Nikolaus Harnoncourt - der Klangredner

  • Nikolaus Harnoncourt - der Klangredner

    Vorspiel (Capriccio Universum):

    September und Oktober 2012, Recherche für den geplanten Capriccio Thread zu Nikolaus Harnoncourt, Lektüre Monika Mertls Biografie (Residenz Verlag), geplante Threaderöffnung dieser Tage…

    Michael Haneke, „Liebe“, am 8.10.2012 in einem Münchner Kino gesehen. Habe vor ein paar Tagen genau das Harnoncourt Buch fertig gelesen, das Georg Anna aufs Bett legt. Es erschien in mehreren Auflagen, ich hab mich im September ganz bewusst für diese Erstauflage entschieden, mit genau dem Buchumschlag aus dem Film. Mir war´s, als wäre es mein Exemplar, das Georg holt und Anna aufs Bett legt. Wieso gerade dieses Buch, an diesem (Film und Capriccio) Tag?

    Nikolaus Harnoncourt, geboren am 6.12.1929 in Berlin, entstammt altösterreichischer Hocharistokratie. Der Urgroßvater der Mutter war Erzherzog Johann. Aufgewachsen ist Harnoncourt in Graz, er hat zwei Schwestern und vier Brüder. Der Vater war ein Hobbymusiker, er mochte vor allem Lehár und Gershwin. Ein Onkel Harnoncourts wurde Direktor des Museum of Modern Art in New York. Harnoncourt musste im Zweiten Weltkrieg mit 15 Jahren als Bote der Feuerwehr Bombentreffer melden.

    Die Familie zog an den Grundlsee, wo Paul Grümmer (ehemals Busch-Quartett) sein Cellolehrer wurde. Nikolaus Harnoncourt baute in dieser Zeit auch ein eigenes Marionettentheater auf und führte 1946/47 eine dramatisierte Fassung des „Faust Volksbuchs“ auf. Für eine berufliche Karriere erwies sich dieses Talent aber als nicht finanzierbar.

    Im Herbst 1947 hörte der damals kranke Jugendliche Beethovens 7. Symphonie mit Wilhelm Furtwängler im Radio, wodurch er inspiriert wurde, endgültig den Weg eines Musikers einzuschlagen. 1948 begann er als Untermieter in Wien ein Cellostudium beim Wiener Philharmonischen Solocellisten Emanuel Brabec. Es ergaben sich erste Substitutsaufgaben und Kontakte zu Studienkollegen, auch das Interesse für Alte Musik wurde hier geweckt („alte Instrumente statt neue Schuhe“). Mit Alice Hoffelner, Alfred Altenburger und Eduard Melkus zusammen, als „Wiener Gamben-Quartett“, führte man 1950 mehrfach Bachs „Kunst der Fuge“ auf. 1949/50 wurde Nikolaus Harnoncourt erstmals als Substitut in der Wiener Staatsoper (damals im Theater an der Wien) eingesetzt, Karl Böhm dirigierte „Salome“. Josef Mertin, der an der Wiener Musikuniversität Alte Musik lehrte, spielte 1950 Bachs „Brandenburgische Konzerte“ ein, Harnoncourts erste Mitwirkung bei einer Schallplattenproduktion. Harnoncourt wirkte in dieser Zeit auch auf Tourneen mit dem Wiener Kammerorchester mit, Alfred Brendel war Solist bei Bach d-Moll Konzert.

    1952 bestand Harnoncourt das von Herbert von Karajan überwachte Probespiel als Cellist bei den Wiener Symphonikern, wo er bis 1969 bleiben und alle Höhen und Tiefen eines Orchestermusikers erleben sollte incl. fürs Leben prägende Erfahrungen mit Dirigenten von Clemens Krauss bis Wolfgang Sawallisch.

