Elgar: Sinfonie Nr. 2 - "... the thing is tremendous in energy."

  • Von Elgars 2. Sinfonie habe ich bis jetzt nur eine Aufnahme: Es handelt sich um die 1993 entstandene Aufnahme mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Andre Previn:

    Allerdings habe ich diese Aufnahme nicht in der abgebildeten Doppel-CD-Box, sondern als Einzel-CD, die des weiteren noch die Cockaigne-Ouvertüre enthält. Die Spielzeiten sind folgende: 17:14 / 14:36 / 08:00 / 13:50. Für die Cockaigne-Ouvertüre werden 14:49 Minuten benötigt.

    Für meinen Geschmack ist dies eine überzeugende Interpretation, da für mein Empfinden Andre Previn viel Augenmerk auf die lyrisch-melancholischen Stellen legt, ohne dabei aber larmoyant zu wirken. Besonders der trauermarschartige 2. Satz wirkt wie mit einem Trauerrand versehen. Auf der anderen Seite lässt Previn das hervorragende LSO aber auch voller Verve und zupackend musizieren; gerade wenn ich an diese aggressive Stelle im 3. Satz denke.

    Bei dieser wichtigen Sinfonie des frühen 20. Jahrhunderts sollte ich mir aber noch eine weitere Aufnahme anschaffen. Vielleicht diese CD-Box, die auch die komplettierte 3. Sinfonie enthält:

    Lionel

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

  • Zitat

    Vielen Hörern gilt Vernon Handleys Einspielung der zweiten Symphonie Elgars als einigermaßen großer Wurf

    Na ja, da hast Du meine Lieblingseinspielung gut durchgerupft.

    Ich kann da jetzt nicht dagegenhalten, da mir schlicht die Zeit fehlt, alle Vergleichsmöglichkeiten, die ich habe( und das sind eine Menge) neu zu hören.

    Es ist ja völlig ok, daß Dir Handley nicht gefällt.

    Mir gefällt diese sehr britische Aufnahme aber nach wie vor sehr gut.
    Sie ist sehr klangsinnlich, für mich die klangsinnlichste von allen.

    Und mir gefällt dieses Werk am besten in einer süffigen, klangsinnlichen Darstellung.

    Zitat

    Das Finale kommt einigermaßen betulich daher, wieder mit jenem massigen
    Ton, dessen sich Handley auch schon im ersten Satz bedient. Hier spricht
    durchweg wieder „Sir Edward“, alles gleißt und glitzert,

    Tja, hier spricht ja auch Sir Edward, mir gefällt es.

    Bei dieser nicht besonders (meine Meinung, nix weiter) wichtigen Sinfonie hat man ja zum Glück die Gelegenheit, unter vielen Aufnahmen die herauszusuchen, welche einem am besten gefällt.

    Deine Kritik ist sehr interessant und überlegenswert.

    Danke dafür, aber ich denke, ich bleibe bei Handley, trotzdem.
    :angel:

  • Bei dieser wichtigen Sinfonie des frühen 20. Jahrhunderts sollte ich mir aber noch eine weitere Aufnahme anschaffen. Vielleicht diese CD-Box, die auch die komplettierte 3. Sinfonie enthält:

    Lieber Lionel,

    Deine Angaben von oben berücksichtigend (Previn), würde ich von Davis eher abraten. Nicht, dass das nicht eine insgesamt günstige Box ist. Auch möchte ich nicht behaupten, die Aufnahmen der Symphonien seien schlecht. Das ist schon alles sehr ordentlich musiziert. Aber ich denke, dass Davis sich interpretatorisch eher in Previns Nähe bewegt den ich mir gerade kürzlich über den Grabbeltisch einverleibt habe. Vielleicht wäre es aber interessant, das Werk einemal in einer kontrastierenden Aufnahme zu hören?
    Dann lägen Boult 1944, Sargent 1964 oder eben auch Solti 1975 nahe. Mit Sinopoli 1987, der eine durchweg extreme Deutung des Werkes vorlegt, scheint mir persönlich ohnedies der Zenit dessen, was an Interpretation so möglich ist, überschritten. Die jüngeren Aufnahmen finde ich persönlich weniger gelungen oder einfach nicht sonderlich "individuell". Es hat sich mE ein gewisses Mainstream-Musizieren eingependelt. Schockierend seltsam finde ich - da kann ich mich dem Urteil der Fachpresse ausnahmsweise einmal anschließen - Hickox.
    Vielleicht ist die jüngst erschienene Oramo-Einspielung aus Stockholm wieder mal ein etwas interessanterer Beitrag zur Diskographie. Leider kann ich noch nichts dazu sagen, weil sie noch nicht den Weg zu mir gefunden hat.

    :wink: Agravain

    P.S. Auch für die Symphonien 1 & 3 gibt es mE interessantere Einspielungen als die von Davis. Zunächst einmal Davis selbst (mit der Staatskapelle Dresden) für die Erste und dann Paul Daniel (mit dem Bournemouth Symphony Orchestra) für die Dritte.

  • da hast Du meine Lieblingseinspielung gut durchgerupft.

    Lieber Michael,

    das tut mir Leid.

    Mir gefällt diese sehr britische Aufnahme aber nach wie vor sehr gut.


    Und das darf sie natürlich auch. Ich gebe ja nur meine Eindrücke wieder und habe weder den Wunsch mich beispielsweise mit einem "Veriss" als immens Eingeweihter zu positionieren noch möchte ich - das gibt es hier ja auch manchmal - meine am Ende wenig maßgebliche Meinung als Direktive verstanden wissen. Es sind und bleiben persönliche Höreindrücke, die ich hier formuliere - mehr nicht.

    Bei dieser nicht besonders (meine Meinung, nix weiter) wichtigen Sinfonie


    Das sehe ich allerdings, wie Du sicher verstehen wirst, nicht ganz so. ;+)

    Deine Kritik ist sehr interessant und überlegenswert.


    Dass Du die Dinge so siehst, freut mich sehr!

    :wink: Agravain

  • Zitat

    Dass Du die Dinge so siehst, freut mich sehr!

    Danke, ja klar.
    Und Einspielungen wie die Handley für CFP damals, die wurde in etwa 3 Stunden gemacht.
    Ohne Proben.
    Wie so viele Einspielungen, über welche man sich noch Jahrzehntelang die Köpfe kaputtredet.

    Und welche gar keine Kunst waren, sondern nur Tagesgeschäft.

