu beschäftigen.

    Es gibt zahlreiche Interpretationen, wie Goethes Gedicht bzw. Schuberts Vertonung zu verstehen ist, und diejenige, die ich als die einzig plausible erachte, geht von sexuellem Missbrauch des Kindes durch den Vater aus.

    • Dass es der eigene Vater ist (und niemand anderer, der sich als Vater ausgibt), wird für mich ziemlich klar, gleich im zweiten Satz heißt es ja: "Es ist der Vater mit seinem Kind" (außerdem in der Vertonung die Betonung auf "seinem", nicht auf "Kind"). Auch sonst sehe ich nichts, das darauf hindeuten könnte, dass es nicht der eigene Vater ist. Goethe könnte auf ein Konstrukt anspielen, das nicht unbedingt eine leibliche Vater-Sohn-Beziehung bedeuten muss, aber wieso sollte er das tun? Welchen Mehrwert kann es bringen, wenn es sich um einen nicht-leiblichen Vater handelt?
    • Dass es in Goethes Gedicht um Kindesmissbrauch geht, wird meiner Meinung nach sehr klar. "Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt. Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt. - Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an. Erlkönig hat mir ein Leids getan". Außerdem: "Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir" Und "Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif".
    • Das Kind erzählt von der Gewalt des Erlkönigs "Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?", worauf der Vater die Schilderung des Kindes wegwischt "Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif" und "In dürren Blättern säuselt der Wind" und "Es scheinen die alten Weiden so grau". Man weiß, dass Kinder missbrauchende Leute jenen einreden, dass die Taten nicht stattgefunden haben.
    • Schubert wurde (laut seinen verklausulierten, aber eindeutigen Aufzeichnungen in "Mein Traum") im Kindesalter von seinem Vater sexuell missbraucht. Spielt das in die Vertonung hinein? Zumindest unbewusst wohl schon. Keineswegs ein Zufall ist, dass genau dieses Lied die Opus-Nummer 1 trägt, man darf also annehmen, dass es Schubert sehr am Herzen lag.
    • Die beiden Passagen "Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm" und "Erlkönig hat mir ein Leids getan" klingen einander sehr ähnlich (sehr ungewöhnlich in diesem Lied - die Harmonien sind ähnlich, dafür siehe auf Youtube eine harmonische Analyse). Daraus leite ich ab, dass der Vater und der Erlkönig ein- und dieselbe Person sind. Das sichere Anfassen, das Warmhalten des Kindes bedeutet das Leid. Daran kann man eigentlich gar nicht zweifeln. (Musikalische Querverweise enthüllen ja bekanntlich oft tiefere Zusammenhänge.)
    • Die hämmernden Oktaven im Klavier sind - auch wenn das oft behauptet wird - natürlich nicht die donnernden Hufe des Pferdes (ein Galopp hat einen anderen Rhythmus, siehe hier auf Youtube), sondern malen die Stimmung des Gedichtes, und vermutlich ganz konkret die sexuelle Erregung des Vaters bzw. die sexuelle Handlung des Vaters. Das ist aber nicht sicher, darüber kann man diskutieren.
    • Goethes Gedicht besteht großteils aus dem Dialog Vater-Kind. Der außenstehenden Erzähler tritt nur in der ersten und der letzten Strophe in Erscheinung, und da verliert er kein Wort über die Gefühle des Kindes, sondern beschreibt nur - knapp - die Gefühle des Vaters ("Dem Vater grauset's"). Dass somit eher aus Täter- als aus Opferperspektive erzählt wird, verleiht dem an sich schon grausamen Gedicht eine weitere Grausamkeit.
    • Ich finde nicht, dass diese Analyse hineinphantasiert ist, sondern schon so im Gedicht bzw. im Lied angelegt ist. Unter anderem deshalb hasse ich, wenn Liedsänger unbedingt "schön" klingen wollen. Besser ausdrucksstark als schön.

    Da es noch zahlreiche andere - weit harmlosere - Interpretationen gibt, frage ich mal in die Runde: Wie sind Eure Meinungen zu diesem Gedicht und seiner Vertonung ( / seinen Vertonungen)?

