OFFENBACH: Les contes d'Hoffmann – Märchenhafte Episoden oder postmodernes Drama?

  • Lieber Boris!

    Ich habe jetzt einen großen Querschnitt, wo Rita Streich alle drei [vier] Sopranpartien singt, bei der Giuletta bleibt ihr zwar nicht viel, aber Josef Metternich [der ansonsten für mich einen ungehobelten Bass hat] singt die vier Bösewichter, großartig. Der Hoffmann ist Rudolf Schock,

    es war dieses einstens eine 45er LP Langspielplatte und sie ist äußerst selten zu bekommen - und sie ist in Deutsch gesungen.

    Liebe Grüße sendet Dir Peter aus Wien. :wink: :wink:

  • Lieber Peter,

    ich schätze diese Aufnahme sehr, dass ich ja ein Schock-Fan bin, ist ja hinlänglich bekannt, besonders als Hoffmann, finde ich, hat er eine seiner besten Rollen, und Josef Metternich ("Schmetternich") ist hier auch sehr eindrucksvoll, zudem er auch ein sehr guter Scarpia meiner Meinung nach war. Rita Streich gefällt mir auch sehr.

    „Orchester haben keinen eigenen Klang,den macht der Dirigent"
    Herbert von Karajan

    „nicht zehn Prozent meiner Musikleute verstehen so viel von Musik wie diese beiden Buben“.
    Karajan nach einem Gespräch mit den Beatles George Harrison und Ringo Starr.

  • Wie war's denn?

    Matthias

    "Bei Bachs Musik ist uns zumute, als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf." (Friedrich Nietzsche)
    "Heutzutage gilt es schon als Musik, wenn jemand über einem Rhythmus hustet." (Wynton Marsalis)
    "Kennen Sie lustige Musik? Ich nicht." (Franz Schubert)
    "Eine Theateraufführung sollte so intensiv und aufregend sein wie ein Stierkampf." (Calixto Bieito)

  • Naja, ich fands eher enttäuschend. Die Fassung war so eine Art "informierte Oeser-Fassung", zwar haben die Spiegelarie und das Septett gefehlt, allerdings war sonst vieles von der Keck-Kaye Fassung nicht enthalten. Vokal fand ich das Ganze eher soliden Durchschnitt. Grauslich fand ich, dass es auf Deutsch gesungen war, zumal gerade der Sänger des Hoffmann Joel Montero mit der deutschen Diktion mitunter Probleme hatte, auch wenn seine Stimme ganz schön ist. Adreana Kraschewski sang durchweg sicher und ausdrucksvoll, allerdings war sie mir als Olympia etwas zu glanzlos, unbeweglich. Olafur Sigurdason fehlt in meinen Augen jegliche Dämonie, sein eher hell timbrierter Bariton und seine Art zu singen passen m. E. besser zu anderen Rollen. Orchester, Chor und Dirigat ähnlich, zwar solide, allerdings eher träge.

    „Orchester haben keinen eigenen Klang,den macht der Dirigent"
    Herbert von Karajan

    „nicht zehn Prozent meiner Musikleute verstehen so viel von Musik wie diese beiden Buben“.
    Karajan nach einem Gespräch mit den Beatles George Harrison und Ringo Starr.

  • Ich habe jetzt eine französisch gesungenen Hoffmann, von meiner LP Ges., gebrannt und zwar diesen:

    Herausragend ist der Hoffmann von Leopold Simoneau mit wundervoll phrasierenden Tenor, seine Gattin Pierette Alarie die bei Elisabeth Schumann gelernte Koloratursopranistin als Olympia, und als Giulietta, Antonia und Muse - Sucanne Danco, die mich im Don Giovanni einigermaßen, einmal als Donna Anna und einmal als Donna Elvira [in der legendären Siepi / Güden / della Casa Aufnahme] enttäuschte als blendende strahlende Sängerin und Darstellerin. George London in der Partie der Vier Bösewichter wie auch in Wien bei blendender Stimme und wundervollem Französisch und noch dazu die Verkörperung des Böse und Gemeinen. Der Crespel von Deszö Ernster asl fürsorglicher Vater der Antonia und Lucretia West sowohl als Nickolause und Stimme der Mutter.

    Das kam in der Volksoper des öfteren vor, da sang Sonja Draksler beide Partien.

    Eigentümlicherweise steht auf der von Lee Schaenen, am 14.4.1959, perfekt dirigierte Aufnahme auf meiner LP Ges. das Orchester der RAI und am Cover Wien 1954.

    Es handelt sich um die Aufführung wo der Giuletta Akt als 2. Akt steht und es ist natürlich die "Diamantenarie" und das "Septett aus dem 2. Akt" drauf.

    Eine ältere aber perfekte Aufnahme, noch dazu zu einem wirklich günstigem Preis.

    :wink:

  • Liebe Capricciosi!

    Auch am Theater an der Wien: kein vollständiger Hoffmann, sondern eine zusammengekürzte Kaye/Keck-Fassung mit Choudens-Einsprengseln. Soweit ich die verwendeten Fassungen und Striche mitgekriegt habe:
    1. Akt: Auftritt der Muse "La verité, dit-on" vorhanden. Szene Lindorf-Andres gestrichen, Lindorf bekommt den Brief nonverbal.
    2. Akt: Die Muse singt die Couplets "Voyez-là son éventail". "Les oiseaux dans la charmille": zweite Strophe gestrichen. "Brillenterzett" vorhanden.
    3. Akt: Die Muse singt die Romance "Vois sous l'archet frémissant". Die Couplets des Frantz sind gestrichen, und die Rolle auch in den Rezitativen und Dialogpassagen gekürzt (es entfällt z.B. die Szene mit Hoffmann und Nicklausse). Das Terzett schien auch sehr kurz, ich bin mir nicht sicher, ob es vollständig war. Nach dem Terzett (Antonia bricht zusammen) gleich Vorhang, das Finale war gestrichen.
    4. Akt: Hoffmanns Couplets sind auf eine Strophe gekürzt (eine nette Geste gegenüber dem Tenor). Dapertutto singt "Scintille, mon miroir" [sic!] - so entfällt "Tourne, tourne mon miroir" leider sowohl im 2. als auch im 4. Akt, dabei ist es die Hauptarie mit "key signature" des Basses... Giulietta singt "L'amour lui dit: la belle". Septett zu Recht nicht verwendet, das neue Finale (inkl. Giuliettas und Pitichinaccios Tod) folgt direkt auf das Duett "Ton ami dit vrai", in dem Giulietta Hoffmann das Spiegelbild abluchst. Die Orchesterversion der Barcarolle, die bei Choudens zwischen Antonia-Akt und Epilog steht, entfällt natürlich. Was den Giulietta-Akt betrifft, sollte ich aber wirklich einmal die Kaye/Keck-Partitur studieren, um bei den vielen Fassungen und Varianten richtig durchzublicken. Es kann sein, dass ich da noch einiges übersehen habe.
    5. Akt: Nach dem Éclat mit Stella singt die Muse die Romance "De cendres de ton coeur", zu der auch Stella eine Strophe singt, in der sie ihren Verzicht auf Hoffmann kundtut, um ihm bei seiner künstlerischen Karriere nicht im Weg zu stehen.

