Johannes Brahms: Variationen und Fuge über ein Thema von Händel, op. 24

  • Johannes Brahms: Variationen und Fuge über ein Thema von Händel, op. 24

    (Vorab: Die Noten gibt es unter http://javanese.imslp.info/files/imglnks/…_Op_24_scan.pdf).

    Die Händel-Variationen entstanden im September 1861 in Hamm bei Hamburg. Brahms hielt sie für „viel besser als meine früheren (Werke)“, bezeichnete sie an anderer Stelle sogar als sein „Lieblingswerk“. Diese – für den bekanntermaßen extrem selbstkritischen Komponisten sehr untypische – Wertschätzung zeigt sich auch darin, dass er das Werk in öffentlichen oder privaten Konzerten oft selbst spielte. Im Autograph steht noch die Widmung „Für eine liebe Freundin“ (Clara Schumann), die aber nicht in den Druck kam.
    Das Thema stammt aus der ersten Suite der zweiten Sammlung von Händels „Suites de pièces pour le clavecin“ von 1733, die Brahms als Subskribent der von Friedrich Chrysander herausgegebenen Händel-Gesamtausgabe kannte. Das Thema ist nicht so simpel, wie es auf den ersten Blick erscheint: Zwar besteht es ganz symmetrisch aus jeweils viertaktigem Vorder- und Nachsatz, enthält aber bereits in sich viele variative Verknüpfungen, was Christiane Wiesenfeldt mit dem „Huhn im Ei“ sehr plastisch und treffend beschrieben hat.
    Brahms hatte schon einige Jahre zuvor in einem Brief an Joseph Joachim eine Variationstechnik angestrebt, die – im Sinne Beethovens – nicht nur die Melodie sondern gleichermaßen Harmonie und Rhythmus einbezieht (später ging er sogar so weit, dass ihm bei einem Thema eigentlich nur der Bass wichtig sei). In den Händel-Variationen ist das gleich in der ersten Variation zu erkennen, wenn er den melodischen Kern des Themas mit der Basslinie des ersten Themen-Taktes (b-a-b) kombiniert. Rechte und linke Hand spielen dabei in rhythmischer Umkehrung (rechts zwei Sechzehntel und Achtel, links Achtel und zwei Sechzehntel), was schon einen ersten Ausblick auf die zahlreichen imitatorischen Elemente des Werkes gibt. Am auffälligsten ist das (natürlich neben der abschließenden Fuge) wohl bei dem Kanon der 6. Variation, aber auch die Variationen 4 (in deren zweitem Teil) und 16 enthalten deutlich hörbare kanonische Elemente, hinzu kommen doppelte Kontrapunkte (z.B. Variation 8) und freie Polyphonie (Variation 3, 10, 23, 24).
    Ein Problem, welches sich jedem Komponisten einer Variationsreihe stellt, ist die Gestaltung der Großform, also die Herstellung von Zusammenhängen über das immer gleiche kleinformatige Grundgerüst hinaus. Brahms löst das auf vielfältige Weise. Sehr oft knüpft eine Variation an Elemente aus der vorhergehenden an. Z.B. prägt das o.g. Motiv b-a-b aus der ersten Variation (bzw. aus dem Bass des ersten Thementaktes) ganz die zweite, die Schlussterz der vierten eröffnet die fünfte Variation, die Abwärts-Achtel der 17. werden in der 18. aufgefüllt usw.. Außerdem variieren viele Variationen nicht nur das Thema sondern einander: Variation 8 ist eine Fortsetzung von Nr. 7, ebenso Nr. 15 und 16, Variation 24 ist eine Steigerung von Nr. 23 usw.. Die Variationen 13 und 14 gehören ebenfalls paarweise zusammen (verbunden durch die gemeinsamen Sexten), stehen aber u.a. durch das Tongeschlecht (Moll-Dur), das Tempo (langsam-schnell) zueinander im Kontrast. In der Mitte der 25. Variationen stehend eröffnen sie somit die zweite Hälfte des Zyklus‘, was etwas an die Französische Ouvertüre in der Mitte von Bachs Goldberg-Variationen erinnert. Die 25. und letzte Variation stellt wieder einen Bezug zur ersten her, indem der komplementäre Rhythmus zwischen rechter und linker Hand wiederaufgenommen wird. Außerdem enthält sie wieder die 32stel-Schleifer an den Phrasenenden (die zuvor letztmals in der o.g. 13. Variation, also zu Beginn der zweiten Hälfte vorkamen).
    Das Thema der abschließenden Fuge gewinnt Brahms aus dem melodischen Kern von Händels Themenbeginn. Die Fuge ist geprägt von der dramatischen Spannung zwischen Strenge und Freiheit: Das Thema wird auf der einen Seite streng vierstimmig durchgeführt und mit Augmentation Umkehrung, Engführung ganz traditionell verarbeitet. Auf dem polyphonen Höhepunkt erscheint der Themenkopf gleichzeitig im Original, in Vergrößerung und in umgekehrter Vergrößerung, dicht gefolgt vom eng geführten Kontrasubjekt. Aber schon direkt danach wird in den drängenden Synkopen der Wunsch nach Ausbruch aus dieser Strenge spürbar. Dieses Neben- und Gegeneinander zweier entgegengesetzter musikalischer Welten ist dramatisch und aufregend. Nachdem das Thema ein letztes Mal in direkter Konfrontation von Original und Umkehrung erschienen ist, löst sich ab dem folgenden Orgelpunkt die Bindung sowohl zum Fugenthema als auch zu Händels Thema auf.
    Zum Schluss noch ein kleines Rätsel: In der Fuge gibt es einen (beabsichtigten oder zufälligen?) Anklang an Bachs berühmte d-Moll-Fuge für Orgel, BWV 565. Wer entdeckt ihn?