  • Sinopoli (1987), Philharmonia Orchestra: 20:43 / 18:25 / 09:00 / 17:14

    Eines der schönsten Gedichte Rainer Maria Rilkes endet mit den Worten „… und Anfang glänzt / An allen Bruchstelln unseres Misslingen.“

    Immer wenn ich Giuseppe Sinopolis Aufnahme der zweiten Symphonie Elgars höre, denke ich an diese Zeilen. Es ist ein großartiges Scheitern, das Sinopoli hier hinlegt, eine die Elgar-Gemeinde vollkommen polarisierende Aufnahme, vergleichbar vielleicht mit Bernsteins später Aufnahme der sechsten Symphonie Tschaikowskys. An Bewertungen findet sich die komplette Skala von „[a] lumbering performance that turns the composer’s finely accented textures into a thick purée“ (Victor Carr Jr auf „ClassicsToday“) bis zu „fascinating and typically idiosycratic“ (William Hedley auf „musicweb-international“).

    Ich selber finde, dass diese Einspielung in zweierlei Hinsicht einen Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte Elgars darstellt, denn zum einen verweigert sich Sinopoli vollkommen der Aufführungstradition, in dem er keinen glatt gebügelten Elgar zum Wohlfühlen präsentiert; zum anderen macht Sinopoli mE den bis dahin nicht und seit dem nicht mehr gewagten Versuch, Elgar an das musikhistorische Umfeld anzuschließen. Es ist nicht nur ein Experiment, das der Hörer hier staunend (und vielleicht auch zunächst kopfschüttelnd) beobachten kann, es ist mE das Ergebnis einer höchst persönlichen Begegnung mit einem Komponisten am Ende des Fin de siècle, das Sinopoli hier vorstellt. Um zu Rilke zurückzukommen: in dem es misslingt, eine am Mainstream orientierte Elgar-Aufnahme herzustellen, so gelingt doch eine Sinopoli-Bearbeitung der Symphonie Elgars, die den Anfang eines anderen Elgar-Verständnisses ermöglicht.

    Der erste Satz beginnt nicht, wie es Elgar vorschreibt. „Allegro vivace“ ist das nach meinem Gefühl eher nicht – „e nobilmente“ schon eher. Überhaupt ist dies ein Kennzeichen dieser Aufnahme: das insgesamt langsame Tempo. Nicht, dass Sinopoli es nicht schneller gekonnt hätte. Sämtliche seiner anderen Elgar-Aufnahmen sind immer doch zügig, wo Elgar es notiert, und zeichnen sich eben gerade nicht durch sonderlich langsame Tempi aus. Hier ist das vollkommen anders, was mich zu der Vermutung führt, dass Sinopoli die Tempodisposition eben gerade so anlegt, weil er etwas damit zeigen will, wobei ich meine Vermutung hierzu schon oben mitgeteilt habe. Doch ich schweife ab.
    Sinopoli wählt für den ersten Satz also ein weniger lebhaftes, denn vielmehr ruhig fließendes Tempo, das diesem sofort einen gewichtigen, schweren, aber nicht schwerfälligen Charakter verleiht. Ich sehe vor meinem inneren Auge die stolze – zum Kompositionszeitpunkt im Übrigen im Bau befindliche – Titanic, die selbstbewusst als Glanzstück der englischen Flotte die Wellen des Ozeans durchkreuzt. Herrlich gelassen und mit ausgesuchter Süße wird das zweite Thema vorgestellt. Ab Ziffer 11 drosselt Sinopoli das Tempo ganz ungeheuer. Mehr „dolce e delicato“ geht nicht. Kommt da das italienische Temperament zum Zuge? Zum „Brillante“ bei Ziffer 17 wird wiederum so weit ausgeholt, dass Handleys „große Geste“ (s.o.) dagegen geradezu schmalbrüstig wirkt. In den letzten Takten vor 22 drosselt Sinopoli erneut das Tempo (überhaupt bedient er sich kräftig am Rubato). Auf einmal hab ich das Gefühl, ich säße in einer Oper, Puccini vielleicht. Auch der sich anschließende Beginn der Durchführung klingt wie Bühnenmusik, da gibt es Zählzeit für Zählzeit Geheimnisvolles zu erlauschen. Das Zwischenspiel („malign influence“, Ziffern 28-30) wird bei Sinopoli zu einem Klangzauber, randvoll mit jener morbiden Grandezza, in den sich die alte Welt kleidete, bevor sie wenige Jahre später im Ersten Weltkrieg unterging. Der Hörer mag beim Hören spüren: Hier ist bald ein Ende erreicht. Doch noch nicht ganz. Auch wenn die Coda zunächst etwas müde in Gang kommt, sie kommt in Gang. Die Titanic kreuzt noch einmal den Ozean als des Empires stolzestes Schiff. Doch wohin geht die Reise?

    Auch den zweiten Satz nimmt Sinopoli deutlich breiter als üblich. Er beginnt sehr lastend, mit ausgesprochen düsteren Trompeten, sehr schweren Vierteln in den tiefen Streichern und den tiefen Holzbläsern, die Schläge der Gran Cassa klingen schicksalsschwer. Das wirkt auf mich nicht mehr, wie der Klagegesang auf einen König oder auf verlorene Freunde, das klingt viel existenzieller. Wenn in 68 die ersten Violinen anheben, so geht mir die erste Zeile aus Schillers „Nänie“ durch den Kopf. Stirbt hier die Schönheit? Ist das Elgars Klage über seine verlorene Zeit, seine im Untergang befindliche Epoche?
    Das von den ersten Violinen vorgetragene Thema (Ziffer 71) klingt in Sinopolis Lesart eher wie Mahler, vielleicht weil er es nahe am Rande des Auseinanderfallens spielen lässt. Ab 74 (Streicheraufschwung vor Triolen im Rest des Orchesters) schickt sich Sinopoli an, mit der Sicherheit des hervorragenden Brucker-Dirigenten den ersten Höhepunkt des Satzes aufzubauen, was wirklich eine kolossale Wirkung zeitigt. Was für ein Ausbruch bei 76 mit anschließendem Ersterben. Höchst berührend auch die Oboenklage ab 79, herzzerreißender Einsatz der Violinen dann bei 80. Der zweite Höhepunkt wird analog zum ersten angegangen, bloß dass es Sinopoli schafft, bei Ziffer 86 tatsächlich noch eine Schippe mehr draufzulegen und das „molto espressivo“ wirklich als ein solches spielen zu lassen. Den Schluss des Satzes gestaltet Sinopoli als ein langes, langsames Verbleichen, ein Verdämmern, ein mahlereskes „Morendo“ – wobei hier kein „Ewig, ewig“ klingt, sondern Düsternis, Hoffnungslosigkeit, Endgültigkeit.