    Geärgert habe ich mich aber über die Ignoranz einer Kritik wie der folgenden:

    Zitat

    Die Presse, 5. 7. 2012
    [...] Roxana Constantinescu plagt sich mit manch komplizierter Wendung in den vielen Couplets, die man in dieser Produktion alle, alle zu hören bekommt.
    Jedenfalls beantwortet Roland Geyer die Frage, was aus dem verwirrenden Sammelsurium an Liedern und Ensembles, die Offenbach für sein ehrgeiziges Opernprojekt ungeordnet hinterlassen hat, auszuwählen ist. Möglichst viel. Das macht den Abend lang, und man sehnt sich nach Otto Schenks einstige [sic!] Strichfassung zurück. Da konnte man noch nicht so viel wählen, „Hoffmann“ war ein Dreiakter mit knappem Prolog und noch knapperem Finale – ohne dass man das Gefühl gehabt hätte, etwas zu versäumen. Das Spiel war konzis, mitreißend. An der Wien ufert es jetzt aus, ohne nennenswerten Zugewinn für Musik und Dramaturgie. [...]

    Es kann ja keine Rede davon sein, dass Roland Geyer "möglichst viel" ausgewählt hätte; die Striche habe ich oben verzeichnet. Und der Abend war mit 3 Stunden 20 Minuten (inkl. Pause!) auch nicht wirklich lang. Es ist ein starkes Stück, sich heute noch nach einem verstümmelten Hoffmann mit seiner konfusen Giulietta-Dramaturgie zurückzusehnen und seine Abneigung gegen Offenbachs Couplets, die man leider "alle, alle zu hören" gezwungen ist (darunter solche Perlen wie "L'amour lui dit" - wohl die aufregendste Sopranarie der Oper -, "Voyez-là son éventail" und "Vois sous l'archet frémissant"), öffentlich kundzutun. Vielleicht sollte die Presse zukünftig einen echten Kulturjournalisten in die Oper schicken, der mit dieser Kunstform etwas anzufangen vermag, über die Hintergründe der Entstehung aufgeklärt ist und die Qualität einer Aufführung nicht nur nach ihrer Kürze bemisst. Wilhelm Sinkovicz hat sich mit dieser Kritik als ernstzunehmender Musikjournalist und seriöser Musikwissenschaftler jedenfalls selbst disqualifiziert.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Das Contes d'Hoffmann-Spiel: die Bühnenfassungen der Capricciosi

    Liebe Capricciosi!

    Michael Kaye und Jean-Christophe Keck haben in ihrer neuen Edition von Offenbachs "Les Contes d'Hoffmann" alle nur greifbaren Versionen und Musikteile dieser Oper, die ja schon viel mitgemacht hat, ediert (auch von Offenbach selbst wieder verworfene Fassungen, und auch fremde Zusätze, die nach Offenbachs Tod in die Partitur gerieten) und - da es dramaturgisch kaum möglich ist, alle bekannte Musik an einem Abend zu bringen, und außerdem viele Opernintendanten und auch Opernbesucher anscheinend Angst vor einem zu langen "Hoffmann" haben, eine Angst, die ich nicht teilen kann - den Opernhäusern freigestellt, sich ihre eigenen Spielfassungen daraus zusammenzustellen. Das will ich nun in diesem Thread gerne nachstellen: Ich bitte euch, ebenso aus dem vorhandenen Material eine euch genehme, spielbare Fassung herzustellen. Besonders Hardcore-Sammler wie Rideamus und Waldi müssen ja jede Menge Versionen und Musikstücke bereits kennen. Leute, die mit der Fassungsproblematik des "Hoffmann" weniger vertraut sind, finden hier auf den letzten Seiten eine großartige Übersicht zum Aufbau des Stückes und zu parallelen Fassungen:

    http://www.schott-music.com/shop/resources/694158.pdf

    Mir selbst ist bisweilen auch Youtube sehr nützlich zum Nachhören der einen oder anderen Version.

    Das Spiel geht also einfach so: Ihr schreibt die Musiknummern, die ihr auswählt, in der Reihenfolge, in der ihr sie spielen wollt, auf (bitte bei Fassungen, die sich nur in der Tonart unterscheiden, auch die Tonart angeben!). Selbstverständlich könnt ihr auch angeben, ob ihr das Stück mit Dialogen oder Rezitativen spielen wollt, oder gar Dialoge und Rezitative mischen. Besonders nett fände ich es, wenn ihr auch dazuschreiben würdet, aus welchen Überlegungen und Gründen heraus ihr diese oder jene Musiknummer auswählt bzw. diese oder jene Musiknummer streicht.

    Ich freue mich auf interessante Capriccio-Bühnenfassungen!

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Lieber Areios,

    bist Du Dir eigentlich im Klaren darüber, was Du hier für eine Herkulesarbeit erwartest? Ich bin ja schon mit wenigstens einer ganzen Reihe der nahezu unzähligen Versionen dieser Oper vertraut, aber ich würde mich damit überfordert fühlen, alle in dem Vorwort aufgeführten Variationsmöglichkeiten mit ihren jeweiligen Konsequenzen zu durchdenken - ganz zu schweigen davon, daraus eine aufführbare Version zusammenzustellen. Während eine gute Tonaufnahme alle Alternativen registrieren und anbieten kann (die letzte von Nagano kommt dem ja schon recht nahe), ist das auf dem Theater und folglich auch auf einer DVD kaum denkbar, denn es ist zwar kein Takt überflüssig, ein komplettes Angebot würde aber mindestens eine enorme Herausforderung an Regie und Sänger bedeuten, die sich leider in der Regel gegen die Beteiligten auswirken dürften.

    So bin ich zum Beispiel ein großer Fan von David McVicars Salzburger Mischfassung mit ihrer erheblichen Aufwertung der Rolle des Nicklausse bzw. der Muse. Leider verlangt sie auch enorme Anstrengungen von allen Beteiligten, und es kommt sicher nicht von ungefähr, dass sie in dieser Form nicht wieder aufgegriffen wurde.

    Mein Favorit ist nach wie vor die Fassung, die Marc Minkowski und Laurent Pelly in Lausanne erarbeitet haben und seither in mehreren französischen Städten aufführten, und ich würde Deine Aufgabenstellung lieber dahingehend interpretieren, dass ich anhand einer lang geplanten Beschreibung dieser leider nicht allgemein zugänglichen Inszenierung die angebotenen Alternativen diskutiere. Das aber ist allein schon ein ziemliches Stück Arbeit, das noch eine Weile brauchen wird.

    Ich bitte also um Nachsicht dafür, wenn ich mich trotz großem Interesse hier eher kaum oder nur kommentierend zurückmelde.

    Ein paar Grundpfeiler würde ich aber jetzt schon einschlagen wollen:

    1. Ich bin der Meinung, dass Offenbachs ursprüngliches Konzept einer durchkomponierten Oper besser auf ihr Konzept passt als die zuletzt erarbeitete Fassung mit Dialogen. Insofern teile ich die Auffassung der Herausgeber, dass Offenbach mit einer Rezitativfassung einverstanden gewesen wäre und diese auch komponiert hätte, wäre ihm die Zeit dafür geblieben. Vor allem aber hat diese Entscheidung praktische Gründe, weil sich nämlich heute kaum mehr ein gutes Ensemble vereinigen lässt, das die französischen Dialoge wenigstens sauber aussprechen, geschweige denn richtig gestalten kann.

