Hans Werner Henze - der Ästhet der Neuen Musik
Der Weg des deutschen Komponisten Hans Werner Henze vom Bürgerschreck zum Ästheten mit neuromantischen Neigungen und Altmeister-Allüren scheint weit und ist dennoch kürzer als vermutet. Denn Henze gehört zu jenen Komponisten, die zwar vielleicht, um beim Bild zu bleiben, mitunter Irrwege beschritten haben, sich dabei selbst jedoch erstaunlich treu geblieben sind.
Biografisches
Das Biografische, mühelos als Buch und online nachzulesen, sei der Vollständigkeit halber stichwortartig dargestellt:
- Geboren am 1. Juli 1926 in Gütersloh.
- 1946 Kompositionsstudien bei Wolfgang Fortner, der Henze die Zwölftontechnik NICHT beibringt, weshalb er sie sich im Selbststudium aneignet.
- 1953 Übersiedelung nach Italien, zuerst Ischia, später Marino nahe Rom.
- Enge Freundschaft mit der österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann bis zu deren Tod, den Henze lange für einen Mord hält und (ergebnislose) private Untersuchungen dazu finanziert.
- Engagement für den Kommunismus, tritt der KPI bei.
- Gründer mehrerer Festivals mit dem Ziel, Musik auch an weniger gebildete Bevölkerungsschichten heranzutragen.
- Stirbt am 27. Oktober 2012 in Dresden, wo er sich anläßlich der Aufführung seiner Oper "We come to the river" aufgehalten hat.
Die Musik
Henze bewundert zwei Komponisten, die scheinbar denkbar weit voneinander entfernt sind: Den neoklassizistischen Strawinski und den zwölftönigen Schönberg. Im Gegensatz zur Nachkriegs-Webernmanie, versucht Henze die Synthese von Neoklassizismus und Zwölftontechnik. Und gilt, wie fast alle Komponisten seiner Generation, die etwas Neues versuchen, sehr bald als Bürgerschreck.
Tatsächlich ist sein Schaffen bis tief in die 1950er Jahre hinein uneinheitlich. Neben Sprödem wie dem "Concertino" für Klavier und Blasorchester mit Schlagzeug (1947) und dem Fünf Madrigale (1947) stehen Werke von großer Eleganz und, man kann ruhig sagen, strahlender Schönheit, etwa die Dritte Sinfonie (1950).
Der Umzug nach Italien bringt auch - kein Umdenken der Musik, aber eine Klärung zugunsten eines neu definierten schönen Klanges und einer neuen Sangbarkeit der melodischen Linien. Nun beginnt sich Henze auch Benjamin Britten zu begeistern, und man hört es seiner Musik an: "Kammermusik 1958" für Tenor, Gitarre und 8 Solo-Instrumente (von Brittens Lebensgefährten Peter Pears uraufgeführt), "Ariosi" für Sopran, Violine und Orchester (1963) sowie die drei Hauptwerke der 50er Jahre, die Opern "König Hirsch" (1953-56), "Elegy for Young Lovers" (1959-61) und das abendfüllende Ballett "Undine" (1956-57) zeugen davon.
Doch nun sitzt Henze zwischen zwei Stühlen: Seine, gewiss mit allen Freiheiten, aber doch, zwölftönig legitimierte Musik verstört ein Publikum, dessen Obergrenze, was Moderne betrifft, über Werner Egk nicht hinauswill; den delikat instrumentierten Schönklang wiederum, in den sich bisweilen auch süffige Kantilenen mischen, halten die Parteigänger der Avantgarde für einen Verrat. Für Pierre Boulez etwa ist Henze nur noch ein "gelackter Friseur".
Als sich dann 1964 mit der Oper "Der junge Lord" auch ein echter Breitenerfolg einstellt, geifert der avantgarde-hörige Musikjournalist Ulrich Dibelius von "Konventionalität unterm kompromißfördernden Mantel der Komischen Oper". Tatsächlich ist "Der junge Lord" ein erfrischender Gruß in Richtung Tonalität, und fast scheint es, als habe Henze die Partitur von Egks "Revisor" genau studiert, ehe er sich an die Arbeit am "Lord" machte.