    1953 heiratete Nikolaus Harnoncourt Alice Hoffelner (die unter anderem in der Kindheit Klaviertrios mit Vater und Sohn Gulda musiziert hatte), fortan nicht nur Harnoncourts Ehefrau und bald Mutter von einer Tochter und drei Söhnen, sondern engste musikalische Mitarbeiterin, an der Geige genauso wie bei der Quellenforschung - und bei Alpenwanderungen (Biografin Monika Mertl: „Dulcinea und Sancho Pansa in Personalunion“).

    Zu den Wegen der vier Harnoncourt-Kinder: Die Mezzosopranistin und Altistin Elisabeth (von Magnus) wirkt unter anderem bei vielen Konzerten und Aufnahmen des Vaters mit, Philipp führt mittlerweile gelegentlich Regie auch bei Produktionen die Nikolaus Harnoncourt musikalisch verantwortet, Franz ist Chirurg in Linz, und Eberhard, ebenfalls als Regisseur ambitioniert gewesen, kam – tragischer Kontrapunkt – 1990 bei einem unverschuldeten Autounfall ums Leben.

    Das junge Ehepaar Harnoncourt und ein paar Freunde begannen, oft auf abenteuerliche Weise, alte Instrumente zu sammeln und das Spiel darauf vielfach neu zu erlernen, zunächst rein privat. Als Paul Hindemith im Jahr 1954 Monteverdis „L´Orfeo“ im Wiener Konzerthaus aufführte, wurden einige dieser Instrumente (und die dazu gehörigen Musiker) herangezogen. Nach jahrelanger Quellenforschung und Probenarbeit gab der soeben erst so benannte Concentus Musicus im Jahr 1957 im Palais Schwarzenberg in Wien sein erstes Konzert. Im Lauf der Zeit kam es zu Zyklen im Konzerthaus und schließlich im Musikverein, zu vielen Schallplatten- und CD-Aufnahmen und zu einigen Tourneen auch nach Übersee.

    Bis 1987 leitete Harnoncourt den Concentus Musicus vom Cello aus. Nach und nach arbeitete sich das Ensemble durch die Musikgeschichte, Mittelalter, Renaissance, Barock, Haydn, Mozart und zuletzt eine „Walzer Revolution“ (mit Mozart, Lanner und Strauß Vater) und die Salzburger „Zauberflöte“ 2012 sind in Konzerten, bei szenischen Aufführungen und vielfach auf Tonträgern festgehalten. Für März 2013 ist Beethovens „Fidelio“ im Theater an der Wien in einer Inszenierung von Herbert Föttinger geplant. Der Concentus Musicus ist kein Repertoireensemble, es wird immer alles neu erarbeitet, und wenn ein Werk nach vielen Jahren wiederholt wird, fließen die seither gewonnenen Erkenntnisse ein.

    1969 kündigte Harnoncourt seinen Orchesterposten, um sich ganz den eigenen Projekten widmen zu können. Er debütierte an der Piccolo Scala 1972 mit Monteverdis „Ulisse“ und erarbeitete Opern und Konzerte in der Folge in Frankfurt, Hamburg, San Francisco (1979), München, vor allem aber in Amsterdam, Berlin, Zürich, Wien, Salzburg und Graz („styriarte“, ab 1985). Dazu kamen Tourneen und Gastspiele. Somit ist Harnoncourt als Dirigent im Gegensatz zu vielen anderen, die von Anfang an eine Kapellmeisterlaufbahn betreiben, gewissermaßen ein „Quereinsteiger“ aus der Praxis eines Orchestermusikers heraus.

    Intensive Zusammenarbeiten ergaben sich vor allem mit dem Concertgebouw Orkest Amsterdam und mit dem Chamber Orchestra of Europe, was Regisseure betrifft am häufigsten mit Jean-Pierre Ponnelle und mit Jürgen Flimm. Musikalisch reicht der Bogen letztendlich von mittelalterlicher Musik mit dem Concentus Musicus bis zu Bartok, Gershwin und Strawinski. Mittlerweile (2012) hat sich Nikolaus Harnoncourt aus Altersgründen von Verpflichtungen außerhalb Österreichs frei gemacht und konzentriert sein Wirken auf Salzburg, Graz und Wien.