    Die Loewe-Vertonung gefällt mir ebenfalls, aber ich möchte die beiden Vertonungen derzeit nicht miteinander vergleichen. Beide halte ich für Meisterwerke der Liedkunst (man höre und staune, manchmal mag ich auch den musikalischen Mainstream).

    Wegen der im Mai 2023 in Kraft getretenen Forenregeln beteilige ich mich in diesem Forum nicht mehr (sondern schreibe unter demselben Pseudonym in einem anderen Forum), bin aber hier per PN weiterhin erreichbar.

  • Da es noch zahlreiche andere - weit harmlosere - Interpretationen gibt

    Du machst hier einen grundsätzlichen Denkfehler. Künstler sind nicht blöd, und schon gar solche wie Goethe. Wenn sie also etwas Konkretes sagen wollen, dann tun sie das auch. Anders ausgedrückt: Ein guter Künstler ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass es ihm gelingt, dass auszudrücken, was er ausdrücken will. Ein Künstler, der A sagt, aber die Leute verstehen B, obwohl sie doch A verstehen sollen, ist ein schlechter Künstler. War Goethe ein schlechter Künstler? Nein.

    Daraus folgt: Die vielen Deutungsmöglichkeiten des Erlkönig sind genau so beabsichtigt. Sie alle stecken in dem Werk drin. Goethe höchstpersönlich hat sie hineingesteckt. Gute Künstler können das. Genau das macht den Unterschied.

    Meine Deutung ist übrigens, dass hier die erwachende Sexualität eines Kindes thematisiert wird. Sie wirkt auf das Kind fremd und bedrohlich. Am Ende ist das Kind "tot", d.h. es hat sich in einen jungen Mann verwandelt. Dem Vater gefällt das nicht, aber das ist der Lauf der Dinge.


    Thomas

  • Hallo Thomas!
    Vielen Dank für Deine Antwort!

    Allerdings sehe ich nicht, wo ich diesen Denkfehler begangen hätte, denn unsere Meinungen hinsichtlich der prinzipiellen Deutungsmöglichkeit eines Gedichts bzw. überhaupt eines Kunstwerkes unterscheiden sich doch nicht, bzw. nur in einem Punkt: Ich denke nicht, dass jede mögliche und gut argumentierbare Interpretation vom Künstler intendiert sein muss. Möglicherweise gibt es eine zusätzlich vorhandene Ebene, derer sich der Künstler nicht bewusst war. Aber möglicherweise hast Du das ohnehin gemeint.

    Mit Deiner Deutung der Pubertät und der erwachenden Sexualität kann ich mich nicht anfreunden. Wenn ich mich daran zurückerinnere, habe ich diese Zeit nicht als beunruhigend empfunden, generell passt sie schon gar nicht zur düster-bedrohlichen Atmosphäre der Vertonung. (ein Werk, das meiner Meinung nach unter anderem die erwachende Sexualität zum Thema hat, ist Dvořáks Rusalka - eine enorm grausame Oper, die aber ganz anders daherkommt)
    Wer sollte Deiner Meinung nach dann der Erlkönig sein? Ein Eisenhans, der den Buben beim Erwachsen-Werden unterstützt? Das passt für mich überhaupt nicht, der Erlkönig klingt nicht nur viel unheimlicher, sondern auch gewalttätig, böse und brutal. Für mich ist klar, dass Erlkönig = missbrauchender Vater.

    Wegen der im Mai 2023 in Kraft getretenen Forenregeln beteilige ich mich in diesem Forum nicht mehr (sondern schreibe unter demselben Pseudonym in einem anderen Forum), bin aber hier per PN weiterhin erreichbar.


  • Allerdings sehe ich nicht, wo ich diesen Denkfehler begangen hätte, denn unsere Meinungen hinsichtlich der prinzipiellen Deutungsmöglichkeit eines Gedichts bzw. überhaupt eines Kunstwerkes unterscheiden sich doch nicht, bzw. nur in einem Punkt: Ich denke nicht, dass jede mögliche und gut argumentierbare Interpretation vom Künstler intendiert sein muss. Möglicherweise gibt es eine zusätzlich vorhandene Ebene, derer sich der Künstler nicht bewusst war. Aber möglicherweise hast Du das ohnehin gemeint.