    2. Ansonsten würde ich so weit wie möglich dem letzten erkennbaren Willen Offenbachs folgen und alle späteren Änderungen abweisen. Die einzige Ausnahme ist das grandiose Septett mit Chor, das ich gerne erhalten würde, wenn dies irgendwie machbar wäre, weil mir für den Giulietta-Akt zwei große Ensembles nicht unangemssen erscheinen. Dagegen empfinde ich die Münchener Entscheidung gegen das Septett und für die Bassarie "Scntille diamant" als einen hirnrissig inkonsequenten Kniefall vor dem Gaststar.

    3. Einige Sympathie habe ich für ein Eindampfen der Dienerrollen. Andererseits dokumentieren diese Partien am deutlichsten, wo Offenbach her kam. Ich würde es also vom Ablauf der gesamten Aufführung abhängig machen, wie viel davon erhalten bleiben kann und muss. Eine fast komplette Eliminierung der Rollen wie in München ist jedenfalls nicht die Lösung.

    Weiteres ergibt sich vielleicht in der Diskussion, auf die ich ebenfalls hoffe.

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Ich bin im Hoffmann und all seinen Versionen nicht annähernd so versiert wie Rideamus, obwohl ich diese Oper sehr liebe, daher hier keine spezielle Fassung, sondern nur ein paar sehr persönliche Wünsche:

    Die von Rideamus angesprochene Aufwertung der Muse bitte auf alle Fälle beibehalten!

    Die Oper bitte ohne gesprochene Dialoge spielen, die sind mir neulich bei Walter Felsenstein schon ganz gehörig auf den Sender gegangen... :hide:

    Das verbale Duell der gepflegten Unverschämtheiten zwischen Hoffman und Lindorf bitte unbedingt beibehalten (Quand on parle du diable, on en voit les cornes...)
    Ich finde es immer sehr schade wenn das wegfällt, denn ich mag diese Stelle sehr.

    Reihenfolge Olympia-Antonia-Giulietta.

    Bitte weder Olympias Arie noch gar das Terzett Mirakel-Antonia-Stimme der Mutter kürzen. Ebenfalls bei Felsenstein erlebt und ebenfalls grollend zu Kenntnis genommen. Bei Olympias Arie kann ich es noch verzeihen, aber das Terzett zu kürzen... :boese:

    Und wenn’s genehm ist MIT Spiegelarie und Septett. Vor allem das Septett ist einfach zu großartig um es unter den Tisch fallen zu lassen (da kann ich noch eher auf die Arie verzichten).
    Ich weiß ich bin spießig, aber ich bin das so gewohnt, ich mag das so und ich möchte das auch bitte weiter so haben. Danke. :angel:

    Eine Version die mich in vieler (nicht in jeder) Hinsicht glücklich macht ist diese:
    Klick
    Das liegt aber nun auch nicht zuletzt ganz entschieden an der Besetzung der männlichen Hauptrollen.

    Ein Paradies ist immer da, wo einer ist, der wo aufpasst, dass kein Depp reinkommt...

  • Liebe Capricciosi!

    Ja, es ist einigermaßen viel Arbeit und kein leichtes Sommerloch-Spiel, aber ich denke, bei dieser Auseinandersetzung mit den verschiedenen Versionen schaut auch für jeden Einzelnen ein gewisser Gewinn heraus. Ich kommentiere einmal Rideamus' Grundpfeiler:

    1. Ich selber schwanke noch zwischen Dialog-Fassung und Rezitativ-Fassung. Auf der einen Seite bin ich überzeugt davon, dass Offenbach eine durchkomponierte Oper mit Rezitativen wollte; andererseits könnte man die Dialoge flexibler handhaben und flexibler kürzen, und wenn schon Kürzungen, dann doch lieber bei den Rezitativen und Dialogen als bei den Musiknummern! Ich überlege auch eine Mischfassung, in der manches gesprochen wird, aber einige schöne Rezitative (und ja, auch Ernest Guiraud hat einige sehr gelungene Rezitative nachkomponiert!) dennoch erhalten bleiben, auch damit über weite Strecken der Eindruck einer durchkomponierten Oper überwiegt. Aber ich bin mir da noch nicht ganz sicher.

    2. Ich würde Offenbachs letztem erkennbaren Willen mit Einschränkungen folgen. "Scintille diamant" und das Septett fliegen bei mir selbstverständlich raus (zumindest im vierten Akt, evt. kann man das Septett nach Heinzelmanns Theorie im fünften Akt wieder einbauen). Aber ich würde die Letztfassung des Nicklausse-Couplets im Olympia-Akt, "Une poupée aux yeux d'émail", durch die vorletzte Fassung, "Voyez-là sous son éventail" ersetzen: Die ist knackiger und bissiger, und wurde nicht aus künstlerischen Gründen umgearbeitet, sondern weil sie jenseits der stimmlichen Möglichkeiten der Uraufführungs-Muse lag. Die konnte dann allerdings "Une poupée..." auch nicht singen und war überhaupt so miserabel, dass die Rolle schließlich gestrichen wurde und damit auf Jahrzehnte hinaus aus dem Aufführungsmaterial verschwand. Ich bin mittlerweile überhaupt der Meinung, dass es ein Segen ist, dass Offenbach verstarb, bevor er seinen genialen Entwurf restlos auf Léon Carvalhos unfähige Sangestruppe umarbeiten konnte. Die Umarbeitungen und Kürzungen nach Offenbachs Tod entstanden nämlich, soweit man das heute noch erkennen kann, nicht aus Willkür, sondern weil die Sänger es nicht schafften, das Original zu singen. Und Offenbach hätte wohl Zugeständnisse gemacht und sein großartiges Konzept wahrscheinlich ebenso immer weiter verwässert, nur dass das dann autorisiert gewesen wäre, während wir so in der glücklichen Lage sind, die Umarbeitung als posthum ablehnen zu können und uns auf das zu berufen, was Offenbach ursprünglich intendiert hatte.

    3. Eine Straffung der Dienerrollen finde ich auch recht sympathisch. Man kann sich dann stärker auf das Wesentliche (das doppelte Dreieck Hoffmann - Stella - Lindorf und Muse - Hoffmann - Stella) konzentrieren, die dunkleren Seiten stärker herausarbeiten und einiges für die Handlung nicht unmittelbar notwendige kürzen. Andererseits wäre es natürlich auch spannend, auch die Entwicklung von Stellas Diener in Hoffmanns immer düstereren Erzählungen herauszuarbeiten - der wird körperlich immer mehr beeinträchtigt und gleichzeitig geistig immer maliziöser gezeichnet: Cochenille ist nur dümmlich, Frantz ist schon altersversehrt und etwas boshaft, und der verwachsene Zwerg Pitichinaccio ist überhaupt Hoffmanns erbitterter Rivale. Doch funktioniert die Umsetzung eh nur mit einem hervorragenden Charaktertenor und Singschauspieler, den man meistens nicht zur Verfügung haben wird, und insofern tut die Streichung nicht allzu weh.

    Ich habe dann in Kürze vor, wenigstens meine Version der ersten beiden Akte einzustellen.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Erster Akt (La Muse) - Areios-Fassung

    Liebe Capricciosi!