    Ab 1973 lehrte er zudem 20 Jahre lang Alte Musik am Mozarteum Salzburg.

    Buchveröffentlichungen wie „Musik als Klangrede“ oder „Töne sind höhere Worte“ fassen Aufsätze für Schallplattenbeilagen, Vorträge und Gespräche sowie weiteres schriftlich Festgehaltenes zusammen und verdeutlichen Harnoncourts Positionen zu Musikepochen, Komponisten und einzelnen Werken. Von Monika Mertl liegen eine Biografie (1999, zwei aktualisierte Neuauflagen 2004 und 2009) sowie (zusammen mit dem Fagottisten Milan Turković) ein Buch über den Concentus Musicus vor, von Johanna Fürstauer und Anna Mika eine Art Operngeschichte, ausgehend von Harnoncourts Arbeit auf diesem Gebiet („Oper, sinnlich“).

    Von Kindheit an war Nikolaus Harnoncourt ein eigensinniger Widerspruchsgeist. Musik bedeutet für ihn statt Beruhigung und Berieselung stets Anregung bis Erschütterung. Bei der Arbeit mit Orchestern ist ihm wichtig, alle von den Werken und von seiner Auffassung argumentativ zu überzeugen. Seine vielfach vertiefende, auf Erklärungen und außermusikalische Assoziationen bauende Probenarbeit stößt bisweilen auf Widerstand, weil sie jeder Routine widerspricht. Es gilt, Musik neu zu entdecken. Ziel ist nicht Perfektion, sondern das unmittelbare Erleben von Musik. Es wird versucht, Musik als von Menschen erzeugte „Klangrede“ dem Publikum näher zu bringen. Die Detailzeichnung, die Harnoncourt bevorzugt, ist nicht jedermanns Geschmack, sie hemmt oft bewusst den (vielfach gewohnten und einer Erwartungshaltung entsprechenden) Fluss der Musik zugunsten neuer Blicke auf einzelne Nuancen von Kompositionen, auf (tiefen)psychologische Konstellationen bei dramatischen Werken bzw. auf eine gewünschte emotionale Neuerweckung bei wohlbekannten, vielfach durch Routine abgeschliffenen Werken.

    Hier seien zunächst nur einige wenige Aufnahmen aufgezählt, nahezu willkürlich ausgewählt:

    Mit dem Concentus Musicus Musik vom Hofe Maximilians I., Musik vom Hofe Leopolds I., Musik von Biber (alle aus den Anfangszeiten des Ensembles), Bachs Matthäus-Passion, Händels Messias, Haydns Pariser Symphonien, Mozarts komplettes geistliches Werk und die zuletzt eingespielte „Walzer Revolution“.

       
       
     

    Mit dem Concertgebouw Orkest Symphonien von Haydn und Schubert.

     

    Mit dem Chamber Orchestra of Europe Beethoven, Mendelssohn-Bartholdy und Bartok.

       

    Mit den Wiener Philharmonikern Bruckners Neunte mit Vorstellung der erhaltenen Teile des Finalsatzes, Smetanas Má vlast, die zwei Neujahrskonzerte 2001 und 2003 und das Deutsche Requiem von Brahms.

       
     

    Mit den Berliner Philharmonikern Webers „Freischütz“ und die Brahms Symphonien.

     

    Hier kann hinfort bei Bedarf speziell über Nikolaus Harnoncourts Aufnahmen und seine Sichtweise auf die Musik diskutiert werden.

