Sind Interpreten Sklaven?
Eine bekannte Anekdote (ob sie die Überzeugung eines bedeutenden Komponisten widerspiegelt oder nur einer Laune entspringt, weiß ich nicht) als Einstieg: Sein Klavierkonzert für die linke Hand hatte Maurice Ravel für den kriegsversehrten Pianisten Paul Wittgenstein komponiert. Dieser zog sich den Ärger des Komponisten zu, weil er eigenmächtig im Notentext nicht enthaltene Verzierungen einfügte. Er rechtfertigte sich damit, daß Interpreten keine Sklaven des Komponisten seien, doch dieser entgegnete barsch: "Interpreten sind Sklaven!"
Sind sie das? Man könnte sagen, ja, denn der Komponist hat sein Werk so oder so vorgegeben, seinen Willen in der Partitur kundgetan, und der Interpret hat als, etwas freundlicher als Ravel gesagt, Diener am Werk dieses dem Publikum weiterzugeben. Seine Rolle wäre im wesentlichen die des Transporteurs der Komposition oder sogar, falls bekannt, der Intentionen des Komponisten.
Ich gebe zu, manches daran ist mir sympathisch. Ich bewundere Interpreten, die mir Musik, die mich interessiert, in einer Weise nahebringen, wie sie mir stimmig und richtig erscheint. Dementsprechend rücken solche Interpreten in meinen Fokus, die das aufführen, was ich hören will; mein Weg geht im allgemeinen von der Komposition zur Interpretation, nicht umgekehrt. So besuche ich gern Aufführungen von Haydn-Symphonien, wenn Thomas Fey mit den Heidelberger Sinfonikern auftritt, und ich kaufe seine CDs, nicht weil ich Fey bewundere, sondern weil ich seine Haydn-Auffassung favorisiere. Jahrelang habe ich die künstlerische Aktivität der Heidelberger mehr oder weniger ignoriert (schade, denn ich habe dadurch viel verpaßt!), weil Haydn und anderes, was er im Repertoire hat, mich damals nicht näher interessierte.
Ein Gegenbeispiel: Ich habe vor einiger Zeit ein Konzert mit Grigory Sokolov erlebt, in dem er u. a. J. S. Bach spielte: Sein Spiel fand ich außerordentlich beeindruckend, obwohl seine Art, Bach zu interpretieren, mir im Grunde ferner liegt als beispielsweise die Glenn Goulds. Dessen Aufnahmen habe ich früher sogar dann gekauft, wenn er Werke einspielte, die mir eigentlich nicht so nahe sind (z. B. Klaviermusik von Sibelius und R. Strauss). Aber Glenn Gould faszinierte mich sehr!
Ein Interpret, dessen Aufnahmen ich heute noch gern erwerbe, auch wenn mich die Musik nicht so sehr anzieht (bzw. ich eigentlich genug Aufnahmen davon habe), ist Roger Norrington, dessen Art ich mag, was auch mit dem besonderen Humor zusammenhängt, den ich bei ihm immer wieder mal herauszuhören meine. (Vielleicht sollte ich mich auf Norringtons Berlioz-Aufnahmen mal einlassen?)
Eigentlich bin ich mit der Rolle des Interpreten als Diener am Werk (des Komponisten) gern einverstanden und auch damit, seine Kunst lediglich als eine nachschaffende zu begreifen, aber in der Realität verhalte ich mich teilweise anders, insgesamt inkonsequent und widersprüchlich. Oder liegen solche Inkonsequenzen und Widersprüche in der Sache selbst?
Deshalb: Ist die Provokation Ravels im Grunde berechtigt oder kommt dem Interpreten im Gegenteil eine bedeutendere Rolle zu? Ist auch das, was er schafft, ein "Werk", ebenso wie das, welches er aufführt oder einspielt? Inwieweit ist der Interpret autonom? Ist auch er "Schöpfer"? "Neuschöpfer"?
PS: Das Thema ist nicht neu. Angeschnitten wurde es - in zum Teil recht kontroverser Form - in der Diskussion über "Referenzaufnahmen" vor einem Jahr und zuletzt bei der Diskussion darüber, inwiefern aufnahmetechnische Manipulationen legitim sind.