"Der Satz endet tragisch" – Außermusikalische Kriterien beim Hören von Musik

  • "Der Satz endet tragisch" – Außermusikalische Kriterien beim Hören von Musik

    Für die Formulierung des Betreffs muss ich mir ein großes Lob aussprechen: Immerhin ist die politische Brisanz am Betreff nicht zu erkennen. Leider ist sie trotzdem vorhanden, daher lassen wir es besser mit dem Lob.

    Tatsächlich gibt es zwei Anlässe für diesen Thread:

    (1) Irgendeine Mahler-Sinfonie. Im Booklet heißt es: "Der Satz endet tragisch."
    Wie??? Hat sich die Katze meines Nachbars die linke Vorderpfote verstaucht? Der Kater kann schon mal nerven, aber eigentlich ist es ein netter Kerl. Er besucht mich öfter. Wenn ihm was zustoßen würde, ginge mir das durchaus nah. Aber der Autor des Mahler-CD-Booklets dachte wohl an etwas anderes. Nur: Wahrscheinlich gab's auch bei der Uraufführung der Sinfonie keine größeren Unglücke. Worin besteht also die Tragik? Hat Mahler "tragische" Akkorde verwendet? Durchlebte er eine "tragische" Zeit? Da kommen wir der Sache näher. Oder auch nicht. Ist es sinnvoll, die Biografie eines Komponisten mit seinen Werken zu verknüpfen? Hatte Mozart "Todesahnung" beim Komponieren des Requiems? Für mich ist das alles so spekulativ, dass ich es tendenziell eher ablehne.

    (2) Schostakowitsch. Oder Julius Weismann.
    Ist die Kenntnis der Lebensumstände des Komponisten hilfreich beim Verstehen ihrer Musik? Möglicherweise ja. Ich meine aber: Noch öfter wird man durch die Beachtung der außermusikalischen Aspekte eher in die Irre geführt.

    Hier soll jedenfalls nicht diskutiert werden, ob man sich aus moralischen/politischen/sozialen Gründen mit der Biografie eines Komponisten befassen sollte. Das kann man so oder so sehen. Man kann dazu auch einen eigenen Thread aufmachen. Hier soll es darum gehen:

    Hilft die Kenntnis der Biografie des Komponisten zum Verständnis seiner Werke?

    Jetzt kommt eine meiner berüchtigten Prozent-Angaben:

    In 20% aller Fälle: Das Biografie-Wissen hilft.
    In 50% aller Fälle: Das Biografie-Wissen hilft nicht, schadet aber auch nicht.
    In 30% aller Fälle: Das Biografie-Wissen schadet eher.


    Die zweite Fragestellung wäre:

    Kann man nur anhand der Musik (also ohne weitere Infos) eine Komposition mit außermusikalischen Vokabeln beschreiben?

    Ich meine: Nein.

    Abgesehen natürlich von Vogelgezwitscher und dergleichen. Ansonsten ist man immer auf zusätzliche Daten angewiesen: Libretto einer Oper, Satzbezeichnungen, schriftliche Äußerungen des Komponisten.

    Die Stoßrichtung dieses Beitrages ist also klar: Weg mit den außermusikalischen Kriterien!

    Man kann es aber auch anders sehen...


    Thomas

  • Zitat

    Die Stoßrichtung dieses Beitrages ist also klar: Weg mit den außermusikalischen Kriterien!

    Warum?

    Zitat

    Man kann es aber auch anders sehen...

    Sollte man, alles andere ist doof.

    Und das ist das einzige , was ich hier schreiben werde.
    Tschüss.

    P.S.

    Zitat

    Jetzt kommt eine meiner berüchtigten Prozent-Angaben:

    Ich würde diesen ....... nicht als berüchtigt, sondern als ........ bezeichen.

  • Ich werde hier eine meiner "berüchtigten" ( :mlol: :mlol: ) Zweizeiler vom Stapel lassen und dieses mal wirklich dem Cellisten folgen im Gegensatz zu einem anderen Faden, in welchem die Reihung in einer versuchsweise ironischen pn vertauscht wurde. Aus welchen Gründen auch immer.