    Gute Unterhaltung dabei wünscht, herzlich grüßend,
    AlexanderK

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Ganz spontan und ohne langes Nachdenken (und/oder Quellenforschung) fällt mir der Monteverdi-Zyklus in Zürich ein, den Harnoncourt gemeinsam mit dem unvergessenen Jean Pierre Ponnelle gestaltet hat. Zum Glück sind diese Produktionen gefilmt worden und heute auf DVD erhältlich (der Preis dieser DVDs beweist die Qualität). Diese Produktionen habe ich Wien als Gastspiel erleben dürfen. Dank Ponnelle und vermutlich auch auf Grund der Weiterentwicklung von Maestro Harnoncourt war diese Serie (wahrscheinlich nicht nur für mich) wesentlich ausdruckskräftiger als die Montiverdiproduktionen einige Jahre zuvor für das Theater an der Wien (auch davon gibt/gab es eine Studioaufnahme für wenn ich mich richtig erinnere Teldec). Sehr erfolgreich waren auch (ebenfalls in Zürich und mit Ponnelle) seine Interpretationen von "Idomeneo" und "Lucio Silla".

    An der Wiener Staatsoper war er nicht wirklich erfolgreich. Das lag wohl daran, dass die Philharmoniker gegen seine auf intensives Quellenstudium basierender Interpretation abseits aller Tradition opponierten und auch ein Großteil des Publikums mit Klängen und Tempi abseits von Böhm oder Karajan nichts anfangen konnte (um nicht zu sagen überfordert war). Ich behaupte, dass er mangels akkustischer und szenischer (ua. Kusej) Kulinarik auch in Salzburg nie wirklich erfolgreich war. Ich glaube aber auch, dass seine besten Aufnahmen (und - so weit ich es miterleben konnte - Konzerte) neben dem Concentus nicht mit den Wiener Philharmonikern sondern mit dem Concertgebouw und mit dem Chamber Orchestra of Europe entstanden sind.

    Ich habe von der Styriarte im letzten Jahr seine halbszenische "Verkaufte Braut" (in der Zwischenzeit alsd DVD erhältlich) in bester Erinnerung; das "Stabat Mater" von Dvorak bei der heurigen Styriarte litt unter den klimatischen Rahmenbedingungen und war dennoch absolut hörenswert.

    Das war es in aller Kürze.

    Michael

  • Für mich ist Harnoncourt ein Dirigent der Extreme, nicht nur in Bezug auf seine Ideen, sondern auch auf die Qualität der Resultate. Beseeltheit, höchste Kreativität und Durchdringung der Musik stehen neben absolut schlampigem Zusammenspiel und wackeligem Puls, was meiner Ansicht nach nur von einer schwachen Dirigiertechnik herrühren kann. Das verleidet mir nicht wenige seiner Aufnahmen. Ein großer Fan bin ich des Harnoncourt'schen Mittelstimmen-Tremolos, welches mir nie als Klangfläche gedacht scheint, sondern stets als Motor - wobei dieser Begriff mir auch nicht 100%ig gefällt, da es überhaupt nichts Mechanisches hat, sondern etwas sehr Psychisches, Energetisches in diesem Sinne.

  • Harnoncourt ist, ich muss es zugeben, einer meiner Leitsterne unter den Interpreten. Sein zupackender Stil ließ mich viele bekannte Werke völlig neu entdecken. Er hat durch seine Sicht auf die Musik, manches vom Staub der Zeit befreit und wieder zu lebendiger Kunst werden lassen, die auch heute noch Menschen aufwühlt - statt sie nur im reinen Genuss schwelgen zu lassen. Das Ergebnis ist oft unbequem und höchst subjektiv. Aber es geht ja meines Erachtens auch nicht um die objektiv "richtige" Interpretation - die gibt es sowieso nicht -, sondern darum, dass uns Musik der Vergangenheit heute noch etwas sagen kann. Und das ist Harnoncourt immer wieder geklückt und dafür bin ich ihm sehr dankbar.

    Ein Beipiel:


    Sein Beethoven ist durch höchste Präsenz und Transparenz geprägt. Es wird unter Hochspannung musiziert. Die Akzente, besonders im Blech, sind scharf akzentuiert. Das rüttelt auch heute noch wach und lässt nicht kalt.:juhu: :juhu: :juhu:
    Ich habe Harnoncourt zweimal live erleben drüfen (u.a, mit Beethoven 1+2 COE in Köln). Jenseits des muskalischen Ergebnisses hat mich besonders die offensichtliche Bescheidenheit dieses revolutionären Kopfes sehr beeindruckt. Der Applaus schien ihm irgendwann regelrecht peinlich zu sein. Ein wahrer Diener an der Kunst, bei allem was an seinen Interpretation vielleicht zu diskutieren wäre.