    Christian

  • Brahms hielt sie für „viel besser als meine früheren (Werke)“, bezeichnete sie an anderer Stelle sogar als sein „Lieblingswerk“.

    Mein Lieblingswerk von Brahms sind die Händel-Variationen nicht, auch wenn ich sie mir gelegentlich gerne anhöre - gerade wieder in der zweifellos hervorragenden Interpretation von Julius Katchen. Die kompositorischen Qualitäten und die Perfektion des Handwerks stelle ich natürlich nicht in Frage (wer wäre ich denn...), zum Teil kann ich sie auch hörend nachvollziehen. Aber die Unterschiedlickeit der Charaktere finde ich nicht übermäßig stark ausgeprägt.

    Das spüre ich besonders deutlich, wenn ich an die Beethoven'schen Vorbilder denke, Eroica- oder gar Diabelli-Variationen: Was mir im Vergleich mit denen bei op. 24 fehlt, sind zunächst die Extreme - dass einem zum Beispiel mal der Boden unter den Füßen weggezogen wird wie bei der Nr. 20 aus den Diabellis, dass sich ein größerer Block aus zwei oder mehr expressiv aufgeladenen Variationen bildet, dass sich Witz bzw. Humor zeigt, dass nach der Schlussfuge noch ein anderer Horizont aufgerissen wird... Bei Brahms geht es mir in diesem Werk (!) etwas sehr wohltemperiert zu, der von mir ungern pejorativ verwendete Begriff des "Akademischen" drängt sich auf. Der Vergleich mit den Diabelli-Variationen mag unfair sein und ich mag einige Variationen auch ziemlich gern. Aber viele andere Brahms-Werke bedeuten mir ungleich mehr.