    Hier nun einmal meine Überlegungen zum ersten Akt - der ja noch relativ einfach ist und wo ich dementsprechend auch nur recht selten meine Entscheidungen erklären muss:

    PREMIER ACTE
    W. A. Mozart: "Non mi dir" aus "Don Giovanni" KV 527 (Version für Sopran und Harfe)
    Die Entscheidung von Minkowski in Lausanne, Stella den Beginn von Donna Annas Arie am Anfang singen zu lassen, hat mich dermaßen überzeugt, dass ich diese Idee gerne klauen würde. Stella würde dann am Bühnenrande singend entlangwandeln, bevor die eigentliche Oper mit der Erscheinung der Muse einsetzt.
    Prélude
    No. 1: Introduction ("Glou ! Glou ! Glou !")
    No. 1A: Scène et couplets de la Muse ("La verité, dit-on")
    Unabdingbar, um die Handlung der Oper zu verstehen. Ich möchte wirklich auf die vier Hauptpersonen Hoffmann - Muse - Lindorf - Stella fokussieren und zeigen, wie jede von ihnen eigene Ziele verfolgt (Hoffmann vielleicht am wenigsten) und die anderen Figuren zu manipulieren versucht. Deshalb würde die Muse nach der Verwandlung in Nicklausse auch nicht gleich abgehen, sondern in der folgenden Szene,
    No. 2: Scène et couplets ("Le conseilleur Lindorf, morbleu ! - Dans les rôles d'amoureux langoureux")
    dem Rat Lindorf bei der Gewinnung des Briefes aus der Hand von Andrès behilflich sein.
    No. 3: Scène ("Deux heures devant moi !")
    No. 4: Choeur ("Drig ! Drig ! Drig !")
    No. 5: Chanson et scène ("Kleinzack !")
    No. 6: Final et Duo ("Peuh ! Cette bière est detestable ! - Et par où votre Diablerie")
    Eventuell könnte man hier, um das Publikum nicht zu sehr zu schockieren und die Intendanz nicht zur Zahlung von Überstunden zu nötigen, die zweite Strophe des Duetts streichen, wie das öfters bei Aufführungen geschieht.
    Entr'acte

    Der erste Akt ist damit auf alle Fälle schon einmal durchgesungen, ohne Dialoge, und ich bin mir sicher, dass das Offenbachs ursprüngliche Intention auch für die anderen Akte war, auch wenn er diese Situation nicht mehr herstellen konnte bzw. gar nicht mehr sollte, nachdem das Werk an der Opéra Comique angenommen war. Aber das hat natürlich Konsequenzen auf die Gestaltung der anderen Akte, daher würde ich nun doch eher die Rezitativfassung spielen und nur ausnahmsweise und aus gutem Grund zwischendurch auf Dialoge zurückgreifen. Besonders verlockend sind natürlich die Melodrame der Dialogfassung, die manchmal schon wirkungsvoller sind als die Rezitative.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Minkowski Pelly und Offenbach

    Da justament das Interesse an den Fassungsproblemen von Offenbachs letzter Oper dankenswerterweise wieder aufgeflackert ist (s. Das Contes d'Hoffmann-Spiel: die Bühnenfassungen der Capricciosi), nehme ich das als willkommenen Anstoß endlich mit meiner schon länger versprochenen Darstellung der Inszenierung Laurent Pellys zu beginnen, die ich für die bislang maßstäbliche dieser Oper halte.

    Die Fassung basiert noch allein auf den Recherchen des Offenbach-Spezialisten Jean-Christophe Keck, scheint aber schon weitgehend mit der später von ihm und seinem Konkurrenten Michael Kaye gemeinsam herausgegebenen, "endgültigen" Version identisch zu sein (ich kenne die Druckfassung noch nicht). Marc Minkowski und sein Lieblingsregisseur Laurent Pelly haben diese Fassung erstmals im Februar 2003 in Lausanne herausgebracht, und sie wurde schon damals von vielen als ein Meilenstein in der Rezeption dieser Oper begriffen. Leider blieb davon nur eine Tonaufzeichnung erhalten, de in diesem Thread schon einmal diskutiert wurde (s. OFFENBACH: Les contes d'Hoffmann – Märchenhafte Episoden oder postmodernes Drama?). Diese in Coproduktion mit den Opernhäusern von Marseille und Bordeaux entstandene Inszenierung wanderte dann über die4se beiden Häuser nach Lyon, wo sie im November 2005 debütierte und zum Glück auch aufgezeichnet wurde - nur mit einer Kamera auf festem Stativ zwar, aber für solche Mitschnitte in Ton und Bild durchaus akzeptabel. Wer sich dafür interessiert findet sie bei dem Piratenlabel "House of Opera" hier:

    http://www.operapassion.com/cd8217.html

    Im Nachfolgenden stütze ich mich auf diesen Mitschnitt, der, so steht zu befürchten, leider wohl der einzige dieser superben Inszenierung bleiben wird.

    Den Anmerkungen, die hier schon zu der oben genannten Tonaufnahme gemacht wurden, ist nicht viel hinzuzufügen. Sergej Khomov ist ein absolut adäquater Hoffmann, der sehr überzeugend spielt und zum Beispiel absolut mit Rolando Villazon in München mithalten kann, aber nicht zu den ganz großen Interpreten der Rolle aufschließt. Mireille Delunsch klingt weniger frisch als in Lausanne und gerät mit der Rolle der Olympia diesmal hörbarer an ihre Grenzen, ist aber immer noch eine sehr gute Besetzung, wenn man sich auch wünscht, man könnte Diana Damrau aus der münchener Inszenierung hierher verpflanzen. Aber auch sie gibt ja, wie man hört, in ihren nächsten Auftritten in der Rolle die Olympia an den aufstrebenden Star Brenda Rae ab. Anna Bonitatibus ist nach anfänglicher Unsicherheit ein vollwertiger Ersatz für Stephanie d'Oustrac in Lausanne, und Laurent Naouri bietet, wie schon in Lausanne, in den Rollen der Bösewichter fraglos die herausragende Leistung dieser Aufzeichnung. Nicht vergessen sollte man die Dienerrollen, die Pelly dank eines vorzüglichen Jean-Paul Fouchécourt einmal nicht nur als komische Einlagen verbrät, sondern sehr sicher in das unheimliche Geschehen dieses Werkes einbettet.

    Überhaupt ist "Unheimliches Geschehen" das passende Stichwort für diese Inszenierung. Wer hier vor allem einen Strauß spritziger Meldodien in den knallbunten Dekorationen der HOFFMANN-Verfilmungen von Powell/Pressburger, der höchst beeindruckenden londoner Inszenierung John Schlesingers oder auch nur der jüngsten münchener Bonbontüte erwartet, dürfte enttäuscht werden. Nach eigenem Bekenntnis orientierte sich Pelly vielmehr an den beängstigenden Bildern des belgischen Malers Léon Spilliaert, dessen Selbstbildnis (s. http://www.toile-gothique.com/topic4523-leon-spilliaert.html ) der Hoffmann Khomovs ebenso gespenstisch ähnelt wie Naouris Lindorf den Konterfeis Offenbachs. Schon das erinnert daran, dass E. T. A. Hoffmann keineswegs bunte Abenteuergeschichten verfasste, sondern beängstigende Horrorstories, die auf ihr damaliges Publikum kaum weniger furchterregend wirkten als etwa Filme wie WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN oder THE SHINING in jüngerer Zeit.