  • Vor ein paar Tagen gehört:

    Für die Aufnahme der frühen Mozart Symphonien (3 CDs BMG/Deutsche Harmonia Mundi 82876 58706 2) spielten Nikolaus Harnoncourt und seine Enkel Maximilian und Layla am 7. und 8.11.2003 und am 13.4.2004 in St. Georgen Hörfassungen von Briefen Leopolds, Wolfgangs und Nannerls an Bekannte und Verwandte von 1762 bis 1772 ein. 15 Abschnitte geben auf der kompletten CD 3 einen Einblick in die Reiseerfahrungen: Erste Reisen (1762/63, bis zur ersten Italienreise hauptsächlich Leopold, dazu Nannerl mit der Aufzählung von Sehenswürdigkeiten), Reisen durch Deutschland (1763), Erste Reise nach Paris (1763/64), Reise nach London (1764/65), München (1766), Olmütz (1767), Wien (1767), Erster Brief Wolfgangs (um 1769), Erste Italienreise (1769/70, ab hier auch Wolfgang-Briefe), Mailand (1770), Erste Romreise (1770), Neapel (1770), Zweiter Romaufenthalt (1770), Mailand II (1770/71) und Mailand III (1771/72). Vor allem hören wir Berichte zum Reisealltag und zu den Strapazen und auch zu Erkrankungen von Leopold, auch seine Empfindungen und Eindrücke von Begegnungen, in Wien schließlich bereits von Intrigen der Neidgesellschaft. Wolfgang verblüfft alle, auch den Vater immer wieder, mit seinen unglaublichen musikalischen Fähigkeiten. Nannerl zählt brav alle möglichen Sehenswürdigkeiten der besuchten Städte auf. Wolfgang liefert lateinische und italienische Kostproben und schreibt mit viel Witz. Sensibel analysiert er die Sängerleistungen einer besuchten Opernvorstellung, wie ein professioneller Kritiker. In Mailand wird „Lucio Silla“ uraufgeführt. Die mit herzlichem Engagement gelesenen Briefauszüge geben ein lebendiges Bild der Reisen und des Umfelds, in dem sich die Mozart-Familie bewegt hat, von höchsten Kreisen bis zu Intriganten.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Ich bin erstaunt, dass es in diesem Thread so ruhig zugeht. Wenn ich sehe, dass Gergiev Seiten an Beiträgen füllt, kommt mir das im Vergleich schon unangemessen vor. Ich staune auch deshalb, weil ich erwarten würde, dass Harnoncourt viel mehr polarisiert. RalphB hat das in seinem Beitrag schon angesprochen.

    Mir geht es ähnlich, wobei ich ehrlich gesagt Schlamperei noch nie bemerkt habe. Für mich klingt manches zu gewollt. Das macht mich dann nervös.
    Zum Beispiel in der Rheinischen Symphonie. Da wird alles so furchtbar gesanglich, so rund, so exzessiv fein agogisch, dass es auf mich anstrengend wirkt. Dann das Violinkonzert von Schumann mit Kremer. Original-Tempi, also wahnsinnig langsam. Konsequent durchgehalten. So konsequent, dass zumindest ich das nicht durchstehe. Die Klavierkonzerte von Beethoven mit Aimard gehören für mich in dieselbe Kategorie.

    Dann aber solche Aufnahmen wie die Missa solemnis von Beethoven. Da bekomme selbst ich als wenig spiritueller Mensch eine Gänsehaut. Für mich eine perfekte Synthese aus geistiger
    Durchdringung, Andacht und Energie.

    Die Liste ließe sich positiv wie negativ fortsetzen. Für mich eine der interessanten Dirigenten-Persönlichkeiten unserer Zeit!