    Das Rondo beginnt heiter, wobei diese Heiterkeit schnell abnimmt und mE einer grundsätzlichen Zwielichtigkeit, einer gefährlichen Unbestimmtheit weicht. Schon das wuchtige Streicherunisono bei Ziffer 93 lässt nichts Gutes ahnen, die Oboe bei 96 klingt auch sehr undurchsichtig. Sinopoli kostet die sich nun anschließende Passage in ihrer Koboldhaftigkeit mich vollkommen überzeugen aus, um dann in eine Vehemenz überzugehen, die den Satz streckenweise wie die „Rondo-Burleske“ aus Mahlers Neunter klingen lässt. Der Höhepunkt im Zentrum des Satzes ist bei Sonopoli keine Spielwiese für das Schlagwerk, sondern wird eher von den massiv auftrumpfenden Blechbläsern dominiert. Anschließend macht sich eine Stimmung der Hektik und Unübersichtlichkeit breit. Sonopoli lässt die Musik vorwärts rasen, ohne dass man noch das Gefühl einer Richtung hat. Plötzlich (bei Ziffer 134) wird es immens grell, das klingt sehr nach Fratze und die wilde Jagd ist zu Ende.

    Das Finale beginnt durchaus konventionell. Sinopoli lässt das erste Thema mit edlem Gestus spielen, bei der Wiederholung rückt der die Hörner schön nach vorne. Auch das zweite Thema wird sehr repräsentativ gespielt, der Aufbau hin zum „Nobilmente“ (Ziffer 142) und der herrlichen punktierten Figur in den Violinen (6 nach 143) gelingt geradezu mustergültig. Was Sinopoli aber gleichzeitig deutlich herausstreicht ist die schon fast übertriebene Knalligkeit dieses Pomps. Das klingt sehr nach Übertreibung zur Verscheuchung jener Zweifel, die in den ersten Sätzen mE zum Ausdruck kommen, ja es klingt für mich, als wolle Sinopoli zeigen, dass dieses Finale ein verzweifelter Versuch des Komponisten ist sich seiner selbst und seiner Zeit zu versichern. Der in der Durchführung aufkommende kämpferische Ton, das Gegeneinanderkrachen der Themen und Motive erscheint in Sonopolis Darstellung wie ein deutlicher Hinweis darauf, dass diese Musik auf einen Kataklysmus zusteuert. Spätestens bei der „Galeerenmusik“ um Ziffer 154 herum scheint ein tragisches Ende sicher. Doch diese Reprise, die Sinopoli mit einem geradezu unerhörten Ritardando verbindet, reist den Satz noch einmal herum, bevor die Coda jenes verklärendes Erlöschen bringt, welches der langsame Satz verweigert hat.

    Was für eine Interpretation!

    :wink: Agravain

  • Oramo (2011), Royal Stockholm Philharmonic Orchestra: 17:33 / 14:00 / 07:36 / 15:02

    Seit Jewgeni Swetlanows Live-Aufnahme der zweiten Symphonie Elgars vom 11.04.1979, die es in die Liste „CDs from Hell“ des renommierten amerikanischen Kritikers David Hurwitz geschafft hat, hat es keine Einspielung des Werkes mehr gegeben, bei der nicht entweder der Dirigent oder das Orchester aus Großbritannen oder zumindest der englischsprachigen Welt stammten.

    Tatsächlich muss man noch immer, wenn man einen Blick auf die Diskographie des Elgarschen Œuvres wirft, den Eindruck gewinnen, Elgars Musik sei eine vornehmlich britische Angelegenheit. Selten tauchen Namen kontinentaler Spitzenorchester auf. Sicher, man findet die Staatskapelle Dresden (mit der der kürzlich verstorbene Sir Colin Davis eine meines Erachtens überragende Einspielung der ersten Symphonie vorgelegt hat), das SWF Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (unter Sir Roger Norrington) und die Wiener Philharmoniker (mit den „Enigma-Variations“) unter Sir John Eliot Gardiners Leitung. Die Staatskapelle Berlin hat erst vor wenigen Wochen ihr diskographisches Elgar-Debut mit dem von Alisa Weilerstein und Daniel Barenboim interpretierten „Cellokonzert“ gegeben. Doch seien wir ehrlich: Viel ist das nicht.

    Jetzt ist nun aber beim schwedischen Label BIS eine Aufnahme der zweiten Symphonie Elgars herausgekommen, sodass die internationale Dürrephase dieses Werk betreffend nun endet. Der gebürtige Finne Sakari Oramo, der 10 Jahre lang das City of Birmingham Symphony Orchestra leitete, ab diesem Jahr die entsprechende Position beim BBC Symphony Orchestra bekleidet, Träger der Elgar-Madaille und Mitglied des OBE ist, hat nun Elgars Zweite nach Schweden gebracht und mit einem der vorzüglichsten Orchester Skandinaviens, dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra, eingespielt. Zunächst war ich begeistert. Mittlerweile hat sich meine Begeisterung etwas gelegt, und zwar nicht so sehr, weil es doch keine gute Aufnahme ist, sondern weil sie mich persönlich im Vergleich zu dem, was andere Exegeten des Werkes hier an Interpretation geleistet haben, nicht so recht zusagen will.

    Betrachte ich den ersten Satz, so bestaune ich erst einmal wie selbstverständlich Oramo zur Sache kommt. Das ist ein forscher Beginn, lebensbejahend, mit Verve, ganz natürlich, nicht im Entferntesten hektisch, nervös oder aufgeregt. Hinzu kommt der hervorragende Klang der Aufnahme, die die Mittelstimmen gut hervorholt, selten hört man Holz- und Blechbläser so präzise wie hier. Auch lässt mich der Klang des Royal Stockholm Philharmonic Orchestra aufhorchen. Das tönt schon anders als britische Orchester, die bei Elgar gern sattesten Streicherklang präsentieren. Hier klingt das alles sehr viel schlanker, leichter, lichter. Dazu achtet Oramo sehr genau auf Differenzierung. Da kann man fast jeden von Elgar penibelst notierten Hinweis zur Artikulation hören. Oramo gestaltet nicht mit breitem, technicolorgetränktem spätromantischem Pinsel, sondern legt seine Interpretation – so hat es für mich zumindest den Anschein – deutlich klassischer als üblich an. Wo sich sonst der ein oder andere Dirigent in Nobilmenteseligkeit suhlt, da gibt es hier viel häufiger Biss und Griffigkeit. Wenn Sinopoli Elgar mit Blick auf Bruckner und Mahler darstellt, so blickt mir in dieser Aufnahme eher Brahms, vielmehr noch Mendelssohn entgegen.
    Tatsächlich wirkt Oramos Lesart des ersten Satzes wie eine potenzierte Musik zum „Sommernachtstraum“. Der Beginn der Durchführung klingt wie ein hochromantisches Notturno: geheimnisvoll, aber nicht gefährlich. Auch wenn der „malign influence“ auftaucht, den Alice Elgar nicht umsonst als „Ghost“ bezeichnet hat (Ziffer 28), dann ist da nichts Unheimliches, sondern erneut „nur“ etwas Geheimnisvolles. Mir begegnet an dieser Stelle weniger ein böser Geist als vielmehr ein Faun in einem smaragdgrünen Wald. Um Zwielicht und Doppelbödigkeit geht es Oramo mE nicht.