    Das hat nicht weniger zum Ergebnis als eine völlitg neue Beleuchtung von Offenbachs Musik, die kaum jemals an den Ausflug eines Operettenkomponisten in die Oper denken lässt (am ehesten noch in den Couplets der Diener), sondern vielmehr an einen würdigen Nachfolger eines Carl Maria von Weber, der sich keineswegs vor einem Meyerbeer, Wagner oder gar Marschner zu verstecken braucht.

    Soviel zunächst einmal zur Einführung in eine detaillierte Beschreibung dieser Interpretation, die in in loser Folge in nächster Zeit hier einstellen möchte, denn die Inszenierung verdient weit mehr als eine pauschale Belobigung.

    Fortsetzung folgt also, wenn gewünscht

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Da justament das Interesse an den Fassungsproblemen von Offenbachs letzter Oper dankenswerterweise wieder aufgeflackert ist (s. Das Contes d'Hoffmann-Spiel: die Bühnenfassungen der Capricciosi), nehme ich das als willkommenen Anstoß endlich mit meiner schon länger versprochenen Darstellung der Inszenierung Laurent Pellys zu beginnen, die ich für die bislang maßstäbliche dieser Oper halte.

    Die Fassung basiert noch allein auf den Recherchen des Offenbach-Spezialisten Jean-Christophe Keck, scheint aber schon weitgehend mit der später von ihm und seinem Konkurrenten Michael Kaye gemeinsam herausgegebenen, "endgültigen" Version identisch zu sein (ich kenne die Druckfassung noch nicht).

    Der Giulietta-Akt ist leider auch in dieser Fassung noch nicht ganz das, was ich mir vorstelle. Erstens wäre mir "Tourne miroir" lieber gewesen als die frühe Fassung "Répands tes feux dans l'air", aber insbesondere halte ich es für ein großes Manko, dass dem Publikum die Kartenszene und damit der Giulietta die absolut abgefahrene Arie "L'amour lui dit: la belle" vorenthalten wird, die mich ein bisschen an den Berlioz der "Nuits d'été" erinnert.
    (Ich spreche von der G-Dur-Fassung; Offenbach hat drei Fassungen über die selbe Melodie komponiert, die sich nicht nur in der Tonart, sondern auch in der Koloraturfreudigkeit und anderen Details unterscheiden: die As-Dur-Fassung [die Sumi Jo in der Nagano-Aufnahme singt] ist so überladen mit Koloraturen, dass es mir zu sehr Olympia-Style ist und nicht recht zur Kurtisane passen will; die F-Dur-Fassung [die Waltraud Meier 2003 in Salzburg sang] finde ich wiederum fast zu schlicht und auch wenig dramatisch pointiert. Die G-Dur-Fassung [die Cheryl Studer in der Tate-Aufnahme singt und Diana Damrau in München sehr überzeugend interpretiert hat - auf Youtube gut nachzuhören] finde ich optimal: da gibt es prächtige Koloraturen und Triller, andererseits wird ein dramatischer Drive entwickelt, der den anderen Versionen fehlt: das ist wirklich eine perfekte Verführungs-Ariette, bei der man versteht, dass Hoffmann nachgibt.)

    Zitat

    wenn man sich auch wünscht, man könnte Diana Damrau aus der münchener Inszenierung hierher verpflanzen. Aber auch sie gibt ja, wie man hört, in ihren nächsten Auftritten in der Rolle die Olympia an den aufstrebenden Star Brenda Rae ab.

    Das verstehe ich eigentlich nicht ganz, denn Diana Damraus Olympia hat mir ausgezeichnet gefallen und ich habe nicht gehört, dass sie mit der Partie irgendwelche Probleme gehabt hätte. Im Gegenteil, ich halte Diana Damrau für eine der überzeugendsten Interpretinnen der Gesamtpartie, die ich bisher gehört habe - wenn nicht sogar DIE überzeugendste! Wenn man dann die Rolle wieder teilt, ist das schon sehr schade.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.


  • Fortsetzung folgt also, wenn gewünscht

    :wink: Rideamus

    Ist gewünscht!

    Matthias

    "Bei Bachs Musik ist uns zumute, als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf." (Friedrich Nietzsche)
    "Heutzutage gilt es schon als Musik, wenn jemand über einem Rhythmus hustet." (Wynton Marsalis)
    "Kennen Sie lustige Musik? Ich nicht." (Franz Schubert)
    "Eine Theateraufführung sollte so intensiv und aufregend sein wie ein Stierkampf." (Calixto Bieito)

  • Stella und Lindiorf I

    Dein Wunsch sei mir Befehl.

    Bevor ich ins Detail gehe, ist eine kleine Korrektur fällig. Die Aufführung beruht nicht nur auf den Recherchen Jean-Christophe Kecks, wie ich noch in meinem letzten Posting hierzu vermutete, sondern laut dem Programmheft der Lyoner Oper bereits auf der gemeinsamen Kaye-Keck – Ausgabe. Man kann also davon ausgehen, dass Minkowski und Pelly bereits das gesamte bekannte Material berücksichtigen konnten, als sie sich für die vorliegende Fassung entschieden.

    Zunächst einmal die komplette Besetzung dieser Aufführung vom November 2005

    Mireille Delunsch , Sopran: Olympia, Antonia, Giulietta, Stella
    Sergei Khomov , Tenor : Hoffmann
    Laurent Naouri , Bariton : Lindorf, Coppelius, Dr Miracle, Dapertutto
    Anna Bonitatibus , Mezzosopran : La Muse, Nicklausse
    Jean-Paul Fouchécourt , Tenor :Andrès, Cochenille, Frantz, Pitichinaccio
    Anne Salvan , Mezzosopran: Die Mutter
    Jérôme Varnier , Bass: Hermann, Peter Schlemil
    Brian Bannatyne Scott , Bass : Crespel
    Christophe Mortagne , Tenor : Spalanzani
    Nicolas Testé , Bass: Luther, der Wirt

    Orchester und Chöre der Opéra de Lyon
    Leitung: Marc Minkowski
    Regie: Laurent Pelly

    Einige, leider sehr kleine, Bilder findet man hier:
    http://www.opera-lyon.com/spectacles/ope…ontes-dhoffmann


    Vorspiel und 1. Akt

    Der Name dieses Vorspiels ist vielleicht Stella. Es beginnt mit einer brillanten Idee: Während der besoffene Hoffmann in der Gosse liegt (Khomov ähnelt da, wie schon gesagt, fast erschreckend dem Selbstbildnis des belgischen Malers Léon Spilliaert), erscheint aus dem Dunkel, wie in einem Traum Hoffmanns, die Sängerin Stella und singt im optisch wie akustisch luftleeren Raum (also à capella) den Beginn der Arie Non mi dir, bel idol mio aus Mozarts DON GIOVANNI. Mit diesem kleinen Kunstgriff gewinnt die Sängerin Stella, die ja ausweislich des Librettos tatsächlich gleich in dieser Oper auftreten wird, sofort ein Profil, das sie in der alten Choudens-Fassung nie haben durfte. Nachdem sie wieder in das Dunkel von Hoffmanns Fantasie eingetaucht ist, tauchen kurz darauf, über die ganze Bühne verstreut, die Gesichter der Geister des Weins und des Bieres auf und suchen langeur et souci, also besorgtes Sehnen, zu erhaschen. Demnach dürfen wir vermuten, dass das, was uns bevorsteht, sämtlich Erzeugnisse der Fantasie Hoffmanns sind, der ersichtlich vom Delirium übernommen wird.


