VERDI - Intermezzo I: RE LEAR, die Oper die nicht sein sollte

  • VERDI - Intermezzo I: RE LEAR, die Oper die nicht sein sollte

    Zu den wenig gewürdigten Eigenheiten Verdis gehört seine ungeheure Belesenheit, die für einen Gastwirtssohn und selbsterklärten Bauern mehr als überraschend ist, da sie schon sehr früh ausgebildet worden sein musste. Man betrachte nur einmal die lange Liste seiner erwogenen und letztlich verworfenen Projekte, die fast die gesamte französische, spanische und englische (sowie die magere italienische) Literatur (hohe wie abenteuerliche, Dramen wie Romane) seiner Zeit umfasst, einschließlich seiner besonderen Aufmerksamkeit für die gerade neu entdeckten und übersetzten Dramen William Shakespeares. Diese waren, vom durchgehend beliebten SOMMERNACHTSTRAUM einmal abgesehen, von der Opernwelt bis dato ziemlich vernachlässigt worden. Der OTELLO ROSSINIS und Bellinis CAPULETI ED I MONTAGUE gingen lediglich auf ähnliche Quellen wie die von Shakespeare benutzten zurück. Eine bemerkenswerte und leider fast unbekannte Ausnahme war die Oper GLI EQUIVOCI, des englischen Mozartschülers Stephen Storace (des Bruders der Sängerin Nancy Storace, der Mozart seine meisterhafte Konzertarie „Ch‘io mi scordi di te“) widmete, und die auf Shakespeares COMEDY OF ERRORS basierte, die Storace als gebildeter Engländer natürlich kannte.

    Erst 1839, also bevor Verdi seine erste Shakespeare – Oper, RE LEAR in Angriff nahm und damit noch vor Otto Nicolai, der lange zögerte DIE LUSTIGEN WEIBER VON WINDSOR (1848) zu komponieren, weil er meinte, dass nur Mozart Shakespeare hätte gerecht werden können, veröffentlichte Hector Berlioz mit seiner dramatischen Semi-Oper ROMÉO ET JULIETTE die erste ernst zu nehmende Shakespeare-"Oper" (s. Berlioz: Roméo et Juliette. Ein sinfonisches Operatorium). Überhaupt dürfte ein genauerer Vergleich der Entwicklung der Komponisten Berlioz und Verdi Parallelen zutage fördern, die angesichts der Tatsache, dass beide einander respektierten und professionell wohl auch hoch schätzten, aber einander kaum mochten und wohl auch nicht persönlich kannten, überraschen. Dafür ist hier aber nicht der Ort, so dass ich mich auf zwei Äußerungen beschränke.

    Verdis zutreffende Charakterisierung stammt aus dem Jahr 1882 , also aus der Rückschau, denn Berlioz war da schon 13 Jahre tot: „Berlioz war ein armer, kranker Mensch, der gegen alle wütete, heftig und bösartig war. Seine Begabung war sehr reich und mächtig; er hatte den Sinn für das Orchester und wusste schon vor Wagner viel um die Instrumentalwirkungen (die Wagnerianer geben das nicht zu, aber so ist es.) Er konnte sich nicht mäßigen; es fehlte ihm die Ruhe und ich möchte sagen, die Ausgewogenheit, aus der sich erst vollendete Kunstwerke ergeben. Er ging immer über die Grenzen, auch wenn er sonst Lobenswertes hervor brachte.

    Seine gegenwärtigen Erfolge in Paris sind zu einem großen Teil gerecht und verdient; aber sie sind mehr auch Reaktion. Man hat ihm bei Lebzeiten so übel mitgespielt. Jetzt aber ist er tot. Hosianna.“
    (zitiert nach der Edition von Verdis Briefen von Franz Werfel, erlin 1926).

    Nahezu prophetisch fiel Berlioz‘ Kritik der LUISA MILLER aus dem Jahr 1853 aus. "In LUISA MILLER, zu der ich noch nichts sagte, findet man die Fehler der Bühnenkompositionen des bel canto, denen Verdi gehorchen musste, aber ich glaube, dass sein Herzb nicht darin steckte. Man hört eine Tendenz zu ernsthafteren Klängen, einer abwechslungsreicheren Orchestration, die mehr künstlerische Können verlangt als der schulmäßige Orchestrationsstil, dessen Meister Verdi schon längst ist. Diesen Qualitäten gilt es für Musiker wie für Kritiker, gerecht zu werden. IN LUISA MILLER findet man viele schöne Arien, eine eminent ausdrucksstarke Romanze, ein schönes à cappella – Quartett, zahlreicher leidenschaftliche Ausbrüche und auch einige Reminiszenzen, die eine schnelle Lernfähigkeit erkennen lassen. Die Instrumentation erschien mir nüchtern, immer elegant, und die große Trommel (Berlioz‘ Hassinstrument in der italienischen Oper) ist vollkommen aus dem Orchester verbannt. Es ist bemerkenswert, dass Verdi das gewagt hat. Es ist ein definitiver Schritt auf dem Weg der Reform. Hoffen wir, dass der Maestro von nun an diesen Weg herzhaft weiter gehen wird. (aus Le journal des débats in meiner ungefähren Übersetzung)

    Aber zurück zum RE LEAR, den Verdi als sein erstes Shakespeare-Projekt bereits vor dem ERNANI in Angriff genommen hatte (ein Salvatore Cammarano mehr als zwei Jahre vor seinem Tod 1852 begonnenes und von Antonio Somma vervollständigtes Libretto findet sich im Nachlass Verdis), aber wegen der Schwierigkeit der Gestaltung mancher Szenen vorerst zurückstellte, was sich noch mehrfach wiederholen sollte. In einem Brief an Cammarano von 1850 ist Verdi voller Enthusiasmus: „König Lear ist auf den ersten Blick so ungeheuer, so sehr schicksalsverflochten, dass es unmöglich erscheinen könnte, daraus einen Opernstoff zu machen. Prüft man genau nach, so scheinen mir die Schwierigkeiten sicherlich groß, aber nicht unüberwindlich. Sie wissen, dass es nicht nötig ist, ein Drama in der bisher allgemein gebräuchlichen Form zu machen. Man müsste eine neue, große, von jeder Rücksicht unbeschwerte Form finden. Mir scheint, dass man durch Zusammenziehungen mit fünf Hauptpartien auskommen könnte: Lear, Cordelia, Narr, Edmund. Edgar. Zwei Nebenpartien: Regan und Goneril. … Zwei männliche Nebenpartien: (wie in der LUISA) Kent Gliocester. Alles übrige ist für zweite Sänger.“ (zitiert nach Frank Werfels Briefedition aaO). Danach gibt Verdi bereits das komplette Szenario vor. Somma sollte später noch das Szenario für UN BALLO IN MASCHERA liefern.

    Verdi aber verfolgte dieses Projekt bis zuletzt. Schließlich bot er das Material 1896 sogar Pietro Mascagni an, den er genug geschätzt haben muss. Auf Mascagnis Frage, warum er die Oper nie selbst geschrieben habe, soll Verdi ihm mit leiser Stimme gebeichtet haben: „Die Szene mit Lear allein auf der Heide machte mir zu viel Angst.“ Später macht Franz Werfel in seinem veralteten, aber immer noch lesenswerten „Verdi-Roman der Oper“ Verdis Scheitern an diesem Projekt zum Angelpunkt seiner Biografie.


    Zu den anderen Texten, die Verdi für eine Vertonung in Erwägung zog, gehörten natürlich auch Dramen um Catherine Howard und die Tudor-Dynastie und ein anderes um Cromwell, die Verdi jedoch verwarf, „weil es unmöglich ist, für diese Personen Sympathie zu erfinden“. In der Tat ist dies ein Schwachpunkt der relevanten opere serie Rossinis und Donizettis. Auch wollte er Shakespeares HAMLET und ROMEO AND JULIET vertonen, und für einen Weile reizte ihn ernsthaft der Roman RIENZI von Edward Bulwer-Lytton. Leider gab Verdi auch dieses Projekt auf, und zwar nicht etwa wegen der gerade fertig gestellten Oper Richard Wagners, von der er vermutlich noch nicht wusste, sondern weil Verdi sicher war, dass die Polizei den Stoff verbieten würde. Wie gerne würde man doch auch diese Opern aus Verdis Hand kennen.

    Statt dessen wandte er sich Lord Byron zu, einer weiteren literarischen Vorliebe, die er mit Berlioz teilte. Dessen dunkles Drama I DUE FOSCARI sollte bald folgen. Aber davon mehr in Kürze in einem anderen Thread.

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Lieber Rideamus!
    Habe es mit Genuss gelesen!
    Freue mich schon auf eine meiner Lieblings Opern von Verdi, "I Due Foscari "!
    Bis bald , LG palestrina

    „ Die einzige Instanz, die ich für mich gelten lasse, ist das Urteil meiner Ohren. "
    Oolong

  • Lieber Rideamus!

    Das "Werfel - Verdi - Buch" sollte jeder Verdi Freund lesen, es zeigt wie Franz Werfel Verdi schätzte und es gibt auch eine deutsche Fassung der "Macht des Schicksals" von Franz Werfel, die wunderschön ist.

    Franz Werfel wollte ja noch andere Verdi Opern Librettis ins Deutsche übersetzen, konnte es aber nicht mehr, da ein anderer "Schicksalsmacher" Euopa in einen noch größeres Schicksal stürzte und Werfel verboten war.

    Liebe Grüße sendet Dir Peter aus Wien. :wink:

  • Ich habe schon im Faden zu Verdis "Macbeth" ein wenig daran gezweifelt, ob Verdi der Lear-Oper hätte gerecht werden können, zumindest in dem Stadium als er daran arbeitete. Die späten Otello und Falstaff belegen ja für mich, dass er sich dahin entwickelt hatte, aber zum früheren Stand, denke ich, wäre der Lear kein Shakespearesches Musikdrama geworden (und das hätte ich bevorzugt).
    Verdi, als großer Shakespeare-Verehrer, hätte ich mir in seinem Zenit sehr gut als Komponist von "The Tempest" vorstellen können.

    "Allwissende! Urweltweise!
    Erda! Erda! Ewiges Weib!"

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