1966 erfolgt dann die Uraufführung von "Die Bassariden" bei den Salzburger Festspielen - und schon der Untertitel "Opera seria" deutet darauf hin, daß Henze dieses Werk fest in der Tradition verankern will. Die Idee, symphonische Satzstrukturen in die Oper zu übernehmen, dürfte er bei Brittens "Billy Budd" ausgeliehen haben, und auch die Führung der Singstimmen (Henze komponiert das englische Original des Auden/Kallman-Librettos) gemahnt an dieses Werk, während der orchestrale Glanz bisweilen gar an Richard Strauss gemahnt.
In der Folge stellt Henze seine Musik dann in den Dienst seines links-politischen Engagements - und es ist sein einziger Irrweg. Nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus ästhetischen: Henze vergewaltigt sein Talent und versucht, eine gezielt antibürgerliche Musik zu schreiben. Bühnenwerke wie„El Cimarrón“ (1969/70), "Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer" (1970/71), "La Cubana oder Ein Leben für die Kunst" (1972/73) und, freilich auf wesentlich höherem Niveau, "We Come to the River" (1974–1976) oder die auf Cuba uraufgeführte Sechste Sinfonie (1969) behaupten eine Demokratisierung der Musik, indem sie aleatorische Elemente miteinbeziehen, wodurch, so die Überlegung, der Musiker zum gleichberechtigten Mitgestalter neben dem Komponisten wird, oder sie kopieren Paul-Dessau-Songs.
Am Beginn dieser Phase steht allerdings ein Meisterwerk: "Das Floß der Medusa" (1968). Doch leider hängt Henze an den humanistischen Appell ein Nachspiel an, in dem das Orchester Ho-Chi-Minh-Rufe skandiert, und irgendjemand (nicht Henze, aber mit seiner Billigung) bringt eine Rote Fahne über der Bühne an. Es beginnt eine Pressekampagne gegen das Werk, Musiker und Choristen fühlen sich zunehmend unwohl. Die Uraufführung geht im Skandal unter, muß abgebrochen werden und findet 1971 in Wien statt. 1990 revidiert Henze den Schluß zugunsten einer rein humanistischen Aussage.
Ein Ausnahmewerk ist auch "Tristan" (1973), eine Art Klavierkonzert, in das auch Tonbandklangmontagen miteinbezogen werden: Henzes erste intensive Auseinandersetzung mit dem lange gehaßten Wagner resultiert in einem Werk voll intensiver Leidenschaft, eruptive Klanggewalt und letzte Zärtlichkeit prägen ein Ausnahmewerk von einzigartiger Schönheit, das aus dem Kanon der politisch motivierten Werke herausfällt (und nur verbal wieder hineinargumentiert wird).
Mitte der 70er Jahre rückt Henze dann zwar nicht persönlich von seinem gesellschaftspolitischen Engagement ab, aber es scheint, daß er den öffentlichen Klassenkampf aufgibt und ihn als persönlichen Freiraum betrachtet. Einen bedingungslosen Frieden mit der Gesellschaft schließt er nicht, davon zeugen noch selbst späte Werke wie Sinfonia N. 9 (1995–1997), aber das absichtlich Rabaukenhafte fällt weg, die allzu heftig gestikulierende Anklage wird immer öfter zur Klage. Und es wird auch wieder eine Musik möglich, die keinen unmittelbaren politischen Kontext herbeizwingt, sondern sich wieder auf Henzes frühere Suche nach der klassischen Schönheit begibt, etwa in der grandiosen Siebenten Sinfonie (1983/84) und in der fast romantischen, an Shakespeares "Sommernachtstraum" angelehnten Achten Sinfonie (1992/93), die es wagt. sofern man diese Ausdrücke miteinander verbinden kann, ein bedeutendes Leichtgewicht zu sein, während "Requiem - neun geistliche Konzerte" für Klavier, Trompete und Kammerorchester (1992) für den an Aids verstorbenen Michael Vyner zu einer Musik werden, in der die Klage in auf eine Weise in Verklärung übergeht, daß man an dem von Henze dezidiert behaupteten nicht-religiösen Hintergrund zu zweifeln beginnt.