    Nur eine Meinungsäußerung ohne Anspruch auf Verbindlichkeit, um das vorsichtshalber noch hinzuzufügen. ;+)


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Mit den Diabelli-Variationen kann es an "unakademischem" WItz und zugespitztem Kontrastreichtum vermutlich kein einziges anderes Variationenwerk aufnehmen, das ist wirklich ein bißchen unfair.
    Ich mag die Händel-Variationen recht gern, aber nachdem ich sie neulich angeregt durch Christians Einführung mal wieder (mit Noten) gehört habe (in der früheren Mono-Aufnahme Katchens) muss ich Zwielicht in mancher Hinsicht zustimmen. Es ist ohne Zweifel ein raffiniertes und reichhaltiges Werk und sehr hörenswert. Sogar witzig wirken auf mich manche "pseudobarocke" Elemente. Aber für einen bloß "spielerischen" Zyklus ist es mir etwas zu lang :hide: und zu "gelehrt", für eine "Welt" wie Goldberg oder Diabelli zu knapp und bei allem Abwechslungsreichtum etwas einförmig. Vielleicht teils mehr was für den Spieler, der die Feinheiten eher mitkriegt als für Hörer... Ich mag es aber jedenfalls lieber als das Virtuosenkompendium der Paganini-Variationen (die beiden frühen Variationsreihen kenne ich kaum).

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Es ist natürlich müßig, über Geschmacksfragen zu diskutieren. Ich kann nur feststellen, dass es mir anders geht.
    Ich habe das vermeintliche Vorbild der Eroica- oder Diabelli-Variationen mit Absicht nicht erwähnt. Zwar hat Brahms hier wie gesagt versucht, im Sinne Beethovens alle musikalischen Parameter in die Variationstechnik einzubeziehen, aber sein künstlerisch-gestalterischer Ansatz ist im Kern dennoch ein ganz anderer. Beethoven zerstört - vor allem in den Diabelli-Variationen - sein Thema zunächst mit äußerster Radikalität, um dann gewissermaßen aus den Bruchstücken immer wieder etwas Neues zu schaffen. Brahms geht es in den Händel-Variationen eher darum, die inneren Eigenschaften des Themas, vor allem auch die erwähnten variativen Verknüpfungen zu erforschen, weiterzuentwickeln, sich von ihnen zu variativen Neuschöpfungen anregen zu lassen, ohne das Thema zu zerstören. Anders - und natürlich stark vereinfacht - gesagt: Brahms zeigt, was im Thema selbst schon latent vorhanden ist, während Beethoven an seinem Thema nur im Sinne eines Steinbruchs interessiert ist. Wenn man schon den Vergleich mit Beethoven zieht, dann wären z.B. Variationen aus op. 111 eher mit Brahms' Vorgehensweise verwandt. (Unmittelbares Vorbild für die Händel-Variationen waren denn auch keineswegs die Diabelli-Variationen sondern höchstwahrscheinlich Friedrich Kiels Variationen und Fuge f-moll op. 17 über ein eigenes Thema.) Wenn man diese (wie gesagt sehr grob gezeichnete) Analyse akzeptiert, dann ist es aber eine logische Folge, dass die Händel-Variationen an "zugespitztem Kontrastreichtum" hinter den Diabelli-Variationen zurückbleiben müssen, denn sie bleiben ja immer in innerer Verbindung zu ihrem Thema, beleuchten es auf immer wieder neue Weise. Die Händel-Variationen sind in dieser Hinsicht tatsächlich als Hommage an Händel zu verstehen, während Beethoven für den armen Diabelli außer Spott kaum etwas übrig hat. Am Ende der Händel-Variationen weiß man eine Menge über Händels Thema, Diabellis Walzer wird man hingegen wahrscheinlich ganz vergessen haben oder sich höchstens kopfschüttelnd über seine Mittelmäßigkeit wundern, die Beethovens Großartigkeit umso stärker leuchten lässt. Das ist übrigens etwas, was mir persönlich an den Diabelli-Variationen (und ganz ähnlich an der Kunst der Fuge) nicht gefällt, aber das ist ja Geschmackssache...

    Christian

  • Mit den Diabelli-Variationen kann es an "unakademischem" WItz und zugespitztem Kontrastreichtum vermutlich kein einziges anderes Variationenwerk aufnehmen, das ist wirklich ein bißchen unfair.