    Der Beginn des zweiten Satzes hört sich fast an, als hätte Sibelius bei der Komposition seine Hand im Spiel gehabt. Oramo lässt die ersten Takte licht und kühl spielen, mit deutlich zurückgenommener Leidenschaft. Das Blechbläsermotiv (67 ff.) klingt wie aus weiter Ferne, tatsächlich wirkt der Satz hier auf mich wie eine Heldengedicht in goldgelben Klängen, mir gehen beim Hören die Worte „Uns ist in alten mæren wunders vil geseit…“ durch den Kopf. Es entwickelt sich in Folge etwas vollkommen anderes als beispielsweise bei Boult (1944) oder bei Sinopoli (1987). Die Tragik, die diesem Satz innewohnt, ist hier nicht gegenwärtig, sie wirkt auf mich vielmehr wie die Tragik vergangener Tage. Insofern kommt es auch nicht zu großen Spannungszuständen, was wiederum dazu führt, dass die Höhepunkte des Satzes (Aufbau ab Ziffer 74 bis Klimax in 76 ff), im Grunde keine kathartische Wirkung haben, und zwar weil éleos und phóbos nicht durchlebt werden, sondern nur von ihnen erzählt wird.

    Der dritte Satz greift jene Leichtigkeit auf, die schon den ersten Satz prägte. Da erlebe ich eine sehr agile Wiedergabe, spielfreudig, ohne Ecken und Kanten, viel Gas, viel Mummenschanz. Tatsächlich eröffnet der Satz – wird er so gespielt – schon sehr deutlich den Blick auf Elgars orchestrales Meisterstück „Falstaff“. Der Höhepunkt des Satzes, die berühmte „Maud“-Sequenz, fügt sich in den spielerischen Ansatz nahtlos ein, sie wirkt auf mich glänzend, virtuos, packend, saftig und ohne jegliche Bedeutung. Wenn ich da an Sargent (1964) denke…

    Das Finale rundet das von Oramo gezeichnet Bild ab. Der Satz beginnt beschwingt, die Holzbläser werden bei der Vorstellung des ersten Themas ausnahmsweise einmal nicht von den Celli überlagert, die Durchführung nimmt Oramo recht zügig, sodass der spielerische Charakter, den schon das Scherzo hatte, hier seine logische Fortsetzung findet. Insgesamt gibt es mE auch hier nur wenig, an dem man sich reiben könnte. Tatsächlich wirkt der Satz auf mich bestens herausgeputzt, sandgestrahlt, ohne Stellen, die zum Nachdenken anregen. Und so macht es mir durchaus Spaß dem glänzenden Spiel zuzuhören, ganz besonders wenn 8 nach Ziffer 165 die Orgel festlichst hinzutritt (Elgar hatte diese optional hinzugefügt) und dann so recht die Wand wackelt. Aber gleichzeitig bleibt auch nichts hängen.

    Zusammenfassend kann ich für mich sagen, dass es sich bei Oramos Lesart des Werkes um eine durchaus ungewöhnliche handelt, die in ihrer durchgängigen Leichtigkeit schon einzigartig ist und zudem noch hervorragend klingt. Es mag an mir liegen, dass mir seine Sicht auf das Werk am Ende weniger gibt als manch andere Interpretation.

    :wink: Agravain

  • Frisch erschienen

    Boult (live: 24.7.1977) – BBC Symphony Orchestra: 16:25 / 12:07 / 08:12 / 13:27

    Bei der vorliegenden Aufnahme handelt es sich um einen Konzertmitschnitt von den Londoner Proms vom 24. Juli 1977. Er ist insofern besonders, als dass es sich bei ihm um den Mitschnitt der letzten Aufführung des greisen Sir Adrian Boult (er war zu diesem Zeitpunkt bereits 88 Jahre alt) von Elgars zweiter Symphonie handelt. Dieses Werk ist mit Boults Namen so verbunden wie kaum ein anderes, hat er es doch 1920 – nachdem es nach seiner mehr oder minder unglücklichen Uraufführung kaum wahrgenommen wurde – wieder aus der Versenkung gehoben und es Zeit seines Lebens immer wieder aufgeführt. Insofern muss es in jedem Konzert in der Royal Albert Hall fast so gewirkt haben, als dirigiere hier Elgar selbst.

    Entsprechend positiv äußert sich Martin Cotton im Beiheft zu dieser frisch erschienenen CD über die Aufnahme, vergleicht sie mit der legendären 49er-Aufnahme und spricht ihr ähnliche Qualitäten zu. Tatsächlich empfinde ich den Text – nachdem ich die Aufnahme nun mehrmals gehört habe – vornehmlich als Hommage, denn ganz so packend, wie es hier dargestellt wird, ist diese Aufnahme mE nicht. Es ist sicher keine schlechte Aufnahme – dafür bewegte sich Boult zu sicher in Elgars Musik. Aber sie geht mich dennoch nicht wirklich an.

    Tatsächlich werde ich aus dieser Aufnahme nicht so recht schlau. Wo will Boult mit mir als Zuhörer hin? Der Beginn des ersten Satzes ist sehr mächtig, bei weitem nicht so forsch und bissig wie die 49er Aufnahme. Der Zug nach vorn ist bei weitem nicht so stark, es wird bei weitem nicht so knackig artikuliert, die Dynamik scheinet mir nicht so präzise umgesetzt (oft spielt das BBC Symphony Orchestra ein ziemlich lautes Piano) und sowohl Dirigent als auch Orchester scheinen mir nicht so involviert wie 28 Jahre zuvor. Ich habe nicht mehr den Eindruck, dass Boult ein bis in die Haarspitzen engagierter Teil der Musik ist, sondern sie (zu?) souverän beherrscht, also bewusst außerhalb von ihr agiert. Die Leidenschaftlichkeit, die beispielsweise bei Ziffer 17 (brillante) durchaus zu hören ist, sie wirkt nicht mehr unmittelbar und mitreißend, sondern kontrolliert und wohldosiert. Dafür schüttelt Boult Momente aus dem Ärmel, die kaum jemandem sonst so gelingen: der geheimnisvolle Beginn der Durchführung, der erste Auftritt des „malign influence“, seine sehr dunkle und lastende Wiederholung, die Übergänge, die Rubati. Das konnte mE nur Elgar besser. Dafür gibt es dann auch überraschend behäbige und uninspirierte Momente („strepitoso“), in denen Boult plötzlich die Spannung, die Agilität abgeht. Dass um Ziffer 51 herum plötzlich der Alarm einer Digitalarmbanduhr (?) losgeht, irritiert nur kurz.