Doch nun stellt sich ein neues Problem ein: Hatte Henze schon immer schnell und viel komponiert, wird er nun nahezu zum Skribomanen. Kein anderer Komponist hat ein zahlenmäßig dermaßen reiches Alterswerk. Bei Henze scheint es, als seien alle Schleusen geöffnet. Er, mittlerweile längst nicht mehr hinterfragter Altmeister der deutschen Musik, schreibt Werk um Werk - und keineswegs alles in hoher Qualität. Die Handwerklichkeit übertrifft längst die Inspiration, und so herrlich eine Oper wie "L’Upupa und der Triumph der Sohnesliebe" (2000–2003) auch klingen mag: Verglichen mit früheren Werken wie "König Hirsch" oder "Die Bassariden" ist es nun nur noch die bewundernswerte Routine eines herausragend begabten Komponisten, der jetzt einen dichten Satz an die Stelle der früheren Klarheit treten läßt, dies (instinktiv) vielleicht auch, um den bisweilen deutlichen Mangel an Substanz durch ein Gestrüpp wuchernder Nebenstimmen zu verbergen.
Der Mensch
Im Grunde war Hans Werner Henze immer ein Ästhet, der Bildung und Schönheit über die Maßen schätzte. Trotz seines linken Engagements steht seine Lebensführung und wohl auch sein Auftreten dem Klischee englischer Aristokraten näher als jenem fanatischer Kommunisten. Dementsprechend brachten ihm sein schloßähnliches Anwesen, seine Bevorzugung von teuren Autos, Rassehunden und -katzen auch immer wieder Fragen ein, wie er seine Lebensführung mit seinem politischen Engagement in Übereinstimmung bringen könne. "Ein Kommunist im Rolls Royce ist besser als ein Faschist im Panzer", war eine von Henzes Antworten. Wobei seine durch ihn selbst öffentlichgemachte Homosexualität zweifellos einen großen Einfluß auf sein Engagement hatte. Immerhin meinte sein Vater, ein fanatischer Nationalsozialist, "sowas" wie sein Sohn gehöre in die Gaskammer. Henze fühlte sich also, seit ihm seine Veranlagung bewußt wurde, als Außenseiter, und versuchte, vielleicht zeitweise allzu aggressiv, sich seinen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen. Er machte das nicht nur durch seine musikalischen Werke, sondern auch durch bemerkenswert gut geschriebene Essays. Seine Autobiographie "Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen" (1926–1995/1991) wird allerdings zur larmoyanten Selbstvergötzung. Wesentlich interessanter lesen sich da schon die Werk-Tagebücher, mit denen er zentrale Werke seines Schaffens begleitete, etwa "Wie 'Die Englische Katze' entstand" (1997) oder "L’Upupa. Nachtstücke aus dem Morgenland. Autobiographische Mitteilungen" (Berlin 2003).
Die vielleicht bitterste Erfahrung in Henzes Leben war im April 2007 der Tod seines Lebensgefährten Fausto Moroni, mit dem er seit 1964 ohne jeglichen öffentlichen Skandal zusammenlebte. Henze selbst hatte zuvor einen Schwächeanfall erlitten; er soll Moronis Tod als eine Art Opfer für sein eigenes Leben gewertet haben. Was letzten Endes bedeuten würde, daß der menschlich immer ästhetisch auftretende, aber auch glatt und unverbindlich wirkende Hans Werner Henze alle Attitüde nur benützte, um sein fragiles Innenleben zu schützen.