Lebendiger, innovativer Jazz - ein Auslaufmodell? Oder neue Blüte risikoreicher Jazzformen an allen Ecken und Enden?

  • Lebendiger, innovativer Jazz - ein Auslaufmodell? Oder neue Blüte risikoreicher Jazzformen an allen Ecken und Enden?

    "Jazz is not dead, but it smells not very funny" - so der bekannte, viel zitierte Frank Zappa-Spruch vor einem halben Jahrhundert. Er hat Frank Zappa nicht daran gehindert, sich immer wieder bei dem durchaus lebendigen Jazz seiner Zeit zu bedienen und aus der lebendigen Jazz-Szene einen guten Teil seiner Musiker zu rekrutieren.

    Dass der Jazz totgesagt wird, ist nichts Neues. So auch jüngst wieder der Tenor in einigen Artikeln in der SZ und der Zeit? Aber gibt es wirklich keinen oder weniger risikoreichen, neugierig neue Formen ausprobierenden Jazz mehr oder findet er nur, besonders in Deutschland, nicht mehr in in den etablierten Medien statt? Dass neue Entwicklungen von der etablierten Jazzkritik, falls es so etwas in Deutschland überhaupt noch gibt, verschlafen werden oder von alt gewordenen Kritikern und Hörern entweder ignoriert oder abgeleht werden, ist ja auch nichts Neues. Ignoranz und eine "Jazzpolizei", die alles, was nicht mehr ihren Projektionen von "ehrlichem" Jazz entspricht, - das ist doch kein Jazz mehr? - ablehnt, ergänzen sich, scheints, nur zu gut.

    Ist alles im Jazz schon ausprobiert worden? Ist Jazz museal geworden? Scheuen die Jazzer heute allesamt das Risiko? Schielen Jazzer heute gar nach - igitt - kommerziellem Erfolg? - Kommt guter, oder gar "ehrlicher", "authentischer" Jazz nur aus der Armut und dem Drogensumpf? Was ist eigentlich "ehrlicher" Jazz? Ist Jazz als Kunstmusik von heute überwiegend studierten Akademikern langweilig, tot oder "verkopft"? Stirbt das Jazzpublikum aus? Oder, will es nur noch Pop-Jazz-Stimmchen hören? Wie überlebt Jazz in einer Welt nahezu restloser Kommerzialisierung? Kann Jazz gar noch subversiv sein? Blüht gar lebendiger, innovativer Jazz, der kein Risiko scheut, heute an allen Ecken und Enden der Welt, so wie schon seit Jahren nicht mehr? Stehen wir vielleicht gar vor einer neuen Blüte höchst lebendiger Jazz-Szene-Landschaften wie zuletzt zu Zeiten des "New Thing" der späten 50er oder der "Fire Music" um '68?

    :wink: Matthias

  • ich zitiere mich mal jurz selbst aus dem Mehldau-thread:

    Das Thema ist interessant, sollte vielleicht mal ausdiskutiert werden.

    Sieht mir verdächtig puristisch aus, so als ob Jazz nur dann Jazz ist, wenn der Musiker mindestens aus einem Hotelfenster gesprungen ist oder sich das Gebiss kaputt gespielt hat oder keinen Auftritt ohne Drogen hinbekommen hat und auf keinen Fall wirklich von der Musik leben konnte.

    Anders gesagt: das grenzt mir zuviel gute Musik aus.

    Viele Grüße
    Achim :wink:

    Gerade fällt mir zu diesem "ehrlichen Jazz" der gute alte Regietheaterthread ein, wo es einen Versuch über "Werktreue" gab, bei dem es dann wohl auch blieb.
    "Ehrlicher" Jazz ist ein mE kaum fassbarer Begriff, der mE eher das Gefühl wiedergeben soll, früher sei alles besser gewesen.

    Jazz lebt - und zwar in allen Facetten und zwar auch in den für viele unerträglichen populären Ausformungen.
    Muss man ja nicht hören.

    Während ich das schreibe, läuft parallel auf meinem Ipod die neue Till Brönner.
    Ich, der ich Anfang der 70er unter anderem mit CTI-Scheiben begonnen habe, finde hier vieles davon wieder.
    Glattes, allzu glattes Replikat ? Man zu, ich läute damit zufrieden den Feierabend ein.


    viele Grüße
    Achim

  • Das sind jetzt eine Menge Fragen im Eingangsposting. Die kann man nur Stück für Stück abarbeiten. Aber beginnen möchte ich mit der Aussage

    Zitat

    Ignoranz und eine "Jazzpolizei", die alles, was nicht mehr ihren Projektionen von "ehrlichem" Jazz entspricht, - das ist doch kein Jazz mehr? - ablehnt, ergänzen sich, scheints, nur zu gut.

    die anknüpft an Carstens gegen mich gerichtete Bemerkung im Brad Mehldau-Thread

    Ich bin lange genug selbst aktiv, um zu wissen, dass man um die selbsterklärte "Jazz-Polizei" durchaus einen Bogen machen darf. ;+)


    Die Verwendung des Begriffs "Polizei" für Jazzliebhaber, die den Jazz frei von kommerziell motivierten Umarmungsversuchen anderer Musikrichtungen halten möchten, empfinde ich als anmaßend. Wer "Doo Bop" oder die Zusammenarbeit von Miles mit Scritti Politti seinerzeit nicht bejubelt hat, ist also für diejenigen, die sich auf solche Experimente eingelassen haben, ein Bedenkenträger, der sein Weltbild zur Not auch mit Schlagstock und Wasserwerfereinsatz durchsetzt, oder wie soll ich das verstehen? Dann frage ich mal andersherum: wo sind denn all die Leute, die damals Niels-Petter Molvaers "Khmer"-Album gehört haben und in die damaligen Konzerte geströmt sind, sofern da nur irgendwelche "samples", "effects" und "ambient treatments" zum Trompetenklang hinzugefügt wurden, heute? Gehen die immer noch in Jazzkonzerte? Nein, tun sie natürlich nicht. Diese Leute folgen Moden. Das ist nun mal so in der Popwelt. Irgendjemand beschließt, dass etwas gerade Mode ist, und schon folgt die kritiklose Masse der unzähligen Radiohörer dem gerade "Angesagten". Bevölkern plötzlich die Konzerte. Um genauso schnell wieder zu verschwinden. Weil dann nämlich plötzlich wieder was anderes gerade "angesagt" ist. Und wenn der Jazz anfängt, sich diesen Leuten anzubiedern, dann geht diese spezielle Kultur baden.

    Warum gibt es denn nicht einen einzigen vernünftigen Jazz-Rundfunksender im norddeutschen Raum (andere Regionen Deutschlands kann ich nicht beurteilen)? Craig Handy wollte es mir gar nicht glauben, als er mich im Hamburger "Birdland" fragte, ob die Hamburger Jazz-Sender seine Musik spielen, und ich ihm antworteten musste: "Jazzsender gibt es hier nicht. Der einzige, den es mal gab, ist eingegangen". Weil nämlich bei jedem Jazzsender mit Ella Fitzgerald, Oscar Peterson und Keith Jarrett angefangen wird, aber dann ist die Quote angeblich mies (als ob 1 % aller Rundfunkhörer mit guter Musik zu erreichen nicht eine tolle Leistung ist), woraufhin man nur noch "Smooth Jazz" dudelt, bis auch das irgendwann irgendwelchen Leuten zu wenig Quote bringt und man dann einfach beschließt, Shakira sei ja auch irgendwie Jazz, nur die "Jazzpolizei" behaupte Gegenteiliges. Und schon hat man wieder einen reinen Popsender. Die "echten" Jazzfans hören den natürlich ohnehin schon seit langem nicht mehr. Die wollen Take Five hören, nicht Take That.

    Es ist hier im Forum vielleicht bekannt, dass ich nicht nur Jazz höre, sondern auch Klassik, Metal und durchaus auch guten Rock. Ich will hier also keineswegs gegen andere Musikrichtungen als Jazz polemisieren. Nur mag ich einen Mischmasch zwischen den Richtungen einfach nicht. Metallica mit Sinfonieorchester: fürchterlich. "The Royal Philharmonic Orchestra plays the Greatest Hits of Phil Collins": Fahrstuhlmusik. Was hingegen funktioniert hat, ist die Phil Collins Big Band. Weil Phil Collins nämlich ein begnadeter Schlagzeuger ist, der Buddy Rich glühend bewundert. Und im Stile von Buddy Richs Big Band hat er dieses Projekt mit James Carter und vielen anderen Jazz-Hochkarätern auf die Beine gestellt, dabei keinen Ton singend, sondern nur Schlagzeug spielend. Er hat also eine lupenreine Jazz-CD gemacht

    Rockmusiker, die über eine fundierte Ausbildung verfügen, können also durchaus Jazz spielen. Genauso wie ein Chick Corea es bewerkstelligt, gemeinsam mit Bobby McFerrin wie auch mit Nikolaus Harnoncourt und Friedrich Gulda passable Mozart-Aufführungen zu gestalten. Aber es würde für mich der Spaß dann aufhören, wenn Mozart plötzlich mit samples und grooves oder was weiß ich unterlegt werden würde. Dann wäre ich wieder ein Mitglied der "Klassik-Polizei". Ein Chick Corea macht so etwas natürlich nicht. Aber ein David Garrett macht so etwas. Und füllt damit zwei Abende hintereinander die O2 World in Hamburg. Ich prophezeie aber jetzt schon, dass ihn in 5 bis 8 Jahren kein Mensch mehr hören will. Und seine CDs kann man dann gebraucht im Marketplace für einen Cent kaufen. So wie man heute die Vanessa Mae-Alben der 90er Jahre gebraucht im Marketplace für einen Cent kaufen kann. Wahrscheinlich wird in 5 Jahren irgendjemand mit einer pinkfarbenen Geige auf die Bühne gestellt, der ein eigene Parfüm-Linie bewirbt und dem erstaunten Millionenpublikum verkündet, es habe mal einen Komponisten namens Schumann gegeben, der hat eine "Träumerei" komponiert, und die wolle er jetzt mal so ein bisschen "modern" interpretieren, nämlich im Duo mit seinem iPad.

    Bin ich eigentlich wirklich so allein mit meiner Meinung, dass sich eine geniale Musik wie der Jazz nicht solchen Marktgesetzen unterwerfen darf?

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • die anknüpft an Carstens gegen mich gerichtete Bemerkung im Brad Mehldau-Thread

    Bitte was? Da hast du aber was in den falschen Hals gekriegt. :prost:

    Der Begriff "Jazzpolizei" ist ein unter Musikern seit ewigen Zeiten üblicher Begriff. "Polizisten" gibt's gar unter ihnen selbst, sogar ziemlich viele.

    :wink:

    „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert.“ (Element of Crime)

  • Bitte was? Da hast du aber was in den falschen Hals gekriegt. :prost:

    Tatsächlich? Falls ich Dich falsch verstanden habe, tut es mir leid. :prost:

    Mir ist der Begriff "jazz police" natürlich auch geläufig. Rachel Z machte mal in den 90er Jahren in einem Konzert in der Hamburger "Fabrik" eine (in meinen Augen ziemlich idiotische) Rap-Einlage, wofür sie Applaus bekam. Sie sagte daraufhin: "In the United States you couldn't do that. You would be arrested by the jazz police". Da hörte ich dieses Wort das erste Mal. Und fand es - wie auch heute - daneben.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • :wink:

    Schneller Einwurf, weil wirklich wenig Zeit: Brönner und Marsalis in einem Atemzug zu nennem ist wirklich komplett daneben. Das dumme Vorurteil der Seelenlosigkeit bei Wynton Marsalis (ich vermute mal Branford war nicht gemeint), wird nicht besser, wenn es oft genug wiederholt wird.

    Zum Thema: Ich denke, Jazz ist immer noch so lebendig und interessant wie immer, man sieht es nicht mehr so offensichtlich, weil es auch so viel anderes gibt. Man darf es nur nicht mit den Jahren 1925-55 vergleichen als Jazz die wesentliche Musikrichtung überhaupt war. Der Stellenwert hat sich mit Rock und Pop verändert, zudem gab es natürlich Einflüsse aus diesen Feldern. Da ist für jeden Geschmack etwas dabei. Wir hatten schon mal einen ähnlichen Fred über das Revival des Jazzgesangs von Frauen: da ist vieles eher ein Mix aus Pop und Jazz und eher durchschnittlich begabte Musikerinnen wurden hochgeschrieben. So what? ;+) Es gibt noch viel Gutes, übrigens gerade relativ junge Leute aus Deutschland. Den Rest kann man liegen lassen.

    Gruß, Frank

    Gruß, Frank

    Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.

  • Zitat

    Zitat von »Doc Stänker«
    In der SZ (oder war es die FAZ?) schrieb letzte Woche jemand davon, dass nun auch der Jazz so gespielt würde wie die Klassik bereits seit langem und die Rockmusik seit einigenJahren.
    Musiker spielen Jazznummern auf Nummer sicher.
    Technisch perfekt, aber eben in dieser Perfektion auch leblos und in der Interpretation stilitisch bestenfalls einheitlich kopierend wenn nicht chamäleonhaft von Stück zu Stück die Kopie wechselnd.

    Lieber Doc,

    kann es sein, dass du vom Jazz nur aus der etablierten Medienlandschaft etwas mitbekommst?

    Da findet der risokoreichere Jazz aber, bis auf ganz wenige Radiosendungen, etwa von U.Drechsler im RBB Kultur, überhaupt nicht mehr statt. Die selben Autoren, die eine höchst lebendige, innovative und risikoreiche Szene, in Deutschland vor allem in Berlin und Köln, die sich auch personell in den letzten Jahren massiv verjüngt und verbreitet hat, total ignorieren, und allenfalls noch über ein paar alte Größen und Pop-Jazz berichten, erklären dort, wie jüngst wieder in einigen Artikeln in der SZ, den Jazz für tot. Kommt ihnen aber mal aus Versehen etwas Anspruchsvolleres, wo an sperrigere Traditionen angeknüpft und nach neuen Wegen gesucht wird, in den Player, dann kommen die gleichen Heinze und Kulturblondinen mit dem schlimmsten Bannspruch, den ihre kommerzialisierte Welt der neoliberalen Infantilgesellschaft kennt: "Verkopft"! Oft die gleichen sind aber auch schnell mit dem Kommerzialisierungsvorwurf bei der Hand und mit dem Aufwärmen von Klischees über den Jazz. Wenigstens der Jazz soll "unkommerziell" bleiben, als ginge das in einer Warenwelt! Guter Jazz ssei doch schon immer aus der Armut gekommen. Nun, für die relative Armut der meisten JazzmusikerInnen ist - auch mit durch ihr zutun - gesorgt. Ist ja auch praktisch: Wieso etwas gegen die Armutsrisiken von Jazzmusikern tun, wenn guter, "ehrlicher" Jazz aus der Armut kommt. Dabei kanm Jazz nie vom Baumwollfeld, sondern war schon in seinen Anfängen zumeist die Ausdrucksweise von Kindern der schmalen städtischen, afro-amerikanischen Mittelschichten, vom Schlafwagenschaffner oder Kleinunternehmer bis zum Arzt oder Rechtsanwalt.

    Als vor einigen Monaten schon ein Artikel in der SZ den lebendigen Jazz für tot erklärte, geschrieben von einem Autor, der bislang niemandem durch Jazzberichterstattung aufgefallen war, bekam er eine saftige Antwort in Form eines offenen brifes einiger der talentiertesten jungen Jazzmusiker aus Berlin, darunter Saxophonist Philip Gropper, Schlagzeuger Christian Lillinger, Posaunist Johannes Lauer. Warst du schon mal auf einem ihrer Konzerte? Kennst du CDs von ihnen? Die stehen nämlich nur als besonders herausragende Beispiele für eine höchstlebendige Szene in Berlin und Köln, die alles andere als risikofreien Museums-Jazz spielen. Diese, in den letzten Jahren enorm verjüngte Szene ist immerhin so attraktiv, dass sie aus allen Herren Ländern immer mehr grandiose improvisierende MusikerInnen nach Berlin lockt, sich immer weiter verbreitet, inzwischen hier auch das Jazzpublikum deutlich verjüngt und verbreitet hat, international erhebliches Aufsehen erregt, so dass ich z.B. keine Probleme habe, Berichte über die Berliner Jazzszene im Ausland loszuwerden - nur bei deutschen Medien geht gar nichts - , Jazztouristen anlockt, obwohl es keinerlei offizielle oder in den etablierten Medien erscheinende Werbung für sie gibt und die so spannend ist, wie ich es seit 30 Jahren noch nicht erlebt habe. Kennst du irgendetwas z.B. von den MusikerInnen, die ich in meinen regelmäßigen Jazzkonzerttipps hier empfehle?

    Philip, Christian und Johannes haben in ihrem, auch in der SZ erschienenen offenen Brief ganz Ähnliches geschrieben. Es gibt eine höchst lebendige, verjüngte und sehr innovative, an die sperrigeren Jazztraditionen anknüpfende und dabei sehr innovativ Neues auslotende Szene. Und wo die heute noch viele Aufführungsmöglichkeiten findet, wie in Berlin, verjüngt und verbreitet sie sogar wieder das Jazzpublikum, denn hier gibt es offenbar wieder genug junge Leute, die genug haben, vom Popeinerlei oder die von den sperrigeren Rock-Subgenres zum Jazz finden, die aber kein Museumsjazz anlockt, sondern die risikofreudigen jazz, den es hier genug gibt, hören möchten. Steht Berlin so alleine in der Welt? Keinesfalls, dazu später noch mehr, aber hier gibt es noch,wer weiß, wie lange, denn die Mieten steigen auch hier rapide, billige Mieten, relativ günstige Lebenshaltungskosten, relativ viele Auftrittsmöglichkeiten, wenn auch zumeist bei sehr niedrigen Gagen, aber auch relative viele Zuverdienstmöglichkeiten in der Lehre an verschiedenen Bildungseinrichtungen oder mit Privatunterricht.

    Zitat

    Musiker spielen Jazznummern auf Nummer sicher.
    Technisch perfekt, aber eben in dieser Perfektion auch leblos und in der Interpretation stilitisch bestenfalls einheitlich kopierend wenn nicht chamäleonhaft von Stück zu Stück die Kopie wechselnd.

    Ich könnte hier jeden Abend in ein Jazz-Konzert gehen und hätte noch die Qual der Wahl, an dem das garantiert nicht der Fall ist.

    Zitat

    Siehe Brönner oder Marsalis. Technisch perfekt aber irgendwie ohne eigene Persönlichkeit.

    Hm, so ganz trifft das doch nicht mal auf Wynton Marsalis zu, schon gar nicht auf seinen Bruder Branford, der dieses Jahr eine seiner besten Aufnahmen gemacht hat. Nun bin ich auch alles andere als ein Freund von Till Brönner, aber selbst der ist nicht nur nach seinen CDs zu beurteilen. Brönner hat im letzten Jahr auch einige Duo-Konzerte mit dem Altmeister des DDR-Free-Jazz Günther Baby Sommer gegeben - voll frei improvisiert, volles Risiko. Beurteile jazzmusiker nie nur von ihren CDs! Lebendiger Jazz ist nach wie vor in erster Linie Live-Musik! Brönner hat auch mit dem spannenden jungen Pablo Held Trio aus Köln diesen Sommer eine ganze Woche im Berliner A-Trane gespielt. Beim letzten Konzert, in dem ich letzten Monat dieses Trio wieder erleben konnte, stellte Pablo Held ihr Auftrittskonzept vor, nämlich dass sie schon seit Jahren kein Programm mehr für Auftritte machen. Irgendeiner des Trios spielt ein komponiertes Thema an oder geht zu einem nächsten fließend in der Kollektivimprovisation über und so haben sie auch vorher keine Ahnung, wie das Konzert werden wird und es wird immer sehr unterschiedlich. Sie spielen übrigens viel mit vertrakten Rhythmen, in Messiaen-Modi und viel polytonal. Oder manchmal als Piano-Quartett mit zwei Kontrabässen oder erweitert, mit jungen französischen Musikern, wie mit der fantastischen Jazzfagottistin Sophie Lombardo. Besser als mit Brönner, haben mir aber noch Konzerte dieses Trios mit Johannes Lauer oder den großartigen jungen Saxophonisten Sascha Slawin, immerhin sogar Jazzpreisträger und mitlerweile auch international sogar erfolgreich, ganz ohne Mainstream-Jazz zu spielen, oder Henrik Walsdorff, auch aktiv mit im Duo und in einem auch sonst jung und erstklassig besetzten neuen Quartett Alexander von Schlippenbachs, der doch nun wirklich seit Mitte der 60er für immer wieder auf neue Weise experimentellen und freien Jazz steht, gefallen.

    Zitat

    Ok, das geht mit den "Duke Ellington Sound alike Big Bands" schon lange so, die spielen ja die Arrangements des Meisters 1:1 nach und auch die sog. Improvisationen stehen brav in Noten notiert.

    Also ich habe sicherlich mehr als ein gutes Dutzend Duke-Ellington-Tribute-CDs von modernen Big Bands aus den letzten 10 Jahren, die ganz ander sind. Klar, gibt's das auch, was du beschreibst, aber das ist auch keine neue oder zunehmende Entwicklung. Vielmehr gibt es auch jede Menge mehr oder weniger experimentelle, jedenfalls originell arrangierte und viel improvisierende Big Bands. Und ein Paar der alten Experimental-Big-Bands, wie das Amsterdamer ICP- Orchestra, das London Improvisers Orchestra, Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra oder das von Barry Guy sind ja auch noch aktiv und sich nach wie vor nicht selbst kopierend. Oder hör mal in neuere Big Band- Cds rein, wie z. B. denen des besagten Johannes Lauer, "Lauer Large" oder seine neuste, erschienen beim Berliner Label Jazzwerstatt, einem von vielen unabhängigen Jazz-Labels heute, trotz schwieriger Zeiten für CD-Produktionen, bei dem du keine einzige risikolose Produktion finden wirst.

  • Zitat

    Technisch perfekt aber irgendwie ohne eigene Persönlichkeit. Und Jazzliebhaber sollten sich schon langsam einmal daran gewöhnen, dass das zukünftig immer mehr wird.

    Sieht es nur in Berlin und Köln so ganz anders aus?

    Mir ein Eindruck sieht ganz anders aus. Sicherlich, die Probleme, sich wagemutigen Jazz zu spielen, auch materiell leisten zu können, sind alles andere als weniger geworden. Auch darüber sollten wir in diesem Thread diskutieren. Aber kennst du z.B. den Trompeter Rob Mazurek, die Saxophonistin Matana Roberts, den Schlagzeuger Chad Taylor,, den Vibraphonisten Jason Adasiewisz, die Saxophonisten Ken Vandermark, Mars Williams, Rob Brown aus Chicago, die Saxophonistin Ingrid Laubrock, die Gitarristin Mary Halvorson, die israelische Poasaunistin Reut Regev, die Trompeter Taylor Ho Bynum und Peter Evans, die Saxophonisten Rudresh Mahanthappa, Hafez Modirzadeh, Tony Malaby, Assif Tsahar, die PianistInnen Angelica Sanchez, Vijay Iyer, Chris Davis, die SchlagzeugerInnen Susan Ibarra, Igal Foni, Tyshon Sorrey aus New York? Alles hoch innovative und experimentelle, Risiken nicht scheuende KünsterInnen, von denen es auch viele erstklassige CDs gibt. Nebenbei bemerkt, viele Frauen, viele Asien-Amerikaner. Und ich könnte ewig so weiter machen und zur Bay Arrea, etwa zur Bassistin Lisa Mezzacappa oder zum Jazz-Oboisten und Neue-Musik-Komponisten Kyle Bruckmann, gehen, oder zur spannenden Szene in Seattle oder Vancouver oder sogar nach Dallas oder Denver oder Austin, Texas. Oder weiter nach Buenos Aires oder Sao Paulo, heute hoch-lebendigen Metropolen gerade des experimentellen Jazz, z. B. zur Saxophonistin Ada Rave in Buenos Aires, deren letzte CD, wie die von Ingrid Laubrock und Matana Roberts in meiner Liste der besten Jazz-Cds des Jahres 2011 nicht fehlen dürfte, oder nach nach Portugal, mit einer der spannensten Szenen derzeit, z.B. mit dem Trompeter Alicio C. Neto oder dem Red Trio und dem derzeit wohl wichtigsten internationalen Label für innovativen Jazz, Clean Feed, oder nach Katalonien mit dem Pianisten Agusti Fernandez oder nach Frankreich mit Z.B. der Pianistin Eve Risser, deren neuste Scheibe wohl eine meiner besten Jazz-Cds des Jahres 2012 wird, oder nach Polen mit einer unglaublich großen, verjüngten und spannenden Experimetalszene oder nach Dänemark, mit z.B. der Saxophonistin Lotte Anker und dem Copenhagen Art Orchestra oder in alle anderen skandinavischen Länder, nicht zuletzt Norwegen, das weitaus mehr zu bieten hat, als nur ECM-Jazz, bzw dein "Esotherik Jazz", z.B. sogar so etwas wie international erfolgreiche Super-Groups des Experimental-Jazz wie Atomic und The Thing, z,B. die neuste Solo-Scheibe des Gitarristen Stian Westerhus, dessen völlig frei improvisierte E-Gitarre ohne Overdubs wie ein ganzes Orchester klingt, dass irgendeine spektralistische Komposition spielt, nur viel sperriger, als die Werke vieler etablierter spektralistischer Neue.Musik-Komponisten. Oder wir können uns auch nach Beirut bewegen. Die libanesische Improv-Saxophonistin Christine Senaoui Abdelkader schafft es sogar immer noch, ganz neue Spieltechniken auf ihrem Instrument zu entwickeln, nach dem ,was alles schon von John Coltrane, dem immer noch hoch innovativ aktiven Evan Parker usw. da war. Oder weiter nach Israel. Oder weiter nach Tokio. Oder weiter nun auch nach Seoul, wo inzwischen eine ähnliche Entwicklung stattgefunden hat, wie in der zweiten Hälfte der 60er in Europa und Japan und nun eine eigene, sehr spannende und originelle Szene aufgeblüht ist. Oder nach China, wo sie gerade am Entstehen ist. Die Südkoreaner haben übrigens inwischen die Japaner mit den meisten Jazz-CD-Käufen pro Kopf abgelöst und Tourneen in China werden für Jazzer nicht nur des Mainstreams zur wichtigen Einnahmequelle, nachdem in Europa immer mehr Festivals gerade des innovativeren Jazz der Geldhahn von Sponsoren und aus öffentlichen Mitteln abgedreht wird. By the way, die wichtigste Einnahmequelle für viele experimentellere Jazzmusiker, besonders aus den USA, waren bislang die vielen italienischen Festivals.

    Ich habe jetzt hier nur mal einige wenige von vielen genannt, die alle relativ jung sind und besonders originellen und einfallsreichen Jazz spielen. Aber viele der nun großen Alten wie z.B. Evan Parker, Wadada Leo Smith, Alexander von Schlippenbach, Aki Takase, Toshinori Kondo, Peter Brötzmann sind ja auch noch nach wie vor aktiv und lassen sich auch immer wieder auch Neues einfallen.

    Diese Szenen sind heute besser vernetzt, transatlantisch, wie transpazifisch, denn je. Bestimmte innovationsgünstige Jazzbiotope lassen sich kaum noch regional festmachen, eher als bestimmte Netzwerke bestimmter Musiker, z. B. in der Achse Chicago-Oslo-Stockholm-Milano-Wuppertal-Berlin-Tokio der Kreise z.B. um Peter Brötzmann, Ken Vandermark, Mats Gustafsson, Seiji Hani, Masahiko Satoh, Massimo Pupillo oder New York-Krakau-Tel Aviv-Tokio der Netze um John Zorn oder auch Paris-Strassbourg-Kopenhagen-Berlin-Seoul einiger jüngerer zentraler Innovatoren dieser Szenen.

    Eine weitere, bedeutsame Entwicklung ist die Entstehung von Jazz-Kollektiven zur musikereigenen gemeinsamen Vermarktung und Veranstaltungsorganisation von sperrigen Jazzformen z.B. in Berlin, Köln, Milano, Venedig, Amsterdam, London, Bristol, Amsterdam, Lyon, Oslo, Stockholm, Lissabon, Porto, Riga, Moskau, Ljubeljana. Auch hier ist man untereinander gut vernetzt, organisiert gemeinsame Konzertreisen und unterstützt sich beim Vertrieb eigener Independent-Label.

    Ich könnte das noch endlos fortsetzen. Ein spannendes Konzert heute habe ich nun verpasst. Gestern erlebte ich live vor ca. 150 Leuten an einem gut gefüllten Ort, an dem sonst Rock-Gruppen auftreten, den in Berlin lebenden Kontabassisten Clayton Thomas, Teil einer ganzen wachsenden Gruppe von australischen Jazz- und Improv-MusikerInnen in Berlin, der am präparierten Kontrabass auch noch neue Spieltechniken draufhatte im völlig frei improvisierten Duo mit dem Schlagzeuger Chris Corsano aus den USA, dann, als Hauptgruppe, Peter Brötzmanns Trio Full Blast mit dem Wahnsinnsschlagzeuger Michael Wertmüller, den ich auch für einen der interessantesten Komponisten der Neuen Musik zur Zeit halte, und Marino Pliakas am E-Bass, der den verrücktesten Krach erzeugte und zusammen der Energie (und der Lautstärke) von gutem Death Metal.

    Zitat

    Dieses mal Meinung eines Menschen, der immer weniger Jazz hört, weil er dort so wenig Neues findet

    Wohl eher, weil du aus welchen Gründen auch immer aufgehört hast, Neues mitzubekommen und zu suchen, dabei ist es doch heute in vieler Hinsicht einfacher, als früher.
    Dann stell aber auch keine Behautungen über etwas auf, von dem du keine Ahnung hast oder kennst du viele der von mir genannten MusikerInnen?

    Ich schlage vor, du besorgst dir mal irgendwelche beliebigen CDs von Clean Feed, dem wohl derzeit wichtigsten Label für experimentelleren Creative Jazz und Free Jazz, oder von CIMP oder Pi Records aus New York oder Not Two aus Polen oder No Business Records aus Litauen, oder Jazzwerkstatt aus Berlin oder Ayler Records aus Schweden oder ILK aus Kopenhagen oder Rune Records aus Norwegen :D . Nicht alles ist gleichermaßen gelungen, aber Risikoloses kannst du bei allen diesen Labels, die alle international sind, also nicht nur die Musik von Jazzern aus ihrem eigenen Land verbreiten, garantiert kaum antreffen.

    :wink: Matthias

  • Lieber Matthias,

    erst einmal: :juhu: :juhu:

    Sehr, sehr interessant und Hoffnung machend, was du da insbesondere über die Berliner Szene schreibst. Ich muss vorweg sagen: In etwa ein Drittel der Musiker und Musikerinnen, die du nennst, kenne ich, d.h auch deren Musik. Ein Drittel sagt mir dem Namen nach was und das letzte Drittel ist mir bislang nicht bekannt. So viel zu meiner Diskussionsgrundlage. ;+)

    Ich habe dich hier im Laufe der Zeit als jemanden kennen gelernt, der sich insbesondere für den Jazz begeistert, den du z.B. "Creative" nennst. Möglicherweise gibt auch bereits dein verstecktes "risikoreich" im Thread-Titel einen entsprechenden Hinweis? Mit schlichtem Gemüte gesprochen reden wir hier also von dem, was viele gemeinhin als "Free Jazz" bezeichnen, oder? Diese Frage nur mal zur Klärung vorab, bevor ich jetzt per Youtube mal einigen der von dir Erwähnten nachgehen werde....

    :wink:

    „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert.“ (Element of Crime)

  • Lieber Carsten,
    Ha, ha, Du bist gut....... Deine Fragen können doch nur rhetorisch gemeint sein :D
    Vermutlich willst Dumit dieser Klarstellung nur erreichen, dass der thread exklusiv bleibt ;+)

    Wenn ich das hier alles so lese, hätte ich mal wieder richtig Bock auf einen bierigen Diskussionsabend zum Thema.

    Viele Grüße
    Achim

  • Es gibt übrigens auch ganz gegenläufige Entwicklungen zur deutschen, in der Jazz und insbesondere risikoreicherer Jazz in der etablierten Medienlandschaft kaum noch vorkommt und öffentliche Unterstützung rar und eher noch immer geringer wird.

    Da braucht man nur mal zu unseren Nachbarländern Polen und Dänemark schauen - oder nach Norwegen. Jazz hat dort ein relativ breites und ziemlich junges Publikum zurückerobert. Pink Freud in Polen, The Thing in Norwegen haben fast Pop-Star-Status und die machen alles andere als gepflegten Mainstream. Ich habe schon vor Jahren sehr kenntnisreiche polnische Bauarbeiter auf Berliner experimentelleren Jazz-Konzerten getroffen. Öffentliche Förderung des Jazz wird als in vieler Hinsicht lohnend betrachtet, z. B. unterstützen die Botschaften dieser Länder oder auch Tschechien massiv Auftritte von gerade auch jungen Jazzmusikerinnen auch der experimentelleren Szenen aus ihren Ländern im Ausland.

    - Okay, "Goethe-Reisen" ist auch für viele deutsche JazzmusikerInnen eine nicht ganz unwichtige Einkommensquelle. Aber Publicity wird nicht darum gemacht. Weder bei uns, noch im Ausland für Jazz aus Deutschland.

    Ebenso wichtig wie mehr und vorurteilslosere Publicity wäre vor allem die Förderung von Spielstätten, die immer teurer zu betreiben werden. Jazz ist zuerst Live-Musik. Was nützt es, wenn jedes Jahr inzwischen hunderte gut ausgebildete Jazzmusiker, die dort längst auch nicht nur zum Diplom-Bebober ausgebildet werden, von denen sehr viele heute ernsthaft und neugierig risikoreichen Jazz spielen, als wäre der Versuch, ein Jazzerleben zu starten, nicht in jedem Fall schon risikoreich genug, wenn es für die viele gute und spannende Jazz-Musik, die es in Deutschland gibt, immer weniger Auftrittsmöglichkeiten gibt und die meisten Menschen gar nicht mehr die Chance bekommen, spannenden Jazz kennenzulernen, stattdessen entweder gar nichts oder nur Vorurteile wie anspruchsvoller Jazz sei zu ernst und "verkopft" in etablierten Medien und Schulen mitbekommen. So nahm ich vor einiger Zeit z.B. eine Freundin mit großer Italophilie zu einem Jazzkonzert von drei italienischen Gruppen mit. Jazz sei zu intellektuell, nur was für Ultraeggheads und Nerds, überhaupt zu ernst und humorlos war sie überzeugt. Und ob es auch garantiert um Gottes Willen kein furchtbarer Free Jazz werde. Und was hat ihr schließlich am Besten gefallen? Die freiste Gruppe mit der komplexesten Musik an diesem Abend, die wirklich frei spielten, was ich erwartet, aber ihr vorher verschwiegen hatte. Deren Musik hätte ja so viel Humor und Witz gehabt, Poesie und besonders viel mitreissende Energie! "Sag mir mal wieder für so etwas Bescheid!"

    :wink: Matthias

  • Mit schlichtem Gemüte gesprochen reden wir hier also von dem, was viele gemeinhin als "Free Jazz" bezeichnen

    Nein, die Bezeichnung "Ceative Jazz" wurde zunächst vorübergehend von US-Musikern schon der 60er, die nicht nur free spielten, sondern auch an komplexeren, elaborierteren komponierten Strukturen arbeiten wollten, dabei aber die Errungenschaften und erweiterten Spieltechniken des Free Jazz aber auch weitertradieren wollten und komplexere vorstrukturierte Strukturen mit instant Composing, also großen Freiräumen für freie Improvisation verbinden wollten, selbst gebraucht worden, wie von Muhal Richard Abrams, einem der Gründer und Konzeptionalisten des Chicagoer AACM. "Creative Jazz" ist dann von einer Reihe von vor allem us-amerikanischen und italienischen Jazzautoren und -journalisten aufgegriffen worden und heute relativ weit verbreitet für alles, was eher sperrig ist, Free-Jazz-Traditionen mitpflegt, aber auch viel konzeptionell Vorstrukturiertes und Komponiertes enthält.

    Alle von mir genannten MusikerInnen spielen sowohl Creative Jazz, als auch Free Jazz und gänzlich freie Improvisation, einige aber auch zusätzlich "Post-Bob", "Modern Contemporary", "Free Bob", "Post-Rock", "Prog-Rock", komponierte Neue Musik und vieles Weitere. Die Bezeichnungen sind sehr fließend, wie die Praxis dieser MusikerInnen.

    :wink: Matthias

  • Bin ich eigentlich wirklich so allein mit meiner Meinung, dass sich eine geniale Musik wie der Jazz nicht solchen Marktgesetzen unterwerfen darf?

    Nein, bestimmt nicht. Aber ich glaube, wir kommen hier mit Unterscheidungen wie kommerziell - nicht kommerziell, "ehrlich"- "unehrlich" und ähnlichem nicht sehr weit.

    Miles Davis wollte auch in den späten 60ern/frühen 70ern viel Erfolg und bei den großen Rock-Festivals auftreten und viel Geld wie ein Rock-Star verdienen. Trotzdem entstand gute, einfallsreiche und oft relativ innovative Musik. Offenbar konnte damals, ja kurzzeitig auch im Rock, relativ anspruchsvollere Musik ein relativ breites Publikum finden. War das damals wirklich weniger "kommerziell", gar "subversiv", wie oft behauptet? Die großen Plattenfirmen ließen sich damals doch auch nur darauf ein, weil damit damals viel Geld zu verdienen war, ja kurzzeitig drängten sie sogar Musiker, progressives Zeug zu machen, weil sie kurzzeitig die Erwartung hatten, dass das nun für länger der Trend werde. Und auch damals gab es dann einige Musiker, die wohl eher die Masche mitgemacht haben, als das zu spielen, was sie wirklich wollten.

    Was sind also die Gründe, das Miles damals mit dem Willen, kommerziell erfolgreiche Musik zu machen, spannende, einfallsreiche Musik machte, mit dem selben Streben am Ende seines Lebens aber künstlerisch ziemlich belangloses Zeug?

    Oder ist es "ehrlicher", wenn es einem Jazz-Alt-Star, der sein Publikum gefunden hat, ausreicht, mit seinem Publikum zu altern und immer dasselbe zu spielen, um bloß sein Publikum nicht zu verschreckchen, als Neues zu wagen und dabei sich auch bei anderen Musikformen und jüngeren Stilen zu bedienen. Kann sein, das der Alt-Star zufrieden ist, das immer wieder zu wiederholen, was er für sich entdeckt hat, dass er es besonders gut kann. Vielleicht gelingt es ihm sogar, innerhalb seines engen Rahmens immer wieder einfallsreich zu bleiben. Aber das ist sehr schwer. Kann aber auch sein, dass es ihn längst total anödet, seit 50 Jahren, über hundert Konzerte im Jahr mit den selben Musikern aus dem gleichen Pool und mit dem selben, unveränderten musikalischen Konzept auf der Bühne zu stehen, dass er nur nicht den Mut oder den Einfallsreichtum hat, Neues zu wagen und längst den begeisterten Mainstreamer oder was auch immer nur noch vorspielt? Wer kann das unterscheiden? Kann man das wirklich immer heraushören?

    Oder, anders herum, muß es "unehrlich" sein, wenn jemand immer wieder zu neuen, gerade angesagten Stilen wechselt, ob erfolgreich oder immer wieder scheiternd?

    Ist es "ehrlich", wenn jemand meint, sich gezwungen zu sehen, um jeden Preis sein Image als ewiger Neuerer zu beweisen und damit sein kleines treues Publikum wenigstens nicht zu verlieren? Vielleicht hat er heimlich seine Liebe zu klassischem Blue Note Jazz entdeckt und würde am liebsten nichts anderes mehr spielen als guten alten Hardbob?

    Oder ist es ehrlicher, wenn junge MusikerInnen, die in der Regel mit Pop, Rock, Soul, Metal augewachsen sind, ewig das American Songbook und die Hits ihrer Urgroßeltern rauf- und runterspielen? Wieso nicht über die Hits ihrer Jugend oder der Gegenwart improvisieren und dabei auch etwas von diesen Stilen einfließen lassen? Der Jazz ist schließlich als Bastard geboren und hat sich schon von Anbeginn überall bedient. Es kommt doch vielmehr darauf an, was man an Material aufnimmt und vor allem, wie man das tut. Als der alte Miles mit Rappern auftrat, wurde das nichts. Er kannte wohl auch nur die aus den Mainstream-Medien und wollte die dort erfolgreichsten. Und die wollten wahrscheinlich auch nicht den Musiker Miles, sondern den ersten supersoolen Schwarzen mit Ferrari und Photo auf 'ner Titelseite einer der großen Illustrieten. Wenn der alte Archie Shepp heute mit einem jungen, unbekannteren, aber in seiner Musik experimentellen Rapper auftritt, der noch dieselbe Wut im Bauch hat, wie er als junger Mann, entsteht wieder "Fire Music". Und es hält Shepp nicht davon ab, auch eine Ballade im Ben-Webster-Ton zu spielen, wenn ihm danach ist, sogar auf dem selben Konzert. In den 60er wußte Miles, er braucht diese jungen Engländer wie Dave Holland, John McLaughlin aus der damals sehr experimentellen Szene zwischen Prog-Rock und Free Jazz. In den 80ern und frühen 90ern wußten aber Steve Coleman, Greg Osby oder Matthew Shipp, wer im Rap und Hip Hop mit relativ einfallsreichem Zeug in diesem Feld experimentiert oder das kann und will und wer mit großem Respekt die alten Jazzer originell sampelt und es entstanden ziemlich interessante Crossover. Gefällt mir auch nicht alles, aber blöd und nur auf schnelle Kohle aus war das sicher nicht.

    Die "Dummheit in der Musik" (Hanns Eisler) ist, glaube ich, nicht eine Frage von ehrlich oder unehrlich, nicht mal von kommerziell - ob nun wirklich erfolgreich oder nur angestrebt - oder nicht, auch wenn es sicherlich Zeiten gibt, in denen der Wille zu breitem und lukrativem Erfolg eher mit anspruchsvoller Kunst vereinbar ist, als in anderen, in denen sie sich allgemein fast ganz auszuschließen. Die Intentionen der Musiker spielen sowieso im Feld des Imaginärens, sind wohl auch oft nur Imagination. Entscheidender, Habitus und Doxa im Sinne Bourdieus und damit ihre reale Position in den Produktionsverhältnissen und deren Kräfteverhältnisse.

    :wink: Matthias

  • Oder ist es ehrlicher, wenn junge MusikerInnen, die in der Regel mit Pop, Rock, Soul, Metal augewachsen sind, ewig das American Songbook und die Hits ihrer Urgroßeltern rauf- und runterspielen?

    Genau das erwarte ich von ihnen nicht. Am liebsten ist mir, wenn sie eigene Kompositionen und Arrangements spielen, statt zum tausendsten mal "Caravan" aufzuwärmen. Ich war am 29. November beim Tingvall Trio in der Hamburger "Fabrik": wie stets bei dieser Formation wurden ausschließlich Martin Tingvall-Kompositionen gespielt. Über drei Stunden. Klasse. Aber es ist natürlich auch nichts dagegen einzuwenden, wenn eine Band Songs von Radiohead oder Prince oder wem auch immer als Ausgangsmaterial nimmt und dann in ein Jazzgewand überführt. Herbie Hancock tat dies mit seinem Verve-Album "The New Standard"

    (und den Mitmusikern Michael Brecker, John Scofield, Dave Holland, Jack DeJohnette und Don Alias) größtenteils sehr überzeugend. Was diese Band beispielsweise aus Don Henleys "New York Minute" herausholte, ist einfach atemberaubend. Und lupenreiner Jazz, der losgeht wie nichts Gutes. Vergleicht man dies mit der Sanne Salomonsen-CD "In a New York minute"
    [Blockierte Grafik: http://ecx.images-amazon.com/images/I/417E9G%2BmlzL._SL500_AA300_.jpg]
    welche ebenfalls mit Don Henleys "New York Minute" beginnt, ist das schon alles sehr, sehr viel "radiotauglicher" und "durchhörbarer" (das sind ja wohl die gängigen Begriffe für Musik, die man "so schön nebenbei" hören kann). Schmuse-Jazz eben - und das trotz der Instrumentalisten Randy Brecker, Larry Goldings, Chris Minh Doky, Clarence Penn und - wiederum - Don Alias an der Seite der Vokalistin und ihrer Background-Sänger. Die letztgenannte CD aus dem Jahr 1998 ist eben ein typisches Produkt ihrer Zeit, als weiblicher Vocal-Jazz plötzlich "angesagt" war, die Leute wie die Verrückten in entsprechende Konzerte gingen und, wenn man sie nach ihren Musikvorlieben fragte, antworteten "Alles Mögliche. So das, was neu ist. Was so im Radio läuft". Solchen Hörern darf man natürlich kein wildes Überblasen von Michael Brecker oder irrwitzige Gitarrenläufe von Scofield in ihren entfesselten Soli darbieten wie auf der Herbie Hancock-CD. Es muss als kleiner Tupfer im Hintergrund eine gestopfte Trompete sein (auf der Salomonsen-CD gespielt von Randy Brecker). Das klingt dann so schön kuschelig.

    Ich weiß übrigens gar nicht, warum ich mir damals die Salomonsen-CD gekauft habe. Vermutlich, weil "Little wing" von Jimi Hendrix drauf ist. Einer meiner absoluten Lieblingstitel im Jazz. Was das Gil Evans Orchestra daraus gemacht hat in seinen Konzerten - unbeschreiblich. Ich sehe noch einen wild durch das Publikum springenden Hiram Bullock mit Jimi Hendrix-Motiv auf seinem T-Shirt vor mir, der mit seinem Gitarrensolo überhaupt nicht mehr aufhören wollte und vom Tutti der Big Band wie wild unterlegt wurde. Miles Evans dirigierte das Orchester, falls es erforderlich war, während der fast schon blinde Gil Evans mit seinem Stirnband ganz links an seinem Keyboard saß und sichtlich genoss, was diese jungen Wilden da gerade machten. Howard Johnson - ein Bär von einem Mann - mit einer winzigen Piccoloflöte als weiterer Solist bei diesem Titel. Oder George Adams. "Little wing" ist ein weiteres gutes Beispiel dafür, dass es keineswegs immer das Great American Songbook sein muss oder soll.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Danke für die Korrekturen Matthias!

    Wahrscheinlich bin ich vor Jahren in Sachen Jazz falsch abgebogen und das, was ich nun wahrnehme, ist anscheinend eben Mainstream.
    Auf der anderen Seite freut mich mein Beitrag, weil Du so ausführlich reagiert hast.

    Ich halte mich aus der Diskussion nun raus außer der einen Bemerkung.
    Musikszenen entwickeln sich wie Myzel von Pilzen. Wenn die Zeit dann reif ist, kommen die (kommerziell erfolgreichen) Fruchtkörper heraus und bilden das, was wir Pilze nennen. (Myzel: Grungebewegung, Fruchtkörper: Nirwana)
    Ich habe heute den Eindruck, dass es anscheinend im Jazz viel Myzel, aber wenig Fruchtkörper gibt.

    Gruß aus Kiel

    PS. Zappa sagte: "Jazz is not dead it just smells funny!" (Intro to "BeBop Tango" aus "Roxy and Elsewhere")

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • Ich habe heute den Eindruck, dass es anscheinend im Jazz viel Myzel, aber wenig Fruchtkörper gibt.

    Ich hatte den Eindruch nie, aber heute ist er m.E. falscher, denn je. Als ein Index könnte man nehmen, was besonders viel in Internet-Jazz-Blogs genannt, kopiert usw. wird. Das ist heute in hohem Maße Musik, wie die von den von mir Genannten und Ähnliches, Der Anteil Sperriges gegenüber Mainstream dürfte sich, je nachdem, was man alles einbezieht, zwischen ca. 30% und ca. 75 % bewegen. Das scheint mir eher daraufhin zu deuten, dass das Jazzpublikum heute aufgeschlossener ist für eine ebenfalls heute größere Anzahl an Sperrigeres produzierenden MusikerInnen, denn je. Es gibt ja heute auch überhaupt in Deutschland oder Österreich, wie international, mehr professionelle JazzmusikerInnen und mit den billigeren CD's auch mehr Veröffentlichungen jedes Jahr, denn je.

    Zudem wächst das Jazzpublikum in deutschen oder österreichischen Städten mit lebendiger Jazzszene wieder deutlich. Zu Wien habe ich da gerade eine recht verläßliche Studie gelesen. In Berlin - und in Wien und an einigen anderen Jazzmetropolen in Europa scheint es ähnlich zu sein - gehen dabei inzwischen mehr Leute zu Sperrigerem, als zu Mainstream, gerade von den Jüngeren.

    Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, weil ich mich jetzt besonders auf die experimentelleren Jazzformen eingelassen habe, um zu zeigen, wie entwicklungsfähig und innovationsfreudig der Jazz sich gerade heute beweist, ich nehme aber durchaus ebenfalls wahr, dass auch im Mainstream noch nicht alles ausgereizt ist. Es gibt genügend KünstlerInnen, die auch hier zeigen, dass man nach wie vor auch frischen Hardbob oder Post-Bob spielen und auch dort nach wie vor seinen eigenen Pesonalstil ausbilden kann, auch in originellen Arrangements und Improvisationen über das American Songbook.

    Eine Anmerkung noch zur Bezeichnung "Creative Jazz". Das bezeichnet, genauso wenig, wie "Free Jazz" einen Musikstil, wie etwa Swing, Bebob, Hardbob. Dafür war schon das, was alles mit "Free Jazz" bezeichnet wurde, viel zu unterschiedlich. Es bezeichnet eine Herangehensweise, die nur darin ihr gemeinsames hat, dass im Free Jazz freie Improvisation überwiegt, im Creative Jazz die Verbindung von elaborierterem vorstrukturiertem Material jenseits des Mainstreams mit freier Improvisation angestrebt wird und der Anteil vorkomponierter gegenüber spontan komponierter/improvisierte Musikelementen wieder größer ist.

    Die Entwicklung sieht derzeit in vieler Hinsicht nicht so schlecht aus, auch wenn wir sicherlich noch weit davon entfernt sind, dass Jazzmusik, und sogar manchmal zumindest ein klein wenig sperrigere, in den Pop-Charts auftaucht, wie heute in Norwegen und Polen. Ist vielleicht auch gar nicht unbedingt wünschenswert.

    Aber es tut sich viel.

    Nach diesem ersten, kenntnisfreiem SZ-Artikel mit ähnlichem Tenor, wie hier von Doc Stänker vertreten, und der Antwort der jungen Musiker der progressiven Kölner und Berliner Szene und der davon ausgelösten Debatte, hat sich übrigens die Deutsche Jazzunion, als Lobby-Vertretung von Jazz-MusikerInnen in Deutschland, deutlich verjüngt und es kam zu einem Generationswechsel in ihrem Vorstand, der nun zum großen Teil von jüngeren MusikerInnen der Creative Jazz-Szenen aus Berlin und Köln besetzt wird. Neue Vorstandssprecherin ist Julia Hülsmann aus Berlin und auch die oben erwähnten Jazzer und Mitautoren des offenen Briefs, Johannes Lauer und Christian Lillinger sind Teil des neuen Vorstands. Die 'deutsche Jazz-Debatte' hat es inzwischen sogar in den Bundestag geschafft. Die Mittel aus dem erhöhten Bundeskulturfonds, die für Jazz ausgegeben werden, waren in diesem Jahr schon nicht mehr so ganz schlecht. Davon konnte etwa in Berlin das neue, von Jazzern hier selbst organisierte "L'Armé"-Festival als geradezu ein internationales Gipfeltreffen vieler der derzeit international spannensten Free- und Creative- Jazzer, oft im Zusammenspiel mit Berliner Eigengewächsen, finanziert werden. Im nächsten Jahr wird der Anteil und Gesamtbetrag noch höher sein.

    Es lohnt sich also, nicht nur immer zu klagen, sondern sich zu organisieren und was zu tun - und dazu gehört natürlich auch, den vielen falschen Images vom Jazz als schon scheintotes Zeug für Opas oder nur was für 'überintellektualisierte' Freaks oder Jazz sei so ernst und humorlos oder Jazz sei heute nur das, was noch in den Massenmedien als "Jazz" vorkommt, entgegenzutreten.

    :wink: Matthias

  • :wink:

    Kleiner Tipp an Doc Stänker: Hole Dir mal die neueste Ausgabe de Werbeblatts Credo ( die mit dem Wagner-Star-Wars-Cover). Da erfährst Du wie wichtig es ist, dass sich ältere Musikerherren die Haare blondieren und die früheren Größen der klassischen Gitarre, wie Julian Bream, einfach zu schlecht aussahen. Deswegen ist die klassische Gitarre in Verruf geraten. Dann noch die fundamentale Erkenntnis, dass Wagner der Ahnherr der Filmmusik ist (vielleicht gar nicht so falsch ;+) :( wegen den Leitmotiven natürlich. Zum Schluss die Doppelseite DG Werbung, mit dem, was sie sellbst als ihre Alben des Jahres bezeichnen. Vielleicht könnte man ja glauben, dass das allein den momentanen Zustand der klassischen Musikszene beschreibt?

    Gruß, Frank

    PS: Interessant in dem Blättchen, das Neujahrskonzert 2013 gibt es ab Mitte Januar auch als Schallplatte. Nicht, dass ich mir das kaufe, aber das hat was.

    Gruß, Frank

    Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.

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