    Klar. Ich hatte aber auch noch die Eroica-Variationen genannt. Mit der Fuge am Ende hat sich Brahms doch anscheinend auf diese konkreten Beethoven'schen Paradigmen bezogen (oder gibt es da noch andere Vorbilder?), also ist es vielleicht auch nicht ganz fernliegend, ihn daran zu messen. Es ist auch auffällig, dass Brahms mit der Fuge Schluss macht und nicht wie Beethoven in op. 35 (oder Bach in den Goldberg-Variationen) den Weg zum Thema zurückgeht oder gar wie in op. 120 den Hörer in ironisch-mozartisch-elysische Gefilde entführt.

    Christian hat oben ja einige Techniken beschrieben, mit denen Brahms in den letzten Variationen vor der Fuge auf die ersten Variationen zurückblickt und dann auch mit Synkopen gegen die gelehrte Kontrapunktik in der Fuge gewissermaßen revoltiert. Ich finde aber beides so diskret und versteckt, dass man es je nach Standpunkt als subtil oder eben auch als - hm - mutlos empfinden kann.

    Um mal von Beethoven wegzukommen: Auch Schumanns op. 13 ist ja ein Beispiel für die Auffächerung eines Themas in extrem unterschiedliche Charaktere.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Mit dieser Charakterisierung der Händel-Var. hast Du sicher Recht (während ich die Diabellis nicht so "destruktiv" sehe) und das Vergleichen ist wohl nicht allzu hilfreich.
    Ich selbst habe jedenfalls beim Hören anhand des Kommentars und der Noten festgestellt, wie "oberstimmenfixiert" ich anscheinend normalerweise immer noch höre. Die linke Hand des Händelschen Themas hätte ich vermutlich nicht erkannt, wenn sie mir jemand einzeln vorgespielt hätte... :hide: Insofern habe ich früher bei Brahms' Variationen auch viel zu sehr auf die Spuren dieser Oberstimme (die in etlichen ja gar nicht vorkommt) geachtet.

    Ich frage mich manchmal auch, ob man solche Variationen wirklich am besten als Variationen oder lieber als Folge von kurzen Stücken (die sekundär eben auch Variationen sind) hören sollte. Nun sind ohne Frage diese Händel-Var. stärker Variationen als Einzelstücke (vielleicht im Ggs. zu GBV und Diabelli), dennoch kann es manchmal vielleicht "befreiend" sein, sie erstmal als "Charakterstücke" zu hören.

    Die Fugen der Kunst der Fuge höre ich inzwischen bevorzugt einzeln bzw. in Auswahl und bewusst als Einzelstücke. Und meine Lieblingsstücke daraus sind vermutlich die beiden mehrthemigen Fugen, in denen das Hauptthema gar nicht in normaler Gestalt vorkommt, Contrapunctus 8 und 9 oder 10

    Schumann Sinf. Etüden höre ich zwar komplett, aber die habe ich tatsächlich seit je kaum als Variationen (auch wenn manche sehr gut als solche zu erkennen sind, andere weniger) gehört.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Mit der Fuge am Ende hat sich Brahms doch anscheinend auf diese konkreten Beethoven'schen Paradigmen bezogen (oder gibt es da noch andere Vorbilder?)

    Wie gesagt: Das unmittelbare Vorbild sind anscheinend Friedrich Kiels Variationen op. 17 gewesen (siehe Handbuch der musikalischen Gattungen, hrsg. von Siegfried Mauser, Bd. 7,3, S. 326).

    Christian hat oben ja einige Techniken beschrieben, mit denen Brahms in den letzten Variationen vor der Fuge auf die ersten Variationen zurückblickt und dann auch mit Synkopen gegen die gelehrte Kontrapunktik in der Fuge gewissermaßen revoltiert. Ich finde aber beides so diskret und versteckt, dass man es je nach Standpunkt als subtil oder eben auch als - hm - mutlos empfinden kann.