    Nunmehr entsteigt die Muse – nein, nicht einem Fass, sondern dem Gully in der Gosse und schüttelt die Gülle ab, bevor sie sich an ihre Aufgabe macht, Hoffmanns Fantasie der Sirene Stella, ihrer Rivalin um Hoffmanns Streben, aus dessen Wahnvorstellungen zu vertreiben. Am Schluss ihrer Couplets kommt der zweite hübsche Coup de théâtre, als sie sich in Hoffmanns Adlatus Nicklausse verwandelt, und zwar vor aller Augen, denn der steht bereits als Puppe auf der Bühne und wird dann von der Muse belebt, so dass er wie die Handpuppe eines Bauchredners die Mundbewegungen zu ihren Worten formt. Dies ist der erste deutliche Verweis von mehreren, die noch folgen werden, dass sich Pelly bei der Illustration von Hoffmanns Erzählungen ganz dezidiert der Schaustellertricks bedient, die man schon zu Zeiten E.T.A. Hoffmanns kannte. Auch dort, wo er sich modernerer Effekte bedient, wird Pelly ganz bewusst die dahinter stehende Mechanik vorführen.

    Mit dem Auftritt des Ratsherrn Lindorf, der offenbar ungehinderten Zugang zu den klaustrophobischen Räumen des Opernhauses hat, in dem der DON GIOVANNI gegeben wird, und der mit seinen perspektivischen Verzerrungen wirkt, als sei er von einem Dr. Caligari entworfen worden, folgt gleich die nächste Überraschung, denn Laurent Naouri, dessen Physiognomie sich allerdings nachgerade dafür aufdrängt, erscheint nicht einfach in der traditionellen Maske eines schwarzbärtigen Bösewichtes, sondern ähnelt darüber hinaus unverkennbar den bekannten Porträtstichen von Offenbach selbst, wodurch mit gehöriger Schlitzohrigkeit suggeriert wird, wer wirklich hinter den pessimistischen Verläufen der bevorstehenden Abenteuer steckt. In der Garderobe versammeln sich derweilen die Studenten in reichlich salopper Abendgarderobe und drängen darauf, dass die Bar geöffnet wird. Das geschieht aber nicht einmal mit dem Auftritt Hoffmanns und Nicklausses. Während Hoffmann die Studenten mit der Ballade vom Klein Zaches unterhält, verschieben sich wieder die Wände und schließen ihn in ein Kabinett ein, in dem er, ein Häuflein Unglück, den bemitleidenswerten Zwerg so überzeugend gibt, dass ihn die eigene Sentimentalität übermannt. So führt gerade dieses Bravourstück dazu, dass Hoffmanns ganzes Elend sichtbar wird und den Zuschauern die beifallswilligen Hände kleben bleiben.

    Als Folge davon wird in dem anschließenden Beleidigungsduett zwischen Lindorf deutlich, warum der Dichter so aggressiv ist – und wie grausam der Rat, obwohl er eigentlich nichts tut als die Wahrheit auszusprechen. Interessanterweise wird während der ganzen Szene zwar dauernd vom Trinken geredet, aber kein einziger Schluck ausgeschenkt und getrunken. Dafür fällt Hoffmann schon jetzt zusehends dem Wahn anheim. Wir erinnern uns: gleich zu Beginn erträumt er sich schon diese Sequenz in der Gosse, und so ist es nur konsequent, dass dies bereits sein erster Traum und damit auch der erste Akt der Oper ist, der im Dunkeln mit einem Schlussakkord endet und nicht, wie so oft, das Stichwort, dass der Name der ersten Olympia war, aufgreift und nahtlos in die nächste, völlig selbständige Geschichte übergeht.

    Fortsetzung folgt

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Soeben erhielt ich eine Korrektur, die für alle wichtig ist, welche sich für die Videodisc interessieren.

    Der von mir abngegebene Link bezog sich leider auf die Tonedition (also cd). Der Link zu der DVD ist dieser hier:
    http://www.operapassion.com/dvdnov07-280.html

    Tut mir Leid für diesen Lapsus.Sorgfalt war leider schon immer eher nur ausnahmsweise meine Stärke

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Olympia und Coppelius

    Der zweite Akt beginnt also mit einem eigenen Vorspiel im Dunkeln. Wo normalerweise bereits der Einzug der Gäste choreographiert wird, erklingt die Musik dazu hier als eine eigene Ouvertüre. Dann folgt im typischen Dekor des Labors eines durchgeknallten Wissenschaftlers, wie wir es aus FRANKENSTEIN-Filmen und Ähnlichem kennen, ein (mir) neues Stück Dialog, in dem Spalanzani erklärt, dass er mit seiner Puppe Millionen machen wird und deshalb auch die 500 Dukaten verschmerzen kann, die er bei dem Bankrott des Juwelier Elias verloren hat. Wenn nur der Optiker Coppelius nicht wäre. Aber der ist weit. Hoffmann, Spalanzanis bester Student, dagegen ist nahe, und er hat sich nach einem verstohlenen Blick durch ein Fenster so sehr in Spalanzanis schlafende Tochter Olympia verliebt, dass er nicht mehr Dichter werden will, sondern sich für Physik interessiert, obwohl er eigentlich gar nicht versteht, was die Tochter mit der Physik zu tun haben soll. Mit der sprunghaften Schnitttechnik des Traumes befindet sich Hoffmann plötzlich vor dem Hause Spalanzanis und versucht durch die verschmutzte Scheibe einen Blick auf dessen Tochter zu erhaschen. Nun leitet das vertraute Rezitativ Hoffmanns Liebeslied „Ah vivre deux“ ein.

    Nicklausse kommt hinzu und singt statt Hoffmann, der sich nicht zu singen traut, weil Spalanzani nichts von Musik hält und nur die Physik liebt, in einem verschmitzten Zitat von Don Giovannis (von Leporello einer Zofe vorgetragenen) Liebeslied ("Deh, vieni alla finestra") eine mir bislang wenig vertraute Romanze für Olympia: „Oh rêve de joie“. Der Gewinn dieser Szene ist enorm, da er, zumal in dem pointierten Spiel der Anna Bonitatibus, hervorragend die schwärmerische Unvernunft des (obwohl nicht mehr äußerlich) noch sehr jungen Hoffmann unterstreicht. Die ursprüngliche Fassung der folgenden zwei Strophen von Nicklausses, „Voyez-la sous son éventail“, die wegen der begrenzteren Fähigkeiten der Uraufführungssängerin verkürzt werden musste, ist musikalisch viel interessanter als die endgültige Fassung bei Choudens. Zudem bildet es eine weitaus gleichwertigere Brücke zu dem vertrauten "Terzett der Augen", das auf den Auftritt des Coppelius folgt, der in einem bizarr mit lauter Augen bestickten Kostüm erscheint.