  • Ich bin ein klarer Befürworter der Art und Umsetzung von Werken durch Harnoncourt. Trotzdem sehe ich nicht seine Arbeit durch die Brille eines "Jüngers",sondern kritisch.

    Seinen Brahms kann ich folgen,auch sein Dvorak ist für mich nachvollziehbar,aber sein Smetana bei aller Substanz einfach zu extrem.Hier fliest die Musik nicht immer,es wird mir zu sehr buchstabiert und nicht vorwärts musiziert. Das mag an sich stimmig sein,aber entspricht mMn nicht dem Wesen der Musik (cih meine hier die Einspielung von Ma Vlast).

    Sein Beethoven ist sicher ein Meilenstein,sein Schubert für mich als Gesamtergebnis bemerkenswert,aber nicht immer stimmig. Schumann finde ich wiederum sehr gelungen, seine Haydn-Oratioren erstklassig umgesetzt. Sein Bruckner gefällt mir als rundes Gesamtergebnis,aber in einzelnen Punkten sind es nicht unbedingt meine Vorstellungen.

    VG,Maurice

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Mich hat Harnoncourt vom Anbeginn meines gesteigerten Interesses an klassischer Musik in der ersten Hälfte der 1980er Jahre begleitet.

    Seine Einspielung von Bachs Brandenburgischen Konzerten (in der Jubiläumseinspielung 1985 -von Decca, soweit mir erinnerlich- anläßlich des 300. Geburtstages von J.S.Bach) zogen mich sofort in ihren Bann: das war nicht der gewohnte füllige Barock-Wohlfühlklang, den ich immer mit Böhms Weihnachtsoratorium im Ohr hatte. Nein, hier wurde spritzig und transparent musiziert, das Blech v.a. aufgrund der HIP Instrumentierung für die Spieler ein einzigartiger fragiler Parforceritt!

    Dann die Einspielungen der Mozartsymphonien mit dem Concertgebouw Orkest Amsterdam (25., 40., 41.): das war -neben der hervorragenden Aufnahmetechnik- für mich die Neuentdeckung Mozarts, hintersinnig, kraftvoll, drängend.

    Schließlich lernte ich durch Harnoncourt und den Zufall einen meiner Lieblingskomponisten kennen: auf einem Flohmarkt erwarb ich die Aufnahme von Alice und Nikolaus Harnoncourt et.al.: Harmonia Artificiosa-Ariosa von H.I.F.v. Biber... diese Schallplatte hatte tatsächlich Suchtpotential.

    Musik bedeutet für ihn statt Beruhigung und Berieselung stets Anregung bis Erschütterung.

    Das, lieber AlexanderK, unterschreibe ich sofort - und als ein solcher Anreger und Erschütterer ist dieser Künstler mir lieb und wert.

    :juhu: :juhu: :juhu:

    Magus

    "Whenever we hear sounds, we are changed, we are no longer the same..." Karlheinz Stockhausen 1972

  • Dann die Einspielungen der Mozartsymphonien mit dem Concertgebouw Orkest Amsterdam (25., 40., 41.): das war -neben der hervorragenden Aufnahmetechnik- für mich die Neuentdeckung Mozarts, hintersinnig, kraftvoll, drängend.

    War bei mir auch so!

  • Dann die Einspielungen der Mozartsymphonien mit dem Concertgebouw Orkest Amsterdam (25., 40., 41.): das war -neben der hervorragenden Aufnahmetechnik- für mich die Neuentdeckung Mozarts, hintersinnig, kraftvoll, drängend.