    Man könnte das als mutlos bezeichnen, wenn es denn als Revolte gemeint wäre, was ich bezweifle. Ich höre in den Händel-Variationen eher die Synthese von Vergangenem und Gegenwärtigem bzw. Zukunftsorientiertem, mehr "sowohl als auch" als "statt dessen". Das zeigt sich für mein Empfinden übrigens schon in der Wahl des Themas selbst: Brahms nimmt hier zum ersten Mal ein "historisches" Thema als Ausgangspunkt für eine Variationsreihe, allerdings eines, worüber schon Händel selbst fünf Variationen komponiert hatte. Indem er dieses Thema wählt (und wie gesagt natürlich durch die Art der Varationen) zeigt er seine Verbundenheit zu Händel, distanziert sich sich aber gleichzeitig, indem er dessen Variationen selbstbewusst durch seine eigenen ersetzt. Beides könnte nicht typischer "brahmsisch" sein...

    Um mal von Beethoven wegzukommen: Auch Schumanns op. 13 ist ja ein Beispiel für die Auffächerung eines Themas in extrem unterschiedliche Charaktere.

    Von Schumanns op. 13 hat Brahms sich sehr bewusst distanziert, er rechnete sie zum Typus der "Phantasien über eine Melodie, ein Motiv", den er von "Variationen" unterschied (Brief an Adolf Schubring).

    Ich frage mich manchmal auch, ob man solche Variationen wirklich am besten als Variationen oder lieber als Folge von kurzen Stücken (die sekundär eben auch Variationen sind) hören sollte. Nun sind ohne Frage diese Händel-Var. stärker Variationen als Einzelstücke (vielleicht im Ggs. zu GBV und Diabelli), dennoch kann es manchmal vielleicht "befreiend" sein, sie erstmal als "Charakterstücke" zu hören.

    Interessanterweise hat Ernst Rudorff berichtet, dass Brahms gesagt hätte, sein op. 24 gehöre zu einem Variationstypus, bei dem man einzelne Variationen auch weglassen könne. Ich würde das allerdings nicht allzu wörtlich nehmen, und sowohl er selbst als auch Clara Schumann hat das Werk natürlich immer vollständig gespielt.

    Christian

  • Ich habe das nur als Rezeptionshaltung gemeint, nicht als Vermutung darüber, wie eng der Zyklus der Variationen zusammenhängt. Und jedenfalls bei einem überschaubaren Zyklus wie dem vorliegenden auch nicht so, dass ich Variationen einzeln hören würde, sondern eben mehr auf die Stücke als Einzelstücke achte, nicht darauf was und wie variiert wird.

    Mir scheinen die Variationen schon bewusst angeordnet zu sein. Auf ein paar solcher Zusammenhänge hat Christian ja schon oben aufmerksam gemacht. Beim Wiederhören schien mir diesmal im letzten Teil des Werks recht deutlich Var.19, die obwohl "leggiero e vivace" bezeichnet, nicht schnell wirkt bis 22 ein eher ruhiger Abschnitt (obwohl wie gesagt, nicht langsam), wobei die 22 etwas von einer "Spieluhrmelodie" hat. 23-25 bilden dann ganz klar eine Steigerung und wenn man nicht wüsste, dass noch die Fuge kommt, könnte man 25 für ein "Finale" halten.
    Ob jetzt die Eroica-Variationen enger oder systematischer angeordnet sind, wage ich nicht zu beurteilen.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Angeregt durch die interessante Besprechung hier habe ich eben meine einzige Aufnahme des Werks (Julius Katchen) gehört und bin sehr angetan und beeindruckt: Auch wenn ich Christians Erläuterung der "Gestaltung der Großform" (mit der engen motivischen Verklammerung der einzelnen Variationen) nicht nachvollzogen habe, scheint mir doch klar zu sein, daß Brahms hier schon - lange bevor er seine erste Symphonie vollendet - symphonisch denkt, also nicht kleinteilig, sondern aufs Ganze übergreifend. Das Fehlen klarer Kontraste (wie etwa bei Beethoven, auch Schumanns op. 13) vermisse ich überhaupt nicht.