    Faszinierend, wie Pelly mit einem schlichten Beleuchtungseffekt, den er wieder aufgreift, als Hoffmann die magische Brille erhält, und der Projektion eines in extremer Nahaufnahme gefilmten Auges aus einem potenziell munteren Trio eine Horrorszene macht, die schon jetzt die gefällige Puppenparade unterläuft, auf welche die meisten Inszenierungen diesen Akt reduzieren. So wird Hoffmanns Romanze „Ange du ciel“ zu einem glaubhaften Liebeslied, statt dass sie ihn, wie meist, wenn es nicht gleich ganz weggelassen wird, zu einer lächerlichen Figur reduziert. Schade nur, dass Khomov ausgerechnet hier stimmlich etwas überfordert ist.

    Die folgende Szene, in der Spalanzani Coppelius den faulen Wechsel gibt, wird als Dialog absolviert. Hier wäre für mein Gefühl Guirauds vertrautes Rezitativ ein glatterer Übergang zum Auftritt der Gäste gewesen, obwohl der Dialog natürlich differenzierter ist. Die „Gäste“ die sich nunmehr mit dem vertrauten Lobgesang auf die wenigen sich bietenden Sitzgelegenheiten in Spalanzanis Labor verteilen, sind offenbar Studenten Spalanzanis, denn hier haben wir es anscheinend noch nicht mit dem geplanten mondänen Ereignis zu tun, sondern mit einer Probe. Eine überraschende, aber nicht ganz unlogische Variante.

    Olympia wird in einem Rollstuhl hereingefahren, der es ihr ermöglicht, nicht nur bequem zu singen, sondern sogar überraschend durch die Luft zu schweben. Man kann diese Szene im Rahmen eines hochinteressanten "Wettbewerbs" verschiedenster Interpretinnen der Olympia hier sehen: "

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    ". Wie die bei YouTube reichlich vorhandenen konkurrierenden Aufnahmen zeigen, ist Delunsch nicht die überwältigendste Olympia, obwohl sie schon die, einen Ton tiefer gelegene, Alternativfassung singt, die Offenbach eigens für Interpretinnen aller weiblichen Hauptrollen eingerichtet hat, aber für eine Sängerin, die nicht ausschließlich für diese Rolle eingesetzt wurde, sondern alle weiblichen Hauptpartien des HOFFMANN singen können muss, macht sie ihre Sache recht gut. Sehr hübsch finde ich auch den Einfall Pellys am Schluss, den Schaustellertrick hinter dem mysteriösen Rätsel ihres Entschwebens aufzulösen, das erneut auf die Logik von Hoffmanns Traum verwies, in dem wir uns ja immer noch befinden.

    Das anschließende „Liebesduett“ zwischen Hoffmann und der Puppe, das zum Glück auch Hoffmanns Romanze komplett enthält, findet in einem leeren Raum statt, in dem nur die Puppe auf ihrem desillusionierenden Kran sitzt. Hoffmann aber ist so entrückt wie eh und je und deshalb besonders pathetisch. Während eines kurzen Abgangs wird Olympia auf Rollschuhe montiert, und es schließt sich eine eigenartige Mischung aus einer Paraphrase von Meyerbeers Schlittschuhwalzer aus dem PROPHÉTE und einer Hommage an Chaplins MODERN TIMES an, bei der ernsthaft zu befürchten steht, dass Olympia in den Orchestergraben rollt. Damit wird jede romantische Illusion endgültig zertrümmert, und die finale Zertrümmerung der Puppe durch den rachsüchtigen Coppelius ist nur konsequent – ebenso wie die am Schluss ausgespielte Klaustrophobie, wenn die immer dichter zusammen rückenden, kahlen Wände den Spottchor einengen, bis der kaum mehr Platz hat, sich zu bewegen. Ein trotz der aufgesetzten Munterkeit der Spottmusik ein buchstäblich beklemmendes Ende dieses Aktes, der zu oft als heiteres Intermezzo fehlinterpretiert wird.

    Wie kaum zu überhören ist, führt die ungekürzte Darbietung dieses Aktes vor allem den Hoffmann mehrfach an die Grenzen seines Leistungsvermögens, aber die enthaltene Musik, vor allem aber die superbe Verständlichkeit des Handlungsablaufes in jedem Detail wissen den Einsatz zu danken. Nicht immer ist kürzer nämlich auch kurzweiliger.

    Fortsetzung folgt

    Anmerkung: wer sich für das komplette in Lyon benutzte Libretto interessiert, findet es übrigens hier:

    http://www.opera-lyon.com/fileadmin/user…nn%20abrege.pdf

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Antonia und Dr. Mirakel

    Zunächst ein Nachtrag: Auftritte des Lindorf zu Beginn des ersten Aktes kann man hier "

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    " und hier sehen: "
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    “ . Den Auftritt des Coppelius aus dem vorigen Akt gibt es hier: '
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    Auch der folgende Akt beginnt auf einer klaustrophobischen Note. Nach dem bekannten, unheimlichen Entr’Acte sehen wir das winzige Schlafzimmer der Tochter des, offenbar nicht sehr begüterten, Geigenbauers Crespel, dessen Haus allerdings, wie wir bald feststellen werden, seltsam magische Fähigkeiten hat, weil sich, erneut der Logik von Hoffmanns Albtraum entspringend, die Wände und Böden stets nach den Bedürfnissen der Musik verschieben können. Nach der vertrauten Romanze der Antonia, die sie von einem sorgsam versteckten Notenblatt abliest, folgt die Dialogversion der Warnung und des Singverbotes ihres Vaters, deren Begründung man einem Schwächeanfall Antonias entnehmen kann. Minkowski und Pelly haben sich, zumindest in diesem Akt, für die Sprechtexte entschieden, wohl weil diese viel detailliertere Informationen transportieren können als die zwangsläufig sehr knappen Rezitative, etwa das sonst immer unterschlagene Versprechen von Antonias Vater, ihr eine Geige zu bauen, mit der sie eines Tages ebenso bezaubernde Musik machen kann wie mit ihrer allzu anfälligen Stimme.

    Während Antonia traurig davon geht, greift Minkowski überraschend noch einmal den bedrohlichen Entr’Acte auf, bevor er den Dialog fortsetzt und Crespel den schwerhörigen Diener Frantz ermahnt, niemanden herein zu lassen. Es folgen die vollständigen Couplets des geplagten Dieners, die meist etwas langwierig erscheinen, weil sie einen hervorragenden Komödianten brauchen, der für die kurzen Dienerrollen meist nicht zur Verfügung steht. Zum Glück hat Pelly ihn in dem brillanten Jean-Paul Fouchécourt, der aus den beiden identischen Strophen ungeahnt komische Variationen herauszuholen versteht.

    In der Regel ist dieser Akt am wenigsten von der vielfältigen Aufführungsgeschichte des Werkes am wenigsten betroffen, aber mit dem Auftritt von Hoffmann und Nicklausse folgt ein Stück, das erst nach Fertigstellung des Zensurlibrettos für die kurzfristige Umbesetzung der Rolle komponiert wurde und leider immer wieder gestrichen wird, obwohl es eine sehr schöne melodische Steigerung enthält. Die Rede ist von Nicklausses Romanze „Vois sous l’archet frémissant“, mit der die Muse, anscheinend im Wissen um die baldige Vergeblichkeit dieser Liebe, Hoffmann mit der Darstellung eines Geigentones ermutigt, aktiver um Antonia zu werben. (eine Tonaufnahme der Aufführung in Lausanne mit der vorzüglichen Stephanie d’Oustrac kann man hier hören: ("

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    Hoffmann gehorcht und beginnt, das „Chanson d’amour“ zu singen, das ihn und Antonia verbindet. Und nun greift wieder die Irrealität des Traumes ein, denn zur Illustration der Trennung der beiden Liebenden verschwindet eine Verbinduhng zweier Treppen. Hoffmann und Antonia sind gezwungen, sich buchstäblich über einen Abgrund hinweg zu unterhalten. Erst mit dem Aufblühen ihres Duetts gelingt es der Musik, ihnen wieder Boden unter den Füßen zu verschaffen, so dass sie in außerordentlicher Ekstase ihr Duett zu Ende bringen und einander umarmen können. Die bedrohliche Atmosphäre des Treppenhauses aber, in dem fast der gesamte Akt stattfindet, bleibt erhalten, obwohl Minkowskis Orchester und seine beiden Solisten mit Erfolg alles daran setzen, ein emphatisches Liebesduett und nichts sonst zu realisieren.

