Nikolaus Harnoncourt - der Klangredner
Vorspiel (Capriccio Universum):
September und Oktober 2012, Recherche für den geplanten Capriccio Thread zu Nikolaus Harnoncourt, Lektüre Monika Mertls Biografie (Residenz Verlag), geplante Threaderöffnung dieser Tage…
Michael Haneke, „Liebe“, am 8.10.2012 in einem Münchner Kino gesehen. Habe vor ein paar Tagen genau das Harnoncourt Buch fertig gelesen, das Georg Anna aufs Bett legt. Es erschien in mehreren Auflagen, ich hab mich im September ganz bewusst für diese Erstauflage entschieden, mit genau dem Buchumschlag aus dem Film. Mir war´s, als wäre es mein Exemplar, das Georg holt und Anna aufs Bett legt. Wieso gerade dieses Buch, an diesem (Film und Capriccio) Tag?
Nikolaus Harnoncourt, geboren am 6.12.1929 in Berlin, entstammt altösterreichischer Hocharistokratie. Der Urgroßvater der Mutter war Erzherzog Johann. Aufgewachsen ist Harnoncourt in Graz, er hat zwei Schwestern und vier Brüder. Der Vater war ein Hobbymusiker, er mochte vor allem Lehár und Gershwin. Ein Onkel Harnoncourts wurde Direktor des Museum of Modern Art in New York. Harnoncourt musste im Zweiten Weltkrieg mit 15 Jahren als Bote der Feuerwehr Bombentreffer melden.
Die Familie zog an den Grundlsee, wo Paul Grümmer (ehemals Busch-Quartett) sein Cellolehrer wurde. Nikolaus Harnoncourt baute in dieser Zeit auch ein eigenes Marionettentheater auf und führte 1946/47 eine dramatisierte Fassung des „Faust Volksbuchs“ auf. Für eine berufliche Karriere erwies sich dieses Talent aber als nicht finanzierbar.
Im Herbst 1947 hörte der damals kranke Jugendliche Beethovens 7. Symphonie mit Wilhelm Furtwängler im Radio, wodurch er inspiriert wurde, endgültig den Weg eines Musikers einzuschlagen. 1948 begann er als Untermieter in Wien ein Cellostudium beim Wiener Philharmonischen Solocellisten Emanuel Brabec. Es ergaben sich erste Substitutsaufgaben und Kontakte zu Studienkollegen, auch das Interesse für Alte Musik wurde hier geweckt („alte Instrumente statt neue Schuhe“). Mit Alice Hoffelner, Alfred Altenburger und Eduard Melkus zusammen, als „Wiener Gamben-Quartett“, führte man 1950 mehrfach Bachs „Kunst der Fuge“ auf. 1949/50 wurde Nikolaus Harnoncourt erstmals als Substitut in der Wiener Staatsoper (damals im Theater an der Wien) eingesetzt, Karl Böhm dirigierte „Salome“. Josef Mertin, der an der Wiener Musikuniversität Alte Musik lehrte, spielte 1950 Bachs „Brandenburgische Konzerte“ ein, Harnoncourts erste Mitwirkung bei einer Schallplattenproduktion. Harnoncourt wirkte in dieser Zeit auch auf Tourneen mit dem Wiener Kammerorchester mit, Alfred Brendel war Solist bei Bach d-Moll Konzert.
1952 bestand Harnoncourt das von Herbert von Karajan überwachte Probespiel als Cellist bei den Wiener Symphonikern, wo er bis 1969 bleiben und alle Höhen und Tiefen eines Orchestermusikers erleben sollte incl. fürs Leben prägende Erfahrungen mit Dirigenten von Clemens Krauss bis Wolfgang Sawallisch.
1953 heiratete Nikolaus Harnoncourt Alice Hoffelner (die unter anderem in der Kindheit Klaviertrios mit Vater und Sohn Gulda musiziert hatte), fortan nicht nur Harnoncourts Ehefrau und bald Mutter von einer Tochter und drei Söhnen, sondern engste musikalische Mitarbeiterin, an der Geige genauso wie bei der Quellenforschung - und bei Alpenwanderungen (Biografin Monika Mertl: „Dulcinea und Sancho Pansa in Personalunion“).
Zu den Wegen der vier Harnoncourt-Kinder: Die Mezzosopranistin und Altistin Elisabeth (von Magnus) wirkt unter anderem bei vielen Konzerten und Aufnahmen des Vaters mit, Philipp führt mittlerweile gelegentlich Regie auch bei Produktionen die Nikolaus Harnoncourt musikalisch verantwortet, Franz ist Chirurg in Linz, und Eberhard, ebenfalls als Regisseur ambitioniert gewesen, kam – tragischer Kontrapunkt – 1990 bei einem unverschuldeten Autounfall ums Leben.
Das junge Ehepaar Harnoncourt und ein paar Freunde begannen, oft auf abenteuerliche Weise, alte Instrumente zu sammeln und das Spiel darauf vielfach neu zu erlernen, zunächst rein privat. Als Paul Hindemith im Jahr 1954 Monteverdis „L´Orfeo“ im Wiener Konzerthaus aufführte, wurden einige dieser Instrumente (und die dazu gehörigen Musiker) herangezogen. Nach jahrelanger Quellenforschung und Probenarbeit gab der soeben erst so benannte Concentus Musicus im Jahr 1957 im Palais Schwarzenberg in Wien sein erstes Konzert. Im Lauf der Zeit kam es zu Zyklen im Konzerthaus und schließlich im Musikverein, zu vielen Schallplatten- und CD-Aufnahmen und zu einigen Tourneen auch nach Übersee.