    Ja, warum sollte man das außen vor lassen?

    In 95% der Fälle ist die abendländische Musik zwischen 1850 und 1870 beeinflusst von Stimmungen und der Disposition des Komponisten.
    In 95 % der Fälle hilft das Biographische für eine Analyse des Werkes kaum weiter.
    In 95 % der Fälle ist es also eigentlich sch***egal. Der Mann/die Frau sind tot. Shit happens.

    So, und jetzt kann hier ernsthaft weiter diskutiert werden - ich erhoffe mir gehaltvolle wikipedia Analysen des Autors und freue mich auf selbige in einem anderen thread.

    Entschuldigung, jetzt sind es also doch mehr als zwei Zeilen geworden. :hide:

    :wink:
    Wulf

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • Die Frage ist, was genau sind musikalische Kriterien?
    Na ja, das ist eigentlich schon klar, aber da landet man dann ganz leicht nur bei der Konstruktion und der Technik.
    Wie sinnvoll das ist, wird vielleicht deutlich, wenn man sich die gleiche Herangehensweise mal bei der Literatur vorstellt:
    Wie wäre es, wenn man z. B. ein Gedicht ausschließlich nach seinem Klang und Rhythmus beurteilt, nicht aber nach "außersprachlichen" Kritierien. Oder ein Theaterstück zusätzlich noch nach dramaturgischen Gesichtspunkten... aber nicht nach außersprachlichen Kriterien.
    Die künstlerische Qualität wird sicherlich hauptsächlich dadurch bestimmt, aber damit mich ein Sprachkunstwerk wirklich berührt, muss das doch auch der Inhalt tun, d. h. eigentlich der Bedeutungsgehalt der Sprache.
    Nun ist das bei der Musik natürlich etwas schwieriger, weil es auch in ihr so viele unterschiedliche "Sprachen" gibt, die man kennen muss, um irgend etwas an Inhalt zu verstehen. Wenn man aber darüber reden will, muss man notwendigerweise wieder die "Wörtersprache" benutzen, und die ist dafür eben ein bisschen unzulänglich, darum mag man zur Beschreibung auch auf Bilder zurückgreifen. Das ist natürlich alles subjektiv und spekulativ. Aber deswegen auf den Versuch verzichten? Nein. Ich fände das eigentlich ein bisschen feige.


    Wie im Morgenglanze
    Du rings mich anglühst...

  • Hilft die Kenntnis der Biografie des Komponisten zum Verständnis seiner Werke?


    Antwort von Radio Eriwan: Kommt drauf an.

    Beispiel: Wenn jemand meint, zwischen 1750 und 1770 sei keine bedeutende Musik entstanden, und wenn dieser Jemand aus der Biografie des Komponisten erfährt, dass der Komponist ein bestimmtes Werk zwischen 1750 und 1770 komponiert hat, dann weiß dieser Jemand gleich, dass das Werk nicht bedeutend sein kann.

    Folgerichtige Antwort: Ja, die Kenntnis der Biografie des Komponisten kann zum Verständnis seiner Werke beitragen.

    Kann man nur anhand der Musik (also ohne weitere Infos) eine Komposition mit außermusikalischen Vokabeln beschreiben


    Antwort: Ja. Zum Beispiel mit "unbedeutend".

    Gruß
    MB

    :wink:

    P. S.: Bitte verschieben in den "Blauen Salon" o. ä.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Hallo zusammen!

    Ob verschieben oder nicht ist egal,ich gebe noch schnell meinen Senf dazu.

    Es steht für mich völlig außer Frage ,selbstverständlich hilft die Biographie eines Künstlers (Vorausgesetzt sie ist gutgeschrieben) ,
    sein Werk besser zu verstehen .
    Mir persönlich ,und ich höre seit 40 Jahren Musik , haben schriftliche Zeugnisse immer geholfen die Werke besser zu verstehen.

