Johannes Brahms: Variationen und Fuge über ein Thema von Händel, op. 24
(Vorab: Die Noten gibt es unter http://javanese.imslp.info/files/imglnks/…_Op_24_scan.pdf).
Die Händel-Variationen entstanden im September 1861 in Hamm bei Hamburg. Brahms hielt sie für „viel besser als meine früheren (Werke)“, bezeichnete sie an anderer Stelle sogar als sein „Lieblingswerk“. Diese – für den bekanntermaßen extrem selbstkritischen Komponisten sehr untypische – Wertschätzung zeigt sich auch darin, dass er das Werk in öffentlichen oder privaten Konzerten oft selbst spielte. Im Autograph steht noch die Widmung „Für eine liebe Freundin“ (Clara Schumann), die aber nicht in den Druck kam.
Das Thema stammt aus der ersten Suite der zweiten Sammlung von Händels „Suites de pièces pour le clavecin“ von 1733, die Brahms als Subskribent der von Friedrich Chrysander herausgegebenen Händel-Gesamtausgabe kannte. Das Thema ist nicht so simpel, wie es auf den ersten Blick erscheint: Zwar besteht es ganz symmetrisch aus jeweils viertaktigem Vorder- und Nachsatz, enthält aber bereits in sich viele variative Verknüpfungen, was Christiane Wiesenfeldt mit dem „Huhn im Ei“ sehr plastisch und treffend beschrieben hat.
Brahms hatte schon einige Jahre zuvor in einem Brief an Joseph Joachim eine Variationstechnik angestrebt, die – im Sinne Beethovens – nicht nur die Melodie sondern gleichermaßen Harmonie und Rhythmus einbezieht (später ging er sogar so weit, dass ihm bei einem Thema eigentlich nur der Bass wichtig sei). In den Händel-Variationen ist das gleich in der ersten Variation zu erkennen, wenn er den melodischen Kern des Themas mit der Basslinie des ersten Themen-Taktes (b-a-b) kombiniert. Rechte und linke Hand spielen dabei in rhythmischer Umkehrung (rechts zwei Sechzehntel und Achtel, links Achtel und zwei Sechzehntel), was schon einen ersten Ausblick auf die zahlreichen imitatorischen Elemente des Werkes gibt. Am auffälligsten ist das (natürlich neben der abschließenden Fuge) wohl bei dem Kanon der 6. Variation, aber auch die Variationen 4 (in deren zweitem Teil) und 16 enthalten deutlich hörbare kanonische Elemente, hinzu kommen doppelte Kontrapunkte (z.B. Variation und freie Polyphonie (Variation 3, 10, 23, 24).
Ein Problem, welches sich jedem Komponisten einer Variationsreihe stellt, ist die Gestaltung der Großform, also die Herstellung von Zusammenhängen über das immer gleiche kleinformatige Grundgerüst hinaus. Brahms löst das auf vielfältige Weise. Sehr oft knüpft eine Variation an Elemente aus der vorhergehenden an. Z.B. prägt das o.g. Motiv b-a-b aus der ersten Variation (bzw. aus dem Bass des ersten Thementaktes) ganz die zweite, die Schlussterz der vierten eröffnet die fünfte Variation, die Abwärts-Achtel der 17. werden in der 18. aufgefüllt usw.. Außerdem variieren viele Variationen nicht nur das Thema sondern einander: Variation 8 ist eine Fortsetzung von Nr. 7, ebenso Nr. 15 und 16, Variation 24 ist eine Steigerung von Nr. 23 usw.. Die Variationen 13 und 14 gehören ebenfalls paarweise zusammen (verbunden durch die gemeinsamen Sexten), stehen aber u.a. durch das Tongeschlecht (Moll-Dur), das Tempo (langsam-schnell) zueinander im Kontrast. In der Mitte der 25. Variationen stehend eröffnen sie somit die zweite Hälfte des Zyklus‘, was etwas an die Französische Ouvertüre in der Mitte von Bachs Goldberg-Variationen erinnert. Die 25. und letzte Variation stellt wieder einen Bezug zur ersten her, indem der komplementäre Rhythmus zwischen rechter und linker Hand wiederaufgenommen wird. Außerdem enthält sie wieder die 32stel-Schleifer an den Phrasenenden (die zuvor letztmals in der o.g. 13. Variation, also zu Beginn der zweiten Hälfte vorkamen).
Das Thema der abschließenden Fuge gewinnt Brahms aus dem melodischen Kern von Händels Themenbeginn. Die Fuge ist geprägt von der dramatischen Spannung zwischen Strenge und Freiheit: Das Thema wird auf der einen Seite streng vierstimmig durchgeführt und mit Augmentation Umkehrung, Engführung ganz traditionell verarbeitet. Auf dem polyphonen Höhepunkt erscheint der Themenkopf gleichzeitig im Original, in Vergrößerung und in umgekehrter Vergrößerung, dicht gefolgt vom eng geführten Kontrasubjekt. Aber schon direkt danach wird in den drängenden Synkopen der Wunsch nach Ausbruch aus dieser Strenge spürbar. Dieses Neben- und Gegeneinander zweier entgegengesetzter musikalischer Welten ist dramatisch und aufregend. Nachdem das Thema ein letztes Mal in direkter Konfrontation von Original und Umkehrung erschienen ist, löst sich ab dem folgenden Orgelpunkt die Bindung sowohl zum Fugenthema als auch zu Händels Thema auf.
Zum Schluss noch ein kleines Rätsel: In der Fuge gibt es einen (beabsichtigten oder zufälligen?) Anklang an Bachs berühmte d-Moll-Fuge für Orgel, BWV 565. Wer entdeckt ihn?
Christian