    Als Bild fällt mir der Blick eines (Eisenbahn-)Reisenden auf eine vorüberziehende Landschaft ein: Da wechseln sich Wälder, Wiesen, Ortschaften usw. zwar ab und das Wetter verändert sich dabei nicht allzusehr, aber die Einheit der Landschaft selbst (die ich allerdings nicht spezifieren würde, etwa norddeutsch, österreichisch o. ä.) bleibt stets gewahrt. Das meine ich auch an den Übergängen der einzelnen Variationen bis hin zur Schlußfuge gut zu hören.

    Vielleicht bin ich zur Zeit etwas zu sehr positiv eingenommen von Brahms (sprich: zu unkritisch), dessen Instrumentalmusik ich in den letzten Wochen viel gehört habe?

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Das wiederholte Hören hat mir jetzt viel Freude gemacht, und zwar in dieser Aufnahme:

    Perahia spielt noch mehr Kontraste heraus als Katchen (bei den Binnentempi, der Dynamik usw.), bemüht sich gleichzeitig sehr um die Übergänge, bringt Var. 19 fast scherzoartig und mit sehr wenig Pedal. gestaltet die Fuge so differenziert, dass ich sie nicht mehr als angestrengtes polyphones Gewürge empfinde... ;+) Er scheint übrigens mindestens bei Var. 3 und 4 einen anderen Notentext zu benutzen als Katchen (ich habe in der Breitkopf & Härtel-Erstausgabe mitgelesen).


    Man könnte das als mutlos bezeichnen, wenn es denn als Revolte gemeint wäre, was ich bezweifle. Ich höre in den Händel-Variationen eher die Synthese von Vergangenem und Gegenwärtigem bzw. Zukunftsorientiertem, mehr "sowohl als auch" als "statt dessen".

    Von Schumanns op. 13 hat Brahms sich sehr bewusst distanziert, er rechnete sie zum Typus der "Phantasien über eine Melodie, ein Motiv", den er von "Variationen" unterschied (Brief an Adolf Schubring).

    Ob jetzt die Eroica-Variationen enger oder systematischer angeordnet sind, wage ich nicht zu beurteilen.

    Vielleicht bin ich zur Zeit etwas zu sehr positiv eingenommen von Brahms (sprich: zu unkritisch), dessen Instrumentalmusik ich in den letzten Wochen viel gehört habe?

    Ich bin nun wirklich seit über 30 Jahren "positiv eingenommen" von Brahms und hatte auch nie groß was gegen die Händel-Variationen einzuwenden. Was mich nur stutzig gemacht hat: dass Brahms sie offenbar ernsthaft als sein Lieblingswerk bezeichnet hat.

    Auch wenn man das Werk nur an den von Brahms selbstgesteckten Zielen misst, so können doch auch diese Ziele kritisch betrachtet werden. Meines Ermessens bezeichnen die Händel-Variationen einen extremen Punkt von Brahms' Klassizismus (oder: Akademismus). Die Tradition wird geehrt und bewahrt. Erweiterungen des Variationsprinzips z.B. durch Beethoven oder Schumann werden nicht rezipiert oder sogar explizit abgelehnt. Die selbst auferlegten Beschränkungen sind schon erheblich: das Taktschema wird immer beibehalten. Mit Aunahme von drei Variationen ist immer die Grundtonart vorgezeichnet, nur eine Variation steht in Moll. Von der Länge und vom "Gewicht" her unterscheiden sich die Variationen nicht sehr. Und, wie von mir schon angesprochen: das Ausdrucksspektrum ist moderat und begrenzt, als würde Brahms sich seiner frühen schwärmerisch-romantischen Phase (u.a. mit den Klaviersonaten) schämen. Die letzten beiden Punkte waren auch wichtig für meinen Vergleich z.B. mit den Eroica-Variationen: dort bilden die Minore-Variation und das Largo eine enorme expressive Vertiefung gegenüber dem ersten Block der Variationen, gewissermaßen einen "langsamen Satz" vor der Fuge. Bei den Händel-Variationen kommt derlei nur andeutungsweise vor.