    Die Herangehensweise Boults an den zweiten Satz überrascht mich. Was in den ersten Takten so wirkt, als wolle ein tief empfundener Fluss anheben, entwickelt sich bald zu einem unruhigen, nervösen und bald fahrig wirkenden Geschehen. Der Satz wird sehr schnell musiziert, die Schwere von 1949 höre ich hier nicht. Trauer und Pathos suche ich vergebens. Stattdessen haben die Themen, allen voran das ab Ziffer 71 zu hörende, einen ungewöhnlichen, sich aufbäumenden Charakter und vermitteln mir eine Anstrengung, die den gesamten Satz über ins Nichts läuft, denn Boult verweigert konsequent jeden kathartischen Moment, schließlich lässt er die Höhepunkte (Ziffern 76 und dann wieder 86) konsequent nicht als emotionale Entladung spielen. Es ist wie ein beständiges nervöses Suchen ohne Hoffnung auf ein Finden.

    Das Rondo fällt mir durch seinen wenig organischen Spannungsaufbau auf. Zunächst beginnt der Satz einigermaßen behäbig, spielerisch, fast pastoral, steckenweise gemütlich. Das große Unisono (Ziffer 93) wirkt erfreulich rustikal, dann flaut die Spannung schnell wieder ab und wird nicht konsequent durchgehalten oder weiterverfolgt. Die Musik plätschert etwas vor sich hin, bis es Boult in der „Maud“-Passage so recht krachen lässt. Elgar hätte seine Freude daran gehabt, wie das Schlagwerk hier alles verschwinden lässt. Aber ist das alles?

    Das Finale beginnt nun ausgesprochen nobel, fast ein wenig weichgezeichnet, Ecken und Kanten tauchen hier nicht auf. Das ist sehr „con dignita“, aber nur wenig „maestoso“. Abrupt ändert sich die Stimmung. Ab Ziffer 138 lässt Boult indes schön kraftvoll musizieren, die Durchführung beginnt ausgesprochen erregt, streckenweise prescht er geradezu vehement vorwärts. Dann aber wieder das Phänomen, das mir schon im Larghetto aufgefallen ist: die Höhepunkte (bei 143 und um 165 herum) lässt Boult „implodieren“, die Spannung, die Elgar auf diese beiden Stellen hin ausrichtet, sie kann / darf sich bei Boult nicht in einer leidenschaftlich-orgiastischen Geste entladen. Stattdessen sinkt der Satz in sich zurück und seine Energie verpufft im Äther.

    Mein Fazit? Nun, die Aufnahme lässt mich (gegenwärtig) etwas ratlos zurück. Das Werk geht mich hier nur wenig an, auf allerlei kann ich mir keinen mich zufriedenstellenden Reim machen. Für den Elgar-Sammler handelt es sich aber in jedem Fall um ein interessantes Dokument.

    :wink: Agravain

  • Barenboim (2013), Staatskapelle Berlin – 18:28 / 14:01 / 08:01 / 15:31

    Warum dirigiert Barenboim Elgar? Welches Bild vom Komponisten und seinem Werk will er dem Publikum nahebringen? Vor 40 Jahren hat Barenboim schon einmal Elgar 2 aufgenommen. Schon die ältere Aufnahme lässt mich ratlos zurück. Bei der soeben erschienenen Neuaufnahme ist es nicht anders. Elgars Musik klingt unter seiner Leitung immer irgendwie so, als könne er im Grunde wenig mit ihr anfangen. Hat er im London der 70er Jahre einen Elgar im weichgewaschenen Kitschmodus dirigiert, der bestens als Untermalung zu einer David Hamilton-Schmonzette gespasst hätte, so wird nun stramm durchmusiziert, wobei die mosaikartige Struktur des Elgar'schen Idioms in weiten Teilen ignoriert wird. Nun wieder - wie schon vor 40 Jahren - eine höchst idiosynkratische Herangehensweise an das Werk. Idiosynkrasien schrecken mich nicht zwingend ab, wenn sie etwas erhellen. Doch hier erlebe ich lediglich den starken Wunsch, etwas neu und anders zu machen, dem Werk einen ganz individuellen Stempel aufzudrücken, ohne dass Barenboim es schafft, diesen seinen Elgar aus seinem Inneren nach außen zu transportieren.

    Bereits die Lesart des ersten Satzes will sich mir nicht erschließen. So wird der erste Takt nicht als leicht verzögerter Auftakt, als schwebender Moment vor dem Sprung ins "Allegro vivace" genommen, sondern es geht vom Einsatz an enorm flott los. Das erinnert mich im ersten Moment an Elgars eigene Einspielung aus dem Jahre 1927, die ja ungeheuer schwungvoll daherkommt. Doch bei Barenboim erlebe ich in Folge keinen Schwung, sondern eine Eile, die weniger Lebendigkeit (vivace!) vermittelt als Hektik. Entsprechend musiziert Barenboim scheinbar sorglos über die reichhaltigen Hinweise Elgars zur Artikulation, zur Dynamik und zum Tempo hinweg. Ist Elgar 1927 trotz des hohen Tempos vollkommen Herr der Lage, so entwickelt sich dieser Eindruck in Bezug auf Barenboim nicht so recht. Elgars hohe Kunst ist es ja, seine eigene Musik vollkommen natürlich fließen zu lassen. Er ist ein Meister des Rubato und der schlüssigen Entwicklung eines Gesamtbildes. Barenboim - zumindest hier - nicht. Auf der einen Seite neigt er zum Zuviel, auf der anderen findet sich immer wieder ein Zuwenig. So drosselt Barenboim zwar gegelgentlich das Tempo, dann aber so stark, dass der Fluss der Musik vollkommen zum Erliegen kommt. Das lässt sich schon gut zu Beginn der Durchführung hören (Ziffer 24), die sich kaum zu bewegen scheint, und dann immer wieder, besonders deutlich aber gegen Schluss (und die Ziffer 63 und 64 herum), wo ich das Gefühl habe, Barenboim sei gerade einmal vor die Tür gegangen und das Orchester warte darauf, weiterspielen zu dürfen.
    Zwischendurch – also in der Durchführung selbst - im Wesentlichen nach meinem Dafürhalten Scheiterndes. Die Durchführung lebt doch vom Auftauchen des „malign influence“, vom dezidiert Unheimlichen, das da auf die sprudelnd-leidenschaftliche Musik der Exposition folgt. Doch das Unheimliche stellt sich nicht ein. Statt eine Atmosphäre latenter Bedrohung herauszuarbeiten, lässt Barenboim die Celli das besagte böse Thema lediglich voll des hohlen Pathos schluchzen. Anschließend scheint er sich auf die Gestaltung einzelner Takte zu konzentrieren. Das ist ja an sich auch eine Möglichkeit, könnte man auf diese Weise doch die mosaikartige Kompositionsweise Elgars, wie sie Diana McVeagh beschrieben hat, erhellen. Aber das, was im Kompositionsprozess einzelne Mosaiksteine waren, muss im fertigen Satz wieder zu einem Gesamtbild amalgamiert werden. Und das gelingt Barenboim meines Erachtens nicht. Selten haben ich eine Wiedergabe dieses Satzes gehört, die mir so durch und durch leer vorgekommen ist.