    Fand ich auch großartig... Warum klingt das mit dem COE nicht so prall? So (wie mit dem Concertgebouw) hätte es für mich auch ruhig mit Beethoven weitergehen können...
    Okay, manchmal kam mir das Prinzip bei Harnoncourts Mozart auch etwas durchschaubar vor: der erste Satz immer etwas ruhiger als gewohnt, aber mit Tiefe und detaillierter Plastik, dafür das Finale immer schön rasant...
    einer meiner Favoriten aus der "Serie": die Nr.34 (KV338), die ich sowieso zu den reiferen Symphonien zählen würde...
    Was die Gesamtaufnahme der geistlichen Musik angeht, ärgert mich manchmal die nicht gerade vibratoarmen Solosopranstimmen, das klang mit den Sängerknaben für meinen Geschmack irgendwie "reiner" und klarer, aber ansonsten sind auch diese Messe-Aufnahmen ein Maßstab, hinter den man nicht mehr zurück kann. Als ich einfach mal spaßeshalber meine alte LP mit Karajan (Kröungsmesse) hören wollte, hats mich nur noch gegraust...

    In jedem Falle haben wir dem Mann schon eine unglaubliche Erfrischungskur zu verdanken, auch wenn inzwischen im HiP-Bereich die Varianten so zahlreich sind, daß Harnoncourt nicht mehr immer die erste Wahl sein kann. Bei Mozart-Symphonien bevorzuge ich z.Zt. Mackeras und das Scottish Chamber O.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Okay, manchmal kam mir das Prinzip bei Harnoncourts Mozart auch etwas durchschaubar vor: der erste Satz immer etwas ruhiger als gewohnt, aber mit Tiefe und detaillierter Plastik, dafür das Finale immer schön rasant...

    Aber nicht bei KV 550! Da ist es genau umgekehrt.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Aber nicht bei KV 550! Da ist es genau umgekehrt.

    Gut. Aber bei meinen Favoriten: Nr. 33, 34, 38 (wo ich den ersten satz tatsächlich etwas arg langsam finde...), 39 (wo es ganz gut passt für meinen Geschmack), 41...

    Das interessante beim Hören: der erste Eindruck des gemächlichen wird (meistens) schnell aufgewogen durch die plastischen Details und die dadurch freigesetzte Dramatik, so daß mir nach kurzer Zeit das Tempo garnicht mehr fehlt...

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Warum klingt das mit dem COE nicht so prall? So (wie mit dem Concertgebouw) hätte es für mich auch ruhig mit Beethoven weitergehen können...

    Wie geht es Dir mit seinem Brahms. Maurice findet ihn gut. Ich schon auch. Aber irgendwie hatte ich mir damals beim Kauf bei der Kombination (Berliner Philharmoniker/Harnoncourt) etwas Außergewöhnlicheres erwartet.

  • Wie geht es Dir mit seinem Brahms. Maurice findet ihn gut. Ich schon auch. Aber irgendwie hatte ich mir damals beim Kauf bei der Kombination (Berliner Philharmoniker/Harnoncourt) etwas Außergewöhnlicheres erwartet.

    geht mir auch so. Liegt vielleicht daran, daß man von Non-HiPpern schon ziemlich gute Interpretationen gewohnt ist, zumindest von den Symphonien und Konzerten. Das Requiem habe ich als ganz gut in Erinnerung mit Harnoncourt...
    Ich habe aber auch nur Aufnahmen mit den berliner oder Wiener Philharmonikern gehört. Auch Bruckners Siebte hat mir gefallen mit den Wienern, aber, wie gesagt, das sind Orchester, die schon länger ihren Brahms oder Bruckner gut drauf haben und wo es nur noch um Nuancen geht: da Revolutionen zu erwarten, ist vielleicht zu viel verlangt.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Zwei Fragen, die aber nur eingeschränkt mit Nikolaus Harnoncourt zu tun haben

    [Der folgende Beitrag wurde nach Absprache mit dem Verfasser hier angegliedert. :gurni: Gurnemanz]


    Hallo!

    Ich habe diesen Thread in das "Oper"-Brett gestellt, weil es mir nicht um Nikolaus Harnoncourt allein geht - das Thema betrifft andere Dirigenten genauso.

    Ich habe zwei Fragen:

    1)
    Meine einzige Harnoncourt-Aufnahme ist die des Freischütz, und in dem Booklet erklärt er, dass er sich die Faksimile der Oper genau angesehen hat. Er beschreibt da sehr plastisch, wie die Notenschrift bei ruhigeren Stellen sorgfältiger wird, während bei lauten, schnellen, heftigen Stellen, Tremoli etc., Webers Handschrift auch "erregter" wird.