    Mit Deiner Deutung der Pubertät und der erwachenden Sexualität kann ich mich nicht anfreunden. Wenn ich mich daran zurückerinnere, habe ich diese Zeit nicht als beunruhigend empfunden, generell passt sie schon gar nicht zur düster-bedrohlichen Atmosphäre der Vertonung. (ein Werk, das meiner Meinung nach unter anderem die erwachende Sexualität zum Thema hat, ist Dvořáks Rusalka - eine enorm grausame Oper, die aber ganz anders daherkommt)
    Wer sollte Deiner Meinung nach dann der Erlkönig sein? Ein Eisenhans, der den Buben beim Erwachsen-Werden unterstützt? Das passt für mich überhaupt nicht, der Erlkönig klingt nicht nur viel unheimlicher, sondern auch gewalttätig, böse und brutal. Für mich ist klar, dass Erlkönig = missbrauchender Vater.

    Zu deinem Denkfehler: Du schreibst: "... diejenige, die ich als die einzig plausible erachte." Und das kann eben nicht sein. Wenn der Autor nur eine Deutungsmöglichkeit vorgesehen hätte, dann hätte er das Gedicht entsprechend formuliert. Hat er aber nicht. Er wollte bewusst mehrere Deutungsmöglichkeiten zulassen.

    Deine Deutungsmöglichkeit ist natürlich zulässig, aber es ist nicht die einzige. Und ich bin mir absolut sicher: Wenn man Goethe gefragt hätte, wie das Gedicht gemeint ist, dann hätte er sinngemäß gesagt, dass es mehrere Deutungen erlaubt. Er hätte eventuell einige davon genannt, aber immer mit dem Hinweis, dass ihm noch mehrere andere einfallen könnten.

    Übrigens brauchst du dich mit meiner Deutung nicht anzufreunden. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass Probleme während der Pubertät häufiger auftreten als missbrauchende Väter. In meiner Deutung ist der Erlkönig keine reale Person, sondern eine abstrakte Bedrohung, das Unbekannte. Stell dir vor, du musst dein Land verlassen, deine Freunde, deine Familie. Für immer. Ziel: Irgendeine Insel der Philippinen. Dort gibt es Armut und Kriminalität. Und böse Menschen. Du kennst dort niemanden, musst dort aber den Rest deines Lebens verbringen. Wohl wissend, dass dort auch "normale" Leute leben und irgendwie zurecht kommen. Aber den einen oder anderen Alptraum hast du während der Reise vielleicht doch. Der Erlkönig ist dann das Produkt deiner Fantasie.

    Zurück zu meiner Deutung: Zu Goethes Zeiten war Sexualität in weiten Kreisen ein Tabuthema. Je nach Elternhaus konnte man den Kindern (beiderlei Geschlechts) ziemlich Angst einjagen...


    Thomas

  • Ich möchte an diese Anmerkung erinnern, bereits ein paar Jahre alt:

    Was Erlkönig betrifft, so ist die Ambivalenz Teil der Faszination des Liedes. Die Stimme des Erlkönigs könnte eine innere Stimme des Knaben sein z.B. Man könnte es sich sogar als eine Deliriumsszene vorstellen, wo alles nur im Kopfe des vor Kälte sterbenden Kindes spielt. Oder in der verschreckten Phantasie des Vaters. Oder ... Den Vortragenden (Sänger / Sängerin und Klavierspieler) obliegt es, die Szene in ihrer ganzen Vieldeutigkeit zu vermitteln.

    Die Deutung als "Deliriumsszene (...) im Kopfe des vor Kälte sterbenden Kindes" finde ich keineswegs harmloser als die aktuellen Deutungsversuche.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Zu deinem Denkfehler: Du schreibst: "... diejenige, die ich als die einzig plausible erachte." Und das kann eben nicht sein. Wenn der Autor nur eine Deutungsmöglichkeit vorgesehen hätte, dann hätte er das Gedicht entsprechend formuliert. Hat er aber nicht. Er wollte bewusst mehrere Deutungsmöglichkeiten zulassen.