Bis 1987 leitete Harnoncourt den Concentus Musicus vom Cello aus. Nach und nach arbeitete sich das Ensemble durch die Musikgeschichte, Mittelalter, Renaissance, Barock, Haydn, Mozart und zuletzt eine „Walzer Revolution“ (mit Mozart, Lanner und Strauß Vater) und die Salzburger „Zauberflöte“ 2012 sind in Konzerten, bei szenischen Aufführungen und vielfach auf Tonträgern festgehalten. Für März 2013 ist Beethovens „Fidelio“ im Theater an der Wien in einer Inszenierung von Herbert Föttinger geplant. Der Concentus Musicus ist kein Repertoireensemble, es wird immer alles neu erarbeitet, und wenn ein Werk nach vielen Jahren wiederholt wird, fließen die seither gewonnenen Erkenntnisse ein.
1969 kündigte Harnoncourt seinen Orchesterposten, um sich ganz den eigenen Projekten widmen zu können. Er debütierte an der Piccolo Scala 1972 mit Monteverdis „Ulisse“ und erarbeitete Opern und Konzerte in der Folge in Frankfurt, Hamburg, San Francisco (1979), München, vor allem aber in Amsterdam, Berlin, Zürich, Wien, Salzburg und Graz („styriarte“, ab 1985). Dazu kamen Tourneen und Gastspiele. Somit ist Harnoncourt als Dirigent im Gegensatz zu vielen anderen, die von Anfang an eine Kapellmeisterlaufbahn betreiben, gewissermaßen ein „Quereinsteiger“ aus der Praxis eines Orchestermusikers heraus.
Intensive Zusammenarbeiten ergaben sich vor allem mit dem Concertgebouw Orkest Amsterdam und mit dem Chamber Orchestra of Europe, was Regisseure betrifft am häufigsten mit Jean-Pierre Ponnelle und mit Jürgen Flimm. Musikalisch reicht der Bogen letztendlich von mittelalterlicher Musik mit dem Concentus Musicus bis zu Bartok, Gershwin und Strawinski. Mittlerweile (2012) hat sich Nikolaus Harnoncourt aus Altersgründen von Verpflichtungen außerhalb Österreichs frei gemacht und konzentriert sein Wirken auf Salzburg, Graz und Wien.
Ab 1973 lehrte er zudem 20 Jahre lang Alte Musik am Mozarteum Salzburg.
Buchveröffentlichungen wie „Musik als Klangrede“ oder „Töne sind höhere Worte“ fassen Aufsätze für Schallplattenbeilagen, Vorträge und Gespräche sowie weiteres schriftlich Festgehaltenes zusammen und verdeutlichen Harnoncourts Positionen zu Musikepochen, Komponisten und einzelnen Werken. Von Monika Mertl liegen eine Biografie (1999, zwei aktualisierte Neuauflagen 2004 und 2009) sowie (zusammen mit dem Fagottisten Milan Turković) ein Buch über den Concentus Musicus vor, von Johanna Fürstauer und Anna Mika eine Art Operngeschichte, ausgehend von Harnoncourts Arbeit auf diesem Gebiet („Oper, sinnlich“).
Von Kindheit an war Nikolaus Harnoncourt ein eigensinniger Widerspruchsgeist. Musik bedeutet für ihn statt Beruhigung und Berieselung stets Anregung bis Erschütterung. Bei der Arbeit mit Orchestern ist ihm wichtig, alle von den Werken und von seiner Auffassung argumentativ zu überzeugen. Seine vielfach vertiefende, auf Erklärungen und außermusikalische Assoziationen bauende Probenarbeit stößt bisweilen auf Widerstand, weil sie jeder Routine widerspricht. Es gilt, Musik neu zu entdecken. Ziel ist nicht Perfektion, sondern das unmittelbare Erleben von Musik. Es wird versucht, Musik als von Menschen erzeugte „Klangrede“ dem Publikum näher zu bringen. Die Detailzeichnung, die Harnoncourt bevorzugt, ist nicht jedermanns Geschmack, sie hemmt oft bewusst den (vielfach gewohnten und einer Erwartungshaltung entsprechenden) Fluss der Musik zugunsten neuer Blicke auf einzelne Nuancen von Kompositionen, auf (tiefen)psychologische Konstellationen bei dramatischen Werken bzw. auf eine gewünschte emotionale Neuerweckung bei wohlbekannten, vielfach durch Routine abgeschliffenen Werken.
Hier seien zunächst nur einige wenige Aufnahmen aufgezählt, nahezu willkürlich ausgewählt:
Mit dem Concentus Musicus Musik vom Hofe Maximilians I., Musik vom Hofe Leopolds I., Musik von Biber (alle aus den Anfangszeiten des Ensembles), Bachs Matthäus-Passion, Händels Messias, Haydns Pariser Symphonien, Mozarts komplettes geistliches Werk und die zuletzt eingespielte „Walzer Revolution“.
Mit dem Concertgebouw Orkest Symphonien von Haydn und Schubert.
Mit dem Chamber Orchestra of Europe Beethoven, Mendelssohn-Bartholdy und Bartok.
Mit den Wiener Philharmonikern Bruckners Neunte mit Vorstellung der erhaltenen Teile des Finalsatzes, Smetanas Má vlast, die zwei Neujahrskonzerte 2001 und 2003 und das Deutsche Requiem von Brahms.
Mit den Berliner Philharmonikern Webers „Freischütz“ und die Brahms Symphonien.
Hier kann hinfort bei Bedarf speziell über Nikolaus Harnoncourts Aufnahmen und seine Sichtweise auf die Musik diskutiert werden.
Gute Unterhaltung dabei wünscht, herzlich grüßend,
AlexanderK