    Der darauf folgende Auftritt des Dr. Mirakel lässt zum dritten Mal die unheimlichen Töne des Entr’Acte erklingen und wird zur perfekten Illustration seiner Festellung, dass man eine Gefahr kennen müsse um ihr begegnen zu können. Dafür greift Pelly wieder ganz bewusst zu Jahrmarkttricks wie Trockeneis, Lichtkegeln und rotierenden Kreiseln um ein erkennbar künstliches, aber dennoch wirkungsvolles Zauberstück zu inszenieren. Eine, technisch leider miserable, Wiedergabe dieser Szene aus der Aufführungsserie von Marseille findet sich hier: "

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    ". Das anschließende Duett zwischen Anrtonia und Mirakel, bei dem dieser immer woanders auftaucht, aber nie für sie sichtbar wird, leitet über in das finale, großartige Terzett, bei dem Mirakel wie ein Marionettenspieler sämtliche Bewegungen Antonias vorexerziert, während Pelly ihrer Mutter den peinlichen Auftritt als Gespenst erspart, indem er nur die Großaufnahme ihres singenden Gesichtes in einer fahlen Projektion erscheinen lässt. Leider ist diese Sequenz in der mit nur einer Kamera gefilmten Kopie nur bedingt zu erfassen, da Pelly den gesamten Bühnenraum nutzt, der von der Kamera aber erst gegen Ende des Terzetts erfasst wird.

    Nach Antonias Zusammenbruch bringt eine traumhafte Verwandlung sie wieder in ihr Schlafzimmer, wo sie noch einmal sehnsüchtig die versteckten Noten betrachtet und dann ihr Leben aushaucht, woraufhin Mirakel selbst den Vorhang schließt. Selten wurde diese Szene eindrucksvoller auf die Bühne gebracht, und das mit erstaunlich geringen, nämlich den absichtlich durchschaubaren Mitteln des Jahrmarktes. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was ein Zeffirelli oder Savary hier für Budenzauber mit weit geringerem Effekt aufwenden würden (Savary hat es ja mitsamt Leichenwagen und Totengerippen in Orange getan).

    Die Schwierigkeit nach diesem überwältigenden Akt bleibt natürlich immer, sich eine Steigerung vorzustellen, und viele Regisseure, darunter so renommierte wie Patrice Chéreau, haben ja auch die Notbremse gezogen, indem sie den Giulietta-Akt vorzigen. Pelly und Minkowski aber halten sich zum Glück an die rekonstruierte Urfassung und beweisen, dass Offenbach durchaus noch steigerungsfähig war. Jedenfalls weit mehr, als uns die überkommene Choudens-Fassung glauben machen will.

    Fortsetzung folgt.

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung


  • In der Regel ist dieser Akt am wenigsten von der vielfältigen Aufführungsgeschichte des Werkes am wenigsten betroffen, aber mit dem Auftritt von Hoffmann und Nicklausse folgt ein Stück, das erst nach Fertigstellung des Zensurlibrettos für die kurzfristige Umbesetzung der Rolle komponiert wurde und leider immer wieder gestrichen wird, obwohl es eine sehr schöne melodische Steigerung enthält. Die Rede ist von Nicklausses Romanze „Vois sous l’archet frémissant“, mit der die Muse, anscheinend im Wissen um die baldige Vergeblichkeit dieser Liebe, Hoffmann mit der Darstellung eines Geigentones ermutigt, aktiver um Antonia zu werben.

    Lieber Rideamus!

    Die Aussage dieser Romanze ist mir, offen gestanden, ein bisschen unklar. Ich habe trotzdem fast eher den Eindruck, die Muse singt das Lied in eigener Sache und in einer Art Vorwegnahme des Endes: die Violine, i.e. die Musik, i.e. die Muse hat ebenfalls eine Seele und wird Hoffmann trösten, wenn alles andere vergangen ist. Das "C'est l'amour vainqueur!" und "Poète, donne ton coeur!" bezögen sich dann auf die Muse selbst und nicht auf Antonia. Denn wenn die Muse hier Hoffmann zur Liebe ermuntern würde, wie ließe sich das damit vereinbaren, dass sie im Olympia-Akt und im Giulietta-Akt mit teils sehr drastischen Worten Hoffmann von der Liebe abzuhalten versucht? Sicherlich, Antonia ist von den drei Damen die beste Partie, aber trotzdem...

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Lieber Areios,

    was die Stimmigkeit dieser Romanze betrifft, so ging und geht es mir genau so wie Dir, denn der Text passt wirklich überhaupt nicht in das allgemeine Handlungsschema der Muse. Ich habe versucht, etwas mehr über die Geschichte dieses Liedes in Erfahrung zu bringen, aber abseits einer überraschenden Menge von Aufnahmen auf YouTube, die für seine späte Popularität spricht, kaum etwas gefunden. Offenbar hat Fritz Oeser sie aufgefunden und wieder in den Kanon des Werkes eingefügt, aus dem sie lange verschwunden war.

    Leider habe ich keine Kopie des ursprünglichen Dramas von Carré und Barbier um zu überprüfen, wievel von diesem Eelement dort schon vorhanden war, denn dass Felsenstein das Drama als Steinbruch für seine Fassung verwendet hattem ist hier wenig hilfreich. Es kann also auch sein, dass Offenbach in der Eile der letzten Wochen das Teil aus einem ganz anderen Zusammenhang geholt hatte und sich dazu von der Tatsache inspirieren ließ, dass Crespel ein Geigenbauer ist, der Antonia von einer Sängerin zur Violinistin "umschulen" will, wie Pellys Inszenierung in dem vorangehenden Dialog andeutet.

    So ganz passt das aber auch nicht, und Pelly verzichtet wohlweislich auch darauf, den Text sinnfällig erscheinen zu lassen, indem er Nicklausse eine Geige in die Hand drückt, wie Carsen das in Paris tat, wenn ich recht erinnere. Ich würde dennoch ungern auf die Aufwertung von Nicklausse/Muse in diesem Akt verzichten wollen, da er/sie hier sonst ziemlich überflüssig ist und ein wichtiges Stück Kontinuität verloren zu gehen droht. Daher meine, von Pelly angeschobene, Spekulation, dass die Muse es sich leisten kann, hier einmal wirklich den treuen Adlatus zu geben und Hoffmann zu ermutigen, diese Rivalin zu umwerben, weil sie weiß, dass sie das ohnehin nicht lange wird sein können.

    Wer mehr weiß, bitte melden.

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

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