    Deine Deutungsmöglichkeit ist natürlich zulässig, aber es ist nicht die einzige. Und ich bin mir absolut sicher: Wenn man Goethe gefragt hätte, wie das Gedicht gemeint ist, dann hätte er sinngemäß gesagt, dass es mehrere Deutungen erlaubt. Er hätte eventuell einige davon genannt, aber immer mit dem Hinweis, dass ihm noch mehrere andere einfallen könnten.

    Übrigens brauchst du dich mit meiner Deutung nicht anzufreunden. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass Probleme während der Pubertät häufiger auftreten als missbrauchende Väter. In meiner Deutung ist der Erlkönig keine reale Person, sondern eine abstrakte Bedrohung, das Unbekannte. Stell dir vor, du musst dein Land verlassen, deine Freunde, deine Familie. Für immer. Ziel: Irgendeine Insel der Philippinen. Dort gibt es Armut und Kriminalität. Und böse Menschen. Du kennst dort niemanden, musst dort aber den Rest deines Lebens verbringen. Wohl wissend, dass dort auch "normale" Leute leben und irgendwie zurecht kommen. Aber den einen oder anderen Alptraum hast du während der Reise vielleicht doch. Der Erlkönig ist dann das Produkt deiner Fantasie.

    Zurück zu meiner Deutung: Zu Goethes Zeiten war Sexualität in weiten Kreisen ein Tabuthema. Je nach Elternhaus konnte man den Kindern (beiderlei Geschlechts) ziemlich Angst einjagen...

    Ehrlich gesagt ist mir mein Denkfehler nach wie vor nicht klar. Auch wenn mehrere Deutungsmöglichkeiten intendiert sind, kann es doch sein, dass mir nur eine einzige plausibel vorkommt. Schlimmstenfalls irre ich, aber nur weil eine Deutung prinzipiell möglich ist, muss sie mir nicht automatisch plausibel vorkommen. So war das gemeint :)

    Ich denke auch, dass Goethe sein eigenes Werk nicht bzw. nur teilweise bzw. ungern erklärt hätte. Aber es gibt, denke ich, die Möglichkeit, dass er (oder Schubert) eine bestimmte Interpretation im Sinne hatte, aber das Gedicht trotzdem nicht ganz eindeutig geschrieben/vertont hat. Das denke ich aber bei Goethe eher nicht, bei Schubert viel deutlicher.

    Ja, natürlich! Nicht jeder, der in der Pubertät Schwierigkeiten mit seinen Eltern hat wird missbraucht, natürlich nicht, um Himmels willen!! Aber die meisten Missbrauchsfälle passieren eben durch die Bezugspersonen, und außerdem denke ich nicht, dass der Knabe der Kindheit schon entwachsen ist (würde ihn der Vater sonst wirklich warm im Arm halten?) Aber darüber kann man sicher diskutieren!

    Natürlich haben die Menschen Ängste und Panik vor allen möglichen Dingen. Ich finde aber nicht, dass der Erlkönig eine ungenau definierte Figur ist, es ist ja ziemlich deutlich die Rede davon, was er tut. Und ich kann mir schwer vorstellen, dass einer abstrakte Bedrohung die Worte "Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt, und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt" in den Mund gelegt werden. Meinem Gefühl nach geht es hier sehr wohl um eine konkrete Figur, aber ich finde es spannend, andere Sichtweisen kennenzulernen!

    Die Deutung als "Deliriumsszene (...) im Kopfe des vor Kälte sterbenden Kindes" finde ich keineswegs harmloser als die aktuellen Deutungsversuche.

    Aber wieso sollte ein Bub vor Kälte sterben, der längere Zeit "sicher" gefasst und "warm" gehalten wird? Das ergibt für mich keinen Sinn.


    Apropos: Weiß jemand, seit wann etwa "warm" als Ausdruck für männliche Homosexualität belegt ist? Wenn das schon zu Goethes Zeit war (woran ich eher zweifle), könnte "er hält ihn warm" auch ein versteckter Hinweis zu meiner bevorzugten Deutung sein. Aber ich bin kein Germanist und hab momentan nicht die Zeit, um nachzuschauen.

    Wegen der im Mai 2023 in Kraft getretenen Forenregeln beteilige ich mich in diesem Forum nicht mehr (sondern schreibe unter demselben Pseudonym in einem anderen Forum), bin aber hier per PN weiterhin erreichbar.

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