    Bruckner ,Mahler, Wagner,Donizetti,Bellini ,Rossini.Händel ,Gluck usw.

    GuteNacht LG palestrina

    „ Die einzige Instanz, die ich für mich gelten lasse, ist das Urteil meiner Ohren. "
    Oolong

  • :wink:

    P. S.: Bitte verschieben in den "Blauen Salon" o. ä.

    Bitte dieser Bitte nicht nachkommen. Mauerblümchens Beitrag ist absolut ernsthaft und orientiert sich streng am thread-Thema.

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • Die Frage ist, was genau sind musikalische Kriterien?
    Na ja, das ist eigentlich schon klar, aber da landet man dann ganz leicht nur bei der Konstruktion und der Technik.
    Wie sinnvoll das ist, wird vielleicht deutlich, wenn man sich die gleiche Herangehensweise mal bei der Literatur vorstellt:
    Wie wäre es, wenn man z. B. ein Gedicht ausschließlich nach seinem Klang und Rhythmus beurteilt, nicht aber nach "außersprachlichen" Kritierien. Oder ein Theaterstück zusätzlich noch nach dramaturgischen Gesichtspunkten... aber nicht nach außersprachlichen Kriterien.
    Die künstlerische Qualität wird sicherlich hauptsächlich dadurch bestimmt, aber damit mich ein Sprachkunstwerk wirklich berührt, muss das doch auch der Inhalt tun, d. h. eigentlich der Bedeutungsgehalt der Sprache.
    Nun ist das bei der Musik natürlich etwas schwieriger, weil es auch in ihr so viele unterschiedliche "Sprachen" gibt, die man kennen muss, um irgend etwas an Inhalt zu verstehen. Wenn man aber darüber reden will, muss man notwendigerweise wieder die "Wörtersprache" benutzen, und die ist dafür eben ein bisschen unzulänglich, darum mag man zur Beschreibung auch auf Bilder zurückgreifen. Das ist natürlich alles subjektiv und spekulativ. Aber deswegen auf den Versuch verzichten? Nein. Ich fände das eigentlich ein bisschen feige.


    Damit wir uns nicht falsch verstehen: Selbstverständlich soll man das Werk auch per Assoziation erfassen. Die Wörter eines Gedichtes haben eine Bedeutung, oft sogar mehrere, das kann man alles berücksichtigen. Auch beim Theaterstück darf (bzw. soll) man alles erfassen, was man auf der Bühne sieht und hört.

    Auf die Musik übertragen: Sobald ein Text vorliegt (Lied, Arie, Chor etc.), kann ich diesen natürlich mit der Musik verknüpfen. Ohne Text sind z.B. Marschmusik oder Trauermusik oft erkennbar.

    Mit dem "Tragischen" ist es aber schon etwas schwieriger. Vielleicht erklärt mal jemand, woran man tragische Musik erkennt. Und selbst wenn: Man kann auch "tragische" Musik komponieren, wenn man guter Dinge ist. Und man kann "fröhliche" Musik komponieren, nachdem man einen Schicksalsschlag hinter sich hat. Die "Todesahnung" bei Mozarts Requiem konnte ich jedenfalls nie nachvollziehen. Und die Deutungen von Mahlers Sinfonien widersprechen sich leider des öfteren.

    Bei politischen Themen will ich nicht ausschließen, dass Verknüpfungen zwischen Politik und Kunst möglich sind. Nur: Nehmen wir an, Komponist X sei Judenhasser und komponiert eine neue Version des "Sommernachtstraums" explizit dazu, um Mendelssohn-Bartholdy zu "eliminieren". Hilft mir dieses Wissen wirklich?

    Oder nehmen wir Schostakowitsch. Ja, er dachte beim Komponieren an seine zukünftigen Hörer. Das dachten Bach, Beethoven, Wagner und Weismann auch. Wie groß der jeweilige Einfluss auf das Werk war, bleibt Spekulation. Jaja, gewisse "Experten" wissen es natürlich ganz genau. Stimmt leider nicht. Seriöse Untersuchungen sind zwar möglich. Aber da reden wir von Musikwissenschaftlern in ihrem Spezialgebiet.

