VERDI: Falstaff - Eine Wildkatze namens Orchester
Meine Besprechung der Aufnahme Abbados von Verdis FALSTAFF in dieser Diskographie: VERDI: Falstaff - Kommentierte Diskografie hat zu einem, wie ich finde, höchst interessanten Diskurs über die besonderen Qualitäten der Oper selbst geführt, die den Rahmen einer Diskographie sprengt und, wie ich finde, einen eigenen Thread wert ist. In der Hoffnung, dass Zwielicht damit einverstanden ist, leite ich ihn mit diesen beiden Zitaten aus der Diskographie ein:
ZitatRideamus:
Abbados Dirigat hat mir nämlich immer wieder vor Ohren geführt, wie modern der Orchestersatz Verdis in diesem Werk ist, mit dem er völlig neue Wege einschlug. Ausgerechnet er, dem man so lange (und nicht immer zu Unrecht) vorwarf, er behandele das Orchester nur wie eine riesige Gitarre. Hier aber erinnert mich das Orchester eher an eine quicklebendige Wildkatze, die mit zwei erschreckenden Sprüngen aus dem vermeintlichen Nichts vor ihrem "Opfer" (d. h. der Handlung und ihren singenden Protagonisten) auftaucht und es fortan keine Sekunde mehr aus den Augen lässt, sondern es immer wieder, mal kritisch es beäugend, mal beifällig seine Handlungen untermalend, mal klug die nächste Bewegung des Opfers vorausahnend, es aber auch mal weise kommentierend begleitet, und immer dann gefährlich dazwischen springt, wenn das "Opfer" versucht, in ausgeschwungene Kantilenen oder gar Arien auszuweichen um Zeit zu gewinnen.
Das Element dieser Wildkatze ist das Ensemble, und niemand beherrscht die Kunst italienischer Opernensembles so perfekt wie Abbado, der nicht von ungefähr die vorzüglichsten Aufnahmen der besten Werke von Verdis hochgeschätztem Ahnherrn Rossini eingespielt hat, den Verdis FALSTAFF würdigend reflektiert, aber auch kompromisslos fortschreibt.
Für mich hat Verdi mit dem FALSTAFF ein ganz eigenes Tor zur neuen Musik geöffnet, durch das ihm leider kaum jemand folgen wollte - oder konnte. Es ist natürlich ein ganz anderes, als später Strauss oder Schönberg durchschritten, denn Verdi verlässt kaum jemals den Boden der Tonalität, aber es kommt nicht von ungefähr, dass die Kritiker, die seit der Uraufführung des Werkes von seiner Orchesterbehandlung entzückt sind, diese eher mit den Errungenschaften eines Strawinsky als mit denen seiner Vorgänger oder Zeitgenossen verglichen haben.
ZitatAlles anzeigenZwielicht:
Die Orchestrierung des Falstaff ist auch für mich eine der Großtaten der Operngeschichte überhaupt. Die "Riesengitarre" hatte Verdi ja schon längst überwunden, Aida (Nil-Akt!) und Otello sind orchestral sehr innovative Partituren (und schon in Macbeth, Rigoletto oder La traviata gibt es in der Hinsicht vieles zu bewundern). Aber Falstaff ist etwas völlig Neues: diese ungewöhnlichen Klangkombinationen, das Aussparen von Füllstimmen, der über weite Teile kammermusikalische Satz. Und das blitzschnelle Umschalten von einem Klangcharakter aud den anderen.
Das Verhältnis des Orchesters zu den Singstimmen hast Du, wie ich finde, sehr schön beschrieben: unberechenbar, aber ohne "allwissend" zu sein wie bei Wagner. Und es "stützt" niemals bloß, "kommentiert" aber auch nicht aufdringlich. Der Falstaff-Monolog über die Ehre in I 1 ist schon ein Wunder: über weite Teile bloßes Deklamieren der Singstimme, nur ganz sparsam gesetzter Orchesteranteil - und doch von enormer Dichte und Prägnanz.
Es gibt schon tolle Ensembles in dieser Oper, am liebsten ist mir das Gegeneinander von Männerquintett und Frauenquartett in I 2 (das oft allerdings, weil nicht präzise genug abgestimmt, wie akustische Störgeräusche klingen kann). Die fulminantesten Passagen finden sich für mich aber nicht in den größer besetzten Schlusszenen, sondern in den vorausgehenden, rein solistisch besetzten ersten Szenen der drei Akte.
Komische Oper hat ja schon immer "ernste" Oper benutzt, aber hier finde ich es besonders zündend: schon das dürre, fast skelettierte Blechbläsergeschmetter zum Schwur des Dr. Cajus ist eine wunderbare Parodie großer pathetischer Schwurszenen. Oder wenn sich Ford in II 1 - hier an der Grenze zur Tragödie - mit dem Hornmotiv aus dem Philippsmonolog des Don Carlo konfrontiert sieht. Hinreißend auch die kleinen Verweise auf Alte Musik: z.B. das zweistimmige "Antiphon" Bardolfos und Pistolas, deren "Amen!" ironisch die Ausführungen des großen Meisters bestätigt. Oder die Koloratur, die Falstaff ausgerechnet auf dem Wort "Madrigal" in II 1 vollführt.
Ein wenig Fortsetzung hat Falstaff in der Musikgeschichte doch schon gefunden: ganz unmittelbar in den Dialogszenen der Bohemiens in Puccinis La bohème am Anfang des ersten Aktes, etwas vergröbert vielleicht, aber immer noch sehr gut. Auch in Gianni Schicchi natürlich. Und, das scheint mir evident, im Vorspiel zur Ariadne auf Naxos von Strauss. Und auch wenn Strawinsky den mittleren Verdi mehr schätzte: die Orchestereinleitung zu III 1 könnte glatt von ihm sein.
Mein Ziel bei diesem Thread ist es, zu einer Sammlung von Informationen über und Beispielen für die Besonderheit dieser Oper zu gelangen, an der sich hoffentlich auch andere beteiligen werden, während die Diskographie den Besprechungen der Bild- und Tonaufnahmen vorbehalten bleiben soll, von denen es ja erfreulich viele gute gibt.
Ich finde jedenfalls, dass Verdi mit seinem letzten Werk etwas ganz Besonderes geleistet hat, das nicht weniger als das Aufstoßen eines Tors zur Neuen Musik bedeutet, durch das Verdi leider nicht mehr viele folgen wollten oder konnten. Zwielichts Beispiele für die wenigen Ausnahmen, belegen dies eher, als dass sie dem widersprechen. Ich frage mich, warum das wohl der Fall war.
Fehlte seinen Nachfolgern ein genialer Librettist wie Boito, der geahnt hat, auf welchem Gebiet Verdi sich noch weiter entwickeln wollte und ihm eine brillante Vorlage dafür geliefert hat? Für mich ist der FALSTAFF nämlich eines der ganz wenigen Werke, in denen die Musik die (Über-)Erfüllung aller Versprechen des Textes bringt, ohne den sie andererseits nicht denkbar wäre. Das haben nicht einmal die meisten Komponisten geschafft, die ihre Texte selbst schrieben. Manche, weil sie sich zu omnipotent gerierten, wie Wagner, manche vielleicht auch nur, weil sie gar nicht daran interessiert waren, die Oper vom Orchester her zu denken.
Man merkt jedenfalls, dass es keine leeren Worte waren, wenn Verdi immer wieder versicherte, diese Komposition ohne jede Verpflichtung gegenüber Dritten, seien es Sänger oder Theater, anzufertigen, und dass er sich auch nicht mehr besonders darum bekümmern musste, wie das Publikum sein Werk aufnehmen würde. Tatsächlich ist seine handwerklich brillanteste Oper nicht seine populärste geworden. In einem anderen Forum landete sie bei einer Umfrage nach den Vorlieben unter Verdis Opern im Mittelfeld, und selbst das nur dank einiger engagierter Fürsprecherm, die ihr Höchstnoten verliehen.
Ich denke also, es macht Sinn, gerade im bevorstehenden Jubiläumsjahr Verdis, sich einmal damit zu beschöäftigen, was die besondere Qualität seiner letzten und für mich besten Oper ausmacht, und zwar anhand konkreter Beispiele, die man zum Glück leicht auf YouTube nachvollziehen kann, auch wenn man noch keine Gesamtaufnahme der Oper hat. Wer mal hineinhören un d sehen will, kann das z. B. hier tun:
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Vielleicht können wir uns ja auf eine dieser Versionen als Referenz einigen.
In diesem Sinne hoffe ich auf eine fruchtbare Gemeinschaftsarbeit
Rideamus