    Was mich nun interessieren würde ist, WAS kann Harnoncourt daraus ableiten und für sein Dirigat verwenden? Und WIE verwendet er es? Sagt er sich "Hier schreibt Weber die Tremoli viel schlampiger als vorher, also müssen sie auch noch wilder und dichter gespielt werden", oder so in der Richtung? (Die Frage gilt natürlich für Dirigenten allgemein, die sich Faksimile ansehen, nicht nur für Harnoncourt!)

    2)
    Nimmt H. Opern ernster, als sie sind?

  • Die einzigen auffallend breiten Tempi bei Harnoncourts Mozart-Sinfonien finde ich die Kopfsätze von 38 und 41 und vielleicht noch das Finale von 40. (Allerdings vermute ich, dass man für alle Fälle andere Aufnahmen findet, die auch nicht schneller sind, aber besagte Tempi sind breiter als die Norm, während die Menuette und Andante-Sätze fast immer zügiger sind.)
    Wie in einem Beiheft oder einem seiner Bücher dargelegt, hat er bzgl. der beiden letzten Mozart eine "Theorie", dass bei der 40 der "Puls" zunehmend langsamer werden soll, bei der 41 umgekehrt. Ich finde das nicht besonders plausibel und entsprechend der Kopfsatz der Jupiter zu monumental und das Finale der g-moll könnte auch etwas zügiger sein.
    Ungeachtet der Tempi zeigen alle diese Concertgebouw-Aufnahmen, dass Harnoncourt auch frühere Mozart-Sinfonien als dramatische, "große" Werke ernst nimmt. (Ähnliches gilt für die frühen Schubert-Sinfonien). Sicher bleibt da einiges an Eleganz und Spritzigkeit auf der Strecke. Nun gibt es aber dutzendweise elegante Einspielungen von Mozart-Sinfonien und noch eine weitere wäre überlüssig gewesen...

    Mich wundert ein wenig, dass die Diskussion hier im Thread sich eber auch Musik ab Mozart konzentriert hat. Ich finde zwar die Beethoven-Sinfonien (+Missa, weniger die Konzerte) auch sehr gut, den Schubert hörenswert, aber insgesamt bedaure ich eher, dass er in den letzten 20 Jahren mehr Musik des 19. (und 20.) als des 17. und 18. Jhds. eingespielt hat.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Meine einzige Harnoncourt-Aufnahme ist die des Freischütz, und in dem Booklet erklärt er, dass er sich die Faksimile der Oper genau angesehen hat. Er beschreibt da sehr plastisch, wie die Notenschrift bei ruhigeren Stellen sorgfältiger wird, während bei lauten, schnellen, heftigen Stellen, Tremoli etc., Webers Handschrift auch "erregter" wird.

    Was mich nun interessieren würde ist, WAS kann Harnoncourt daraus ableiten und für sein Dirigat verwenden? Und WIE verwendet er es?

    Ganz einfach: Er kann wieder einmal im Booklet (oder sonstwo) betonen, was für ein toller Hecht er ist, und dass alle anderen im Grunde keine Ahnung haben. Sein Dirigat wird dadurch nicht besser, sein Marktwert hingegen schon.

    Christian

  • Ganz einfach: Er kann wieder einmal im Booklet (oder sonstwo) betonen, was für ein toller Hecht er ist, und dass alle anderen im Grunde keine Ahnung haben. Sein Dirigat wird dadurch nicht besser, sein Marktwert hingegen schon.

    Das Einzige, was ich nachvollziehen kann, ist, dass im Faksimile die Lautstärkebezeichnungen korrekt sind, während, wie H. meint, dieselben in gedruckten Partituren oft "angegleicht" sind, und damit nicht mehr korrekt.

    Aber was er aus der Handschrift herauslesen will, und wie er das in der Praxis verwendet - das verstehe ich nicht.

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