    Es gibt Grenzen, klar. Sie sind individuell verschieden. In Israel hat man Probleme mit Wagner. Hier im Forum machte man bisweilen einen Unterschied, ob ein Verbrechen vor 200 oder vor 50 Jahren stattfand.

    Schostakowitsch. Da bin ich völlig unbelastet. Zunächst würde ich nur das kaufen, was gefällt. Womit man nichts falsch machen kann, man richtet sich als Anfänger einfach nach den Empfehlungen anderer. Dann steigt man immer tiefer ein. Betonung liegt auf "tief". Man kommt auf seriöse(!) Art zur Erkenntnis: Das Werk X ist reine Propagandamusik. Und wenn sie doch "gut" ist? Dann kann man sie immer noch ablehnen. Für sich persönlich. Letztendlich stehen die Noten nämlich für sich.

    Stimmt der letzte Satz? Teils - teils. Es kommt darauf an, wie weit man der Werkbegriff fasst. Wenn die Umstände seiner Entstehung dazu gehören, sind es nicht die Noten allein. Ich weise nur darauf hin, dass der Hörer in der Regel überfordert ist, wenn er zusätzlich zum Hören und Partiturlesen auch noch historische Studien machen soll.

    Wenn man aber nur das Werk an sich betrachtet, so ist es schlichtweg egal, zu welchem Zweck es komponiert wurde. Entweder es taugt was, oder es taugt nichts.


    Abschließend: Wie relevant sind diese Diskussionen eigentlich?

    - "Der Satz endet tragisch": Da lächle ich entspannt drüber hinweg.

    - "Weismanns Sommernachtstraum ist historisch belastet": Hat keinen Einfluss darauf, ob ich das anhöre oder nicht.

    - "Bei Schostakowitsch muss man dies und jenes beachten": Werde ich erst zur Kenntnis nehmen, nachdem ich mich ein paar Jahre lang mit seiner Musik und seiner Biografie beschäftigt habe. Und dann habe ich eine eigene Meinung.


    Wahrscheinlich habe ich jetzt schon alles gesagt. Hat sich damit der Thread gelohnt?


    Einen Punkt möchte ich noch erwähnen. Anlass ist in der Tat Schostakowitsch. Ich kenne nichts von ihm. Schostakowitsch-Threads sind somit prinzipiell interessant. Habe ich nun irgendwas zu seiner Musik erfahren, in den letzten 4 Wochen? Leider nein. Es gab Diskussionen, wer den nun der beste Sinfoniker sei (und wem er das ggf. zu verdanken habe), wie schlimm Stalin wirklich war, wie Schostakowitschs Verhalten zu bewerten sein. Hinsichtlich Schostakowitschs Musik war das Lesen dieser Beiträge aber reine Zeitverschwendung. Ich will mich nicht beschweren. Schließlich erfordert das Schreiben ca. 100 mal so viel Zeit wie das Lesen...


    Thomas


  • Ob verschieben oder nicht ist egal,ich gebe noch schnell meinen Senf dazu.


    Keine Angst, die ernsthaften Beiträge werden nicht verschoben. Der Rest bleibt wahrscheinlich auch, die Moderatoren haben nämlich Besseres zu tun.

    Zitat


    Es steht für mich völlig außer Frage ,selbstverständlich hilft die Biographie eines Künstlers (Vorausgesetzt sie ist gutgeschrieben) ,
    sein Werk besser zu verstehen .
    Mir persönlich ,und ich höre seit 40 Jahren Musik , haben schriftliche Zeugnisse immer geholfen die Werke besser zu verstehen.


    Wirklich "die Werke" besser verstehen?

    Ich habe eine Mozart- und mehrere Haydn-Biografien gelesen. Und mich mit der Entstehungsgeschichte diverser Opern auch von anderen Komponisten beschäftigt.

    Mein Fazit: Dadurch bekomme ich einen besseren Bezug zum Werk. Ich höre genauer hin. Es fällt mir leichter, mich beim Hören auf die Musik zu konzentrieren. Ich würde aber nicht sagen, dass ich die Musik an sich besser verstehe.

    Ein frühes Beispiel (meiner "Hör-Karriere") wäre Beethovens Eroica. Der Titel weckt ja schon Assoziationen. Dann der historische Hintergrund. Wobei schon wieder die Spekulationen anfangen. Egal, nehmen wir an, alle Infos zur Geschichte würden zu 100% stimmen: Mir hat die Sinfonie aufgrund ihrer Musik gefallen. Ich habe sie bis zum einem "gewissen Grad" verstanden. Wie gut ich sie seinerzeit verstand, lag aber ausschließlich daran, was ich vorher schon an Vergleichbarem gehört hatte, d.h. an meiner musikalischen Vorbildung.

    Insofern würde ich dir widersprechen. Wobei du indirekt auch Recht hast: Sobald das Interesse an der Person und ihrer Zeit geweckt ist, beschäftigt man sich auch näher mit der Musik...


    Thomas

  • Hilft die Kenntnis der Biografie des Komponisten zum Verständnis seiner Werke?


    Vielleicht könnte man darüber sinnvoll diskutieren, wenn Du uns sagst, was Du unter "Verständnis eines Werkes" verstehst. Zur Definition von "Werk" hat Knulp hier eine m. E. tragfähige Diskussionsgrundlage geboten.

    Was heißt das also: Ein Werk "verstehen"? Um Dich ein wenig anzustacheln sage ich bösartig: Ist das ein binärer Begriff (wie "schwanger": "ein bisschen schwanger" gibt es nicht), oder ist das ein graduelles Phänomen ("Ich habe dieses Werk bis gestern nur zu 16,73% verstanden, Heute sind es 21,27%.")? Wann würde man sagen, dass man ein Werk vollständig verstanden habe?

    Können zwei Interpreten ein Werk völlig gegensätzlich "verstehen" und trotzdem beide ein bereicherndes Hörerlebnis bieten?

    Kann man nur anhand der Musik (also ohne weitere Infos) eine Komposition mit außermusikalischen Vokabeln beschreiben?


    Also nochmals: Ja.
    Beispiele: Lang. Kurz. (Auch hier: präzisiere bitte Deine Frage.)

    Selbstverständlich soll man das Werk auch per Assoziation erfassen.


    Echt? Warum "soll"? Und wiederum bösartig gefragt: Wie geht denn das? Wie meinst Du das? Ich halte die Partitur in die Luft und versuche, spontane Assoziazionen kommen zu lassen? Muss ich mal probieren. Meinst Du mit "erfassen" eigentlich dasselbe wie "verstehen"?

    Vielleicht erklärt mal jemand, woran man tragische Musik erkennt.


    Beispielsweise am "passus duriusculus". Etwa im Schlussgesang der Dido in Purcells "Dido and Aeneas", im "Crucifixus" der h-moll-Messe von J. S. Bach oder am Schluss von Puccinis "Bohème" ("Coraggio ... " - "Mimi .... "), na ja, Letzterer ist im strengen Sinne kein passus duriusculus, aber der Gestus ist derselbe und das barocke Modell ist durchhörbar.

    Mahler hat über seine 6. Sinfonie "Tragische" geschrieben. Vermutlich nicht zum Spaß.

    Und selbst wenn: Man kann auch "tragische" Musik komponieren, wenn man guter Dinge ist. Und man kann "fröhliche" Musik komponieren, nachdem man einen Schicksalsschlag hinter sich hat.


    Auch das provoziert meine Lust an der Vorführung, und ich bin zu schwach, um zu widerstehen: Echt? Hast Du's mal probiert? Geht das wirklich? Wie ging es Dir dabei?

    Ohne Spaß: L. Bernstein hat das mal sehr deutlich beschrieben, ich glaube, am Beispiel von Tschaikowskys 6. Sinfonie. "Wenn ich Selbstmordgedanken hätte", so sagte er sinngemäß, "so würde ich mich nicht hinsetzen und eine Sinfonie schreiben. Wenn ich Selbstmordgedanken hätte, könnte ich vermutlich nicht einmal meinen Namen schreiben". - Vielleicht kann man sagen: Wenn Außermusikalisches in eine Komposition einfließt, so sind dies eventuell eher geronnene Erfahrungen aus früheren Zeiten und darum ein Stück weit unabhängig von aktuellen Gefühlszuständen. Womit Bernstein sicher recht hat, ist, dass niemand in emotionalen Extremsituationen ein komplexes musikalisches Werk schöpft. Das Ganze hat ja auch eine handwerkliche und eine intellektuelle Dimension, für die man dringend einen klaren Kopf braucht. Da gibt es die Aufgabe der Organisation des Werkes, welche Teile kommen in welcher Reihenfolge und mit welcher Ausdehnung, da gibt es das Problem der Instrumentation - wie kommen die Gedanken am besten zur Geltung, in welcher Lage setzt man welches Instrument ein und wie klingt es da, es kann die Aufgabe geben, die passende vierte Simme in einer Fuge zu erfinden, ...

    Erkenntnis: Das Werk X ist reine Propagandamusik. Und wenn sie doch "gut" ist?


    Das klingt so, als ob Du da einen Widerspruch drin siehst. Warum? Auch Propagandamusik kann gut sein, nämlich zumindest mal in ihrer Rolle als Propagandamusik. Die gesamte Kirchenmusik des Abendlandes könnte man bösartig als Propagandamusik bezeichnen (was ich nicht tue, aber man könnte dies).

    - "Der Satz endet tragisch": Da lächle ich entspannt drüber hinweg.


    Die Noten sind sicher nicht tragisch. Ein "D", ein "Fis", ein "B" wissen nichts von Tragik und Komik, Lachen und Weinen. Aber der Komponist weiß es. Er wurde sozialisiert mit bestimmten Chiffrierungen. Wir alle wissen, was ein "Dolch" ist und haben gelernt, dass man einen solchen eben üblicherweise nicht zum Kartoffeln schälen benutzt oder um "die Stadt von Taranteln zu befreien". Wir ordnen dem "Dolch" eine mörderische Absicht zu. Aber dafür kann der Dolch nichts, nicht der Stahl, nicht der Griff, nicht der kunstvolle Schliff. Der Dolch ist nur Instrument, er ist nicht der Wille und nicht die Absicht.

    Und so ist es mit dem d-moll am Beginn von Mozarts "Don Giovanni" (auch da gibt es übrigens einen passus duriusculus nach den ersten beiden Akkorden), so ist es mit dem A-Dur/a-moll-Siegel in Mahlers Sechster, so ist es aber auch mit Bachs dreistimmiger Invention in f-moll und ihrer Chromatik, so ist es mit dem Schluss von Tschaikowskys 6. Sinfonie. Wir erkennen, dass die Komponisten da keine lustigen Dinge verhandelt haben, weil die Komponisten Chiffren benutzen, die wir qua hinreichend ähnlicher Sozialisation verstehen.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Vielleicht liegen die Ursachen dieser Fragen tiefer, und sie sind teilweise falsch gestellt. Ich versuche es wie folgt zu erklären:

    Wenn eine Produktionsmaschine in der Industrie stillsteht, dann ist eine ausgefeilte ästhetische Theorie ebenso wenig hilfreich wie die Fähigkeit zur Komposition einer fehlerfreien Doppelfuge. Man würde den Kopf schütteln über jemanden, der vor dem dampfenden Blech ein Kapitel aus Riemann oder Adorno lesen würde, um der Ursache der Störung auf die Spur zu kommen.

    Warum aber meint man, dem Wesen der Musik mit den Methoden eines Technikers, eines Ingenieurs gerecht zu werden? Muss das nicht dieselbe unfreiwillig komische Wirkung haben?

    Viele Grüße
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Die Vermessung der Welt und ihre Einteilung in viele gleichförmige Planquadrate, in denen mal mehr und mal weniger los ist, was genau daran zu messen ist, wie oft die heute angeguckt werden, hat Vorteile, weil sie Übersicht generiert oder zumindest suggeriert.

    Wer aber glaubt, damit das Wesen der Welt erfassen zu können, der irrt ähnlich wie derjenige, der meint, einen Menschen nicht durch Ermessen, sondern durch Vermessen durchschauen zu können. Es gibt nun ein mal Dimensionen, wo das nicht funktioniert. Auf Wasser kann man auch nur in einem bestimmten Aggregatzustand Schlittschuh laufen, der das flüssige Wesen des Wassers allenfalls an den obersten ca. 10 % überwindet.

    Vielleicht kommt man dem Thema näher, indem man sich fragt, warum Menschen überhaupt Musik machen, wenn sich doch alles von ihr Auszudrückende auch in staistischen Schaubildern darstellen ließe, und warum auch musikalisch gebildete Menschen immer wieder außermusikalische Umschreibungen an das Wesen der Musik herantragen, wenn es doch die Möglichkeit gäbe, sie mit rein musikalischen Begriffen abzustecken. Ich bestreite, dass das nur deshalb geschieht, weil vielen Menschen das nötige Vokabular fehlt.

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Im Film "Der Club der toten Dichter" gibt es eine schöne (karikierende) Definition zur Bestimmung des "Wertes" eines Gedichtes. Dieser sei gegeben durch die Fläche eines Rechtecks, dessen Vorgaben für Länge und Breite ich aber nicht mehr zusammen bekomme. Eine Dimension war, so meine ich, die handwerkliche Bewältigung.

    Viele Grüße
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Womit Bernstein sicher recht hat, ist, dass niemand in emotionalen Extremsituationen ein komplexes musikalisches Werk schöpft. Das Ganze hat ja auch eine handwerkliche und eine intellektuelle Dimension, für die man dringend einen klaren Kopf braucht.

    Da würde ich Dir glatt widersprechen. Und zwar, weil eine "emotionale Extremsituation" den handwerklichen "klaren Kopf" garnicht ausschalten muß, jedenfalls nicht beim professionellen Künstler. Wenn emotionale Zustände das Ausdrucksbedürfnis anfeuern, was ja durchaus öfter mal der Fall ist, sollte es unbedingt so sein, daß der Kopf die Ausführung mit steuert, sonst kommt künstlerisch nix Vernünftiges bei raus. Soviel Profitum kann man auch bei echten Komponisten voraussetzen - das sind nämlich die, die sich nicht auf ihr Gefühl, ihre Eingebung etc allein verlassen und auch nicht darauf, daß es reicht, etwas "auszudrücken"! Das, was in der Poetik "Stoff" heißt, muß soweit bewältigt, geformt werden, daß im Prinzip am Ende das Werk keiner außermusikalischen Erläuterung bedarf. Natürlich kann es interessant sein, zu wissen, welche biographischen Details eine Rolle gespielt haben, aber das Werk als solches sollte auch ohne solche außermusikalischen Kenntnisse funktionieren, d.h. verständlich sein, nach musikalischer Logik Sinn machen.

    Finde ich.

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Und zwar, weil eine "emotionale Extremsituation" den handwerklichen "klaren Kopf" garnicht ausschalten muß, jedenfalls nicht beim professionellen Künstler.


    Naja, Bernstein nahm Bezug auf die gelegentlich zu hörende Meinung, Tschaikowsky hätte seine 6. Sinfonie in dem Moment geschrieben, als er sich mit Selbstmordgedanken trug.

    Und dazu sagte er, dass er in einem solchen Moment wohl kaum seinen eigenen Namen schreiben könne, geschweige denn eine Sinfonie.

    Das finde ich überzeugend. Professionalität hin oder her.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Naja, Bernstein nahm Bezug auf die gelegentlich zu hörende Meinung, Tschaikowsky hätte seine 6. Sinfonie in dem Moment geschrieben, als er sich mit Selbstmordgedanken trug.

    Und dazu sagte er, dass er in einem solchen Moment wohl kaum seinen eigenen Namen schreiben könne, geschweige denn eine Sinfonie.

    Das finde ich überzeugend. Professionalität hin oder her.

    Na ja, mir scheint das etwas komplizierter. Selbstmord"gedanken" sind ja etwas anderes als tatsächliche -absichten. Und ich behaupte einfach mal, daß die Möglichkeit, sich in einer Symphonie wie Tsch.´s 6. auszudrücken, den Druck soweit rausnimmt, daß dann aus dem Selbstmord doch nix wird. Vielleicht hätte jemand anders sich umgebracht? Tschaikoxsky hat statt dessen diese Symphonie geschrieben, bzw die 4. und 5. ja auch schon aus nicht soo viel fröhlicherer Stimmung heraus. Das grundsätzlich vampirische Verhältnis des Künstlers zur Gefühlswelt sollte man nicht ganz ausser Acht lassen...
    Ich will damit nicht sagen, Tsch. hätte nicht gelitten, z.B. unter der Unmöglichkeit, seine homosexuelle Liebesfähigkeit auszuleben. Aber darum gehts mir ja: der Künstler macht Leiden produktiv, hat ein Ventil, wird sich vermutlich eher nicht umbringen oder eher dann, wenn ihm seine künstlerische Tätigkeit auch noch in Zweifel gerät.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Selbstmord"gedanken" sind ja etwas anderes als tatsächliche -absichten.


    Ok, da habe ich aus Deiner Sicht zu unpräzise formuliert.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • In einem Musik-Lehrbuch aus den 60er Jahren habe ich diesen Satz gefunden, den ich zitieren möchte: "Wenn wir uns mit dem Leben und der Biografie eines Komponisten mehr beschäftigen, so wird uns seine Musik vertrauter, sie wird zu uns sprechen wie ein guter Freund."

    Ich fand diesen Satz immer ziemlich kitschig, weil ich mir Kompositionen immer losgelöst vom Leben eines Komponisten angehört habe ...

    andererseits, fand ich es doch irgendwie schön zu wissen, dass Humperdinck gerne in der Natur wanderte und ihm da auch manche Ideen zu seinem "Hänsel und Gretel" eingefallen sind.

    Leider kann ich nicht viel mehr zum Thema beitragen :(

  • Gerade nach Eccliticos letztem Beitrag scheint mir, daß wir ebendieses Thema bereits hatten (vor 2 Jahren, mit 130 Beiträgen): Musik verstehen: Ist biographisches Wissen wichtig oder entbehrlich?


    Ich hatte ja geschrieben, dass es zwei Aspekte gibt. Der eine ist tatsächlich schon abgehandelt worden. Der andere ist dem Titel zu entnehmen. Insbesondere wollte der Autor mit "Der Satz endet tragisch" nicht auf den Gemütszustand des Komponisten hinweisen. Er ging einfach davon aus, dass man "tragische" Musik erkennen könne.

    Man kann auch anders fragen: Ist es hilfreich, beim Hören (oder gar Analysieren) von Musik, außermusikalische Assoziationen anzubringen?

    Der Profi wird das wohl ablehnen. Er verfügt über das Vokabular, mit dem er alles hineichend genau beschreiben kann. Dem Amateur kann es aber helfen, wenn er ein Stück "plastisch" beschreibt. Er muss nur aufpassen, dass ein anderer Leser versteht, was er meint.

    Übrigens gibt es bei der Weinbeschreibung ähnliche Diskussionen. Die Experten (=Profis, keine Jounalisten) beschreiben den Wein mit dem entsprechenden Fachvokabular. Die Amateure (inkl. Journalisten) benutzen oft Bilder, die der Außenstehende gar nicht nachvollziehen kann. Selbst das Einfließenlassen der Winzerbiografie kommt vor...


    Thomas

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!