    Ich glaube zu verstehen, worin das "Zukunftsorientierte" liegt: gerade in der Verknappung und Konzentration, in der besonderen Berücksichtigung des Basses gegenüber der Melodie, in möglicht großer Vielfältigkeit trotz erheblicher selbst auferlegter Restriktionen. Vielleicht könnte man die Passacaglia der vierten Sinfonie als einen Endpunkt dieser Entwicklung sehen. Dieser Satz hat aber (u.a. in seiner Funktion als Sinfoniefinale natürlich in einem ganz anderen Kontext) bei aller Strenge und Konsequenz auch eine ungeheure emotionale Rigidität, die fast verstörend wirken kann. Davon sind die Händel-Variationen weit entfernt, das (kompositions-)Technische rückt stark in den Vordergrund.

    Wobei ich schlussendlich noch hinzufügen möchte, dass ich hier nur etwas unbeholfen den advocatus diaboli spiele. Sonst hätte ich mir das Werk nicht in den letzten Tagen mit wachsendem Vergnügen viermal angehört.


    Viele Grüße

    Bernd

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  • Bei Brahms sind drei Variationen in Moll, wenn mich nicht alles täuscht (5, 6, 13), bei Beethoven zwei (die 6.? (vor dem Kanon) in c-moll und Nr.14 in es-moll).

    Ein Minore und/oder ein langsamerer Abschnitt vor dem "Finale" ist keine Beethovensche Neuerung (wenn auch hier vielleicht besonders ausgeprägt), sondern traditionell; man nehme zB Mozarts KV 331 oder das Klarinettenquintett. Auch bei Beethoven ändert sich der 2/4-Takt bis zu dem "Maggiore" Nr. 15 nicht (und das Tempo auch nicht, das bei Brahms häufig variiert, wenn auch meist nicht so stark). Die Var. 5+6 bilden jedenfalls gemeinsam einen Kontrast zu denen vorher und nachher, wenn auch vielleicht nicht lange und langsam genug für einen "langsamen Satz".

    Nach meinem Dafürhalten ist das Außergewöhnllichste bei Beethoven die Einleitung mit dem Bass und den entsprechenden "Kontrapunktübungen" und vielleicht noch die verzierte Reprise des Themas nach der Fuge, die zusammen mehr oder weniger den sonst oft üblichen brillant-virtuosen Abschluss vertreten. Weder eine solche Einleitung noch eine verzierte Reprise wären bei dem Brahms-Werk besonders sinnvoll gewesen.

    Aber es ist sicher richtig, dass Brahms sich hier recht enge Vorgaben, was das Variieren betrifft, gegeben hat, vielleicht auch im Anschluss an Händels eigene rein rhythmische bzw. Verkleinerungsvariationen dieser "Aria"

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Bei Brahms sind drei Variationen in Moll, wenn mich nicht alles täuscht (5, 6, 13)

    Stimmt, ich habe wieder mal nicht richtig hingeschaut und -gehört: Dreimal die Varianttonart b-moll, der Rest in der Grundtonart (wobei ganze Wälder von Vorzeichen z.B. in Var. 20 größere harmonische Komplexität andeuten).

    Nein, ich wollte nicht sagen, dass Brahms seine Händel-Variationen nach dem Muster der Eroica-Variationen hätte konzipieren sollen. Ich wollte vor allem auf die Parallele zwischen dem selbst auferlegten engen kompositionstechnischen Rahmen (innerhalb dessen sich größtmögliche Variabilität entfaltet, klar) und einer affektiven Sprödigkeit