    Im Larghetto geht es im Prinzip so weiter. Nach einem schönen Einstieg und 18 wirklich intensiven Takten scheint der Gestaltungswille verpufft zu sein. Das herrliche Streichermotiv ab 5 nach Ziffer 68 gestaltet Barenboim ohne jeglichen Aufschwung, das anschließende Posaunen-Motiv, das manch ein anderer Interpret wie einen düsteren Ruf zum letzten Tag spielen lässt, hier erscheint es ohne jegliches Gewicht. Der Satz ist bei Barenboim durchweg ohne jene Tragik, von der geradezu existenziellen Hoffnungslosigkeit, die beispielsweise Sinopoli hier herausschält, gar nicht zu reden. Es geht so weiter. Bei der Vorstellung des zweiten Themas spielen Violinen und Bratschen scheinbar unbeteiligt nebeneinander her, die große Steigerung ab Ziffer 74, die Boult mit so ungeheurer Sicherheit aufbauen kann und der Sargent einen geradezu unwiderstehlichen Sog verleiht, wirkt auf mich ohne jegliche Motivation, ohne den Blick auf ein Ziel hin. Es überrascht insofern nicht, dass sich bei Ziffer 76 ff ein "Nobilmente" nur mit viel Liebe hören lässt und dass auch die eigentliche Klimax des Satzes bei 86, dort, wo die hohen Streicher gemeinsam im Fortefortissimo, mit Vibrato und eben „molto espressivo“ den letzten glanzvollen Moment des Satzes herausjubeln sollen, bevor der Satz in endgültige Dunkelheit versinkt, verpufft.

    Das Rondo beginnt Barenboim erneut in einem furiosen Tempo. Von dieser Idee abgesehen, kommt dann nicht mehr viel, was mich mit dem bislang Gehörten versöhnen könnte. Denke ich an Solti, an die lärmende Brillanz, die dieser Satz haben kann, an Sargents grandios böse Brachialität in der „Maud“-Passage, an den Furor Swetlanows und an die elegante Agilität Ormaos, so drängt sich mir die Frage auf: Kann man da nicht mehr daraus machen, als den Satz eben schnell zu spielen? Ich meine: Elgar notiert ja Presto. Aber wo ist der packende Zugriff? Wo ist die Spielfreude? Warum klingt das so schwerfällig? Wo ist das Koboldhafte? Wo der spontane Wechsel im Tonfall (z.B. bei 106, Holzbläser)? Wo das „Gehämmer“ (Elgar), das in der besagten Tennyson-Passage alle Musik totschlagen soll? Ich zumindest höre davon nichts.

    Das Finale beginnt Barenboim mit einer schönen, heiter-gelassenen Vorstellung des ersten Themas. Gut klingt das. Doch es ist wie im Larghetto: Nach wenigen Takten fehlt der Biss. Das zweite Thema wird in einer eigentümlich eilig-verschmierten Art eingeführt, dem Richter gewidmeten „Hans himself“-Thema fehlt vollkommen die große Geste, die kraftvolle Größe. Ich will es kurz machen. Der ohnehin nicht ganz leicht zu gestaltende Satz gelingt nach meinem Dafürhalten - aus ähnlichen Gründen wie der erste - nicht. Kein Blick für das große Ganze, eine gewisse Ziellosigkeit des Musizierens, eine streckenweise enorm zählzeitenlastige Artikulation, viel Vertikale, wenig Horizontale, der an sich hymnische Höhepunkt (nach 165) ohne Biss, eine im Tempo enorm zähe überdehnte Coda.

    Mein Fazit? Ich freue mich natürlich über Barenboims Einsatz für Elgar hier in Deutschland. Aber – ich kann es nicht anders sagen – sein Elgar sagt mir nichts. Gar nichts.

    :wink: Agravain

  • Aus "eben gehört" kopiert und leicht bearbeitet:

    Hallo!
    Habe zuerst Elgars 2. Sinfonie in einer beeindruckenden Aufführung (nochmals) mit Vasily Petrenko gehört.
    Da bleibt kein Auge trocken, das fetzt und donnert, das Blech dröhnt, eine Klangorgie, wie man sie nicht besser anrichten kann.
    Da stehen die Bärenfellmützen stramm, erglühen die Runkelrüben (frei nach Rühmkorf).
    Dann nochmal gehört und dabei festgestellt, das es eigentlich eine fürchterlich triviale und zugleich auftrumpfende Musik ist. Selbstverliebt ins Empire! Ein Riesensch....!! Aber immer würdig! Da blinken die ORDEN! Sowas hatte Kaiser Willem nicht aufzubieten!
    Allerdings die Cantilene, die den 2. Satz begleitet, ist nicht ganz ohne. Sie gefällt mir!
    (Viel besser als der Schmonz, der einem im Cellokonzert geboten wird)

    Dann fiel mir ein: Meine Lieblingsstelle sentimentaler Art ist doch hier:
    7. Sinfonie ab !ca. 27 Minuten. Allan Pettersson.

    Was für eine Wohltat im Vergleich zu Elgar! Hier ist es die Ruhe im Sturm, der dann weiter geht und in totaler Erschöpfung endet.
    Pettersson war eben ein Komponist, der "Sinfonien konnte".

    Seither glaube ich, dass Sir Thomas Beecham recht hatte, als er auf die Frage, welches Elgars Meisterwerke seien, geantwortet haben soll. "Alles was er nach 1935 komponiert und aufgeführt hat." :klatsch:
    Gruß aus Kiel

    PS: Meine Skepsis an Elgars Musik ändert natürlich nichts daran, dass ich AGRAVAINs sorgfältig recherchierte Artikel und Besprechungen über die Musik "unserer Inselnachbarn" mit Lust verfolge und mich zuweilen ermuntern lasse, mal das eine (VW) oder das andere (Brian, Lloyd) in meine Bestände aufzunehmen. Klaro muss da auch Elgar stehen, aber eher zur Komplettierung. Und natürlich zur Vorbereitung auf die "Last Night of the Proms".

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • Hallo zusammen,

    wer an einem Live-Mitschnitt des Proms-Konzerts mit dieser Symphonie mit Barenboim und der Staatskapelle Dresden aus den vergangenen Tagen interessiert ist, findet diesen hier.

    Gruß Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)

  • mit Barenboim und der Staatskapelle Dresden

    Staatskapelle Berlin, nicht Dresden - hätte mich doch sehr gewundert, wenn Barenboim mit letzterer auf Tournee gehen würde.

    Ich kann's leider nicht abspielen, es wird angezeigt: "BBC iPlayer only works in the UK".

    :wink:

    .

  • Lieber Bernd,

    Du hast zweifelsfrei recht: Staatskapelle Berlin muss es natürlich lauten.

    Ich hatte in den vergangenen Jahren kein Problem, den Wiedergaben zu lauschen, ich glaube, es hat bei mir schon gereicht, mit Strg+Hochstelltaste+N ein anonymes Browserfenster zu öffnen ... Ich komme nur nicht dazu, das in den kommenden Tagen noch mal zu verifizieren.

    Gruß Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)

  • Petrenko (2016), Royal Liverpool Philharmonic Orchestra – 19:14 / 15:04 / 07:58 / 16:50

    Nach einer einigermaßen durchwachsenen Aufnahme der ersten Symphonie Edward Elgars ist bei Onxy nun die 2016 entstandene Einspielung der zweiten Symphonie mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Vasily Petrenko erschienen. Es ist erneut eine Aufnahme, bei der man sich fragt, ob es zwingend sein muss, dass ein jeder Dirigent, der ein renommiertes englisches Orchester leitet, unbedingt Einspielungen von Elgars Symphonien – quasi als Visitenkarte – vorlegen muss. Im Falle Petrenko ist es nämlich so, dass er mit „seinem“ hervorragenden Orchester aus Liverpool zwar ganz wunderbare Aufnahmen Schostakowitschs, Rachmaninows oder Tschaikowskis vorgelegt hat und man darum meinen könnte, dass ihm auch der spätromantische Elgar liegen müsse, doch ist es nicht an dem. Auch die zweite Elgar-CD verdeutlicht, dass Petrenko ganz offenkundig keinen wirklichen Zugang zu Elgars Symphonik gefunden hat.

    Dabei beginnt es so ausgesprochen gut. Der erste Satz beginnt schwungvoll, ohne aber in irgendeiner Form exaltiert zu wirken. Tatsächlich berücksichtigt Petrenko ganz genau, dass es in der Vortragsbezeichnung nicht nur allegro vivace, sondern eben auch nobilmente. Das zweite Thema (Ziffer 8 ) erklingt in einem wunderbaren espressivo, herrlich klingen auch das noble Unisono der Violinen ab Ziffer 10 und die wunderbare Cello-Kantilene ab 11 (dolce e delicato). Überhaupt strahlt dieser Abschnitt eine ganz herrliche klangvolle Ruhe aus. Sehr gut gelingt Petrenko der Aufbau des Erregungsniveaus bis hin zum ersten Höhepunkt im fortefortissimo bei Ziffer 21. Nach einer gelungenen Überleitung zur Durchführung wirkt diese angemessen undurchsichtig, zwielichtig, wie unsicheres Gelände. Man fragt sich, wo die Reise wohl hingehen wird. Petrenko lässt sich hier viel Zeit, um diese geheimnisvolle Episode („malign influence“) schlicht hervorragend musizieren zu lassen (herrlich die Celli, herrlich auch das durchweg wunderbar changierende Spiel zwischen piano und pianissimo des RLPO). Das zweite Auftauchen der Passage ist dann wiederum nicht nur Wiederholung, sondern neuerliche Gestaltung, klingt sie doch dieses Mal ausgesprochen bedrohlich. Glänzend gelingt von hier aus dann der Übergang in die Reprise und auch Petrenkos Gestaltung der Coda zeigt noch einmal, dass er durchaus Gespür für die Architektur, die Innenspannung und das Handling dieses Satzes hat.

    Aber dann.

    Das sich anschließende Larghetto ist der zentrale Satz dieser Symphonie. Durch Petrenkos Lesart weht von Anfang an eine zarte, irgendwie unverbindliche Melancholie. Die Tragik, die ein Boult oder ein Sargent aus den ersten Takten herauskitzelt – ganz zu schweigen von dem Abgrund, den Sinopoli hier unmittelbar eröffnet –, bei Petrenko findet man dergleichen nicht. Stattdessen fokussiert er sich auf ein gefälliges Fließen der Musik (ab 68), auf die Herausstreichung klanglicher Delikatesse (71 ff.), auf die Betonung des Sehnsuchtsvollen (ab 72). Doch damit scheint mir der Satz in seiner Bedeutung nicht ausgeschöpft zu sein. Man hat es hier nicht mit einer süßlichen Petitesse zu tun, sondern mit einem Satz, der an die Nieren geht bzw. gehen sollte. Wir ungeheuer spannungsvoll und soghaft etwa gestalten – um bei dem Vergleich zu bleiben – Boult und Sargent den ungeheuren Aufschwung ab Ziffer 74, der sich schließlich kathartisch in einem "Moment von tröstender Erhebung, gerade so wie die Sonne, wenn sie plötzlich durch die Wolken bricht“ (Michael Kennedy) entlädt. Und wie leichtgewichtig und uninteressant klingt es hier. Wenn eine Stelle wie diese misslingt, dann fehlt m.E. deutlich der Blick für die Tiefe des Satzes und die Profundität der Empfindungswelt des Komponisten. Dieser Blick stellt sich auch im weiteren Verlauf des Satzes nicht ein.

    Das Rondo nimmt Petrenko zügig, lebendig, aber ohne übermäßige Eile. Es ist eine durchaus energiegeladene Lesart mit einem stets kraftvollen Grundpuls, der auch in den ruhigeren Momenten im Hintergrund spürbar ist. Leider misslingt Petrenko die wilde „Maud“-Episode, weil er sie bereits zu Beginn zu laut spielen lässt. Die ungeheure dynamische Steigerung, die schon fast primitive Vehemenz, die sich Elgar für diesen Abschnitt wünschte („Das Gehämer muss nach und nach alles andere übertönen. Meine Herren am Schlagwerk: Sie müssen mir alles geben! Ich möchte, dass sie peu à peu den Rest des Orchesters ertränken."), sie verpufft hier einigermaßen vollständig.

    Tiefpunkt dieser Aufnahme ist indes die Wiedergabe des letzten Satzes. Zwar beginnt er durchaus erfreulich in einem schön fließenden moderato mit einem Tonfall, der mehr con dignita nicht sein könnte. Sehr klangvoll gelingt die Vorstellung des zweiten Themas bei Ziffer 139. Danach aber fällt die bislang herrschende Spannung deutlich ab. Petrenko vermindert das Tempo und die Luft ist unmittelbar raus. In der Durchführung werden lediglich Töne exekutiert, Musik hört man selten. Selbst con fuoco zu spielende Passagen (z.B. Ziffer 149) kommen nur noch müde daher. Der „Galeeren-Episode“ (Ziffer 152 ff.) fehlt es nicht nur an Gewicht, es wirkt vielmehr so, als würde sich Petrenko zusehends langweilen. Das ist bei einem Satz wie diesem, der ohnehin nicht leicht überzeugend zu gestalten ist, fatal. Selten habe ich nach Ziffer 152 so viel Desinteresse durch eine Wiedergabe wehen hören. Da kann auch die Tatsache, dass der ruhige Schluss wirklich ausgesprochen klangschön gespielt wird, das Ruder nicht mehr herumreißen.

    Eine Aufnahme, die mich ihrer Gesamtheit kaum zu überzeugen vermag.

    :wink: Agravain

  • vergleicht sie mit der legendären 49er-Aufnahme

    bissig wie die 49er Aufnahme

    die Schwere von 1949

    Lieber Agravain, kann es sein, das Du im Eifer des Gefechts die '49 Aufnahme der 1.Sinfonie mit der 44er der Zweiten verwechselt hast ?

    Good taste is timeless "Ach, ewig währt so lang " "But I am good. What the hell has gone wrong?" A thing of beauty is a joy forever.

  • Lieber Agravain, kann es sein, das Du im Eifer des Gefechts die '49 Aufnahme der 1.Sinfonie mit der 44er der Zweiten verwechselt hast ?

    Jau. Die Ziffer ist verdreht. Die Beschreibung indes bezieht sich auf die Zweite - die (wie ich meine) je nach Satz sowohl bissig als auch gewichtig ist.

    :wink: Agravain

  • Ich habe gestern seit sehr langer Zeit einmal wieder die 2. Symphonie von Edward Elgar aufgelegt und zwar die Aufnahme, die m.W. viele für einer der Referenzen halten, nämlich die mit Sir John Barbirolli. Die wurde hier bisher gar nicht näher erwähnt (außer in der Übersicht). Gibt es einen Grund dafür?

    Ich bin jetzt nicht so der große Elgar-Fan, aber der zweite Satz berührt mich doch immer sehr tief. Da hat ihn die Muse wahrlich geküsst. Das geht mir dann tagelang nicht aus dem Kopf.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • In einer seiner beliebten Videobotschaften hat David Hurwitz kürzlich seine "10 most overrated records" benannt. Also Aufnahmen, die nicht unbedingt schlecht sind, aber den Kultstatus, den sie geniessen, nicht rechtfertigen können. Darunter war auch die Stereo-Aufnahme von Elgars 2. Symphonie mit dem Halle Orchestra unter John Barbirolli. Hurwitz schätzt Barbirollis Elgar eigentlich sehr und macht für diese Abwertung auch in erster Linie die nicht-erstklassige Performance des Provinzorchesters verantwortlich.

    Zu dieser Studio-Aufnahme gesellen sich jetzt zwei Liveaufnahmen aus dem gleichen Jahr. Die John Barbirolli Society (deren Mitglied ich mal für einige Jahre war) hat einen Mitschnitt der BBC mit einem ihrer Orchester herausgebracht. Den habe ich nicht gehört und ich konnte bisher auch nicht herausfinden, ob der nicht noch in Mono war, denn die BBC hat relativ spät begonnen, Stereoaufnahmen zu machen.

    Viel interessanter - weil mit einem Weltklasseorchester - ist eine Liveaufnahme, die heute auf den Tag vor 58 Jahren in Boston mitgeschnitten wurde, professionell und in Stereo. Diese Aufnahme kann man auf bandcamp hören und für wenige Pfunde auch herunterladen. Das Boston SO hat diese Symphonie vermutlich vorher selten - wenn überhaupt - gespielt, aber sie tut es hier auf der vordersten Stuhlkante und Dirigent und Orchester sind offenkundig eins. Meine neue Referenz!

    Aus der gleichen Quelle (Crq Editions) gibt es übrigens auch eine Liveaufnahme von Elgars 1. Symphonie, diesmal mit Halle, die fünf Tage vor Barbirollis Tod entstanden ist.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • nämlich die mit Sir John Barbirolli. Die wurde hier bisher gar nicht näher erwähnt (außer in der Übersicht). Gibt es einen Grund dafür?

    Ja. Diesen:

    In einer seiner beliebten Videobotschaften hat David Hurwitz kürzlich seine "10 most overrated records" benannt. Also Aufnahmen, die nicht unbedingt schlecht sind, aber den Kultstatus, den sie geniessen, nicht rechtfertigen können. Darunter war auch die Stereo-Aufnahme von Elgars 2. Symphonie mit dem Halle Orchestra unter John Barbirolli.

    Tatsächlich gehe ich mit Hurwitz hier d‘accord. Allerdings erscheint mir das Argument, dass Hallé Orchestra spiele eben nur mäßig, nicht so recht überzeugend. Betrachte (oder „belausche“) ich Barbirollis Elgar-Diskographie, so komme ich immer wieder zu dem Schluss: ja später desto mäßiger. Tatsächlich haut mich auch Boston 1964 interpretatorisch ebenso wenig vom Hocker wie die 1964er Studioproduktion mit dem Hallé oder der jüngst erschienene Mitschnitt aus Coventry Cathedral aus demselben Jahr. In allen Fällen sind es insbesondere die Ecksätze, die Barbirolli dramaturgisch nicht (mehr) so recht im Griff zu haben scheint.

    Dass das aber kein grundsätzliches Problem für ihn war, zeigt m.E. die 10 Jahre zuvor produzierte Aufnahme mit dem Hallé Orchestra, die ursprüngliche bei EMI erschien und von auch von der Barbirolli Society wiederveröffentlicht wurde:

     

    Die ist - meine ich - wirklich sehr hörenswert.

    Die John Barbirolli Society (deren Mitglied ich mal für einige Jahre war) hat einen Mitschnitt der BBC mit einem ihrer Orchester herausgebracht. Den habe ich nicht gehört und ich konnte bisher auch nicht herausfinden, ob der nicht noch in Mono war, denn die BBC hat relativ spät begonnen, Stereoaufnahmen zu machen.

    Mono. Klanglich insgesamt ziemlich mäßig. Die Interpretation bisweilen erratisch. Insgesamt verzichtbar, meine ich. Zumindest für mich. Ich hatte ursprünglich vor, eine längere Besprechung der Aufnahme zu schreiben, beim Hören hat mich dann allerdings die Motivation verlassen. Schlecht2

    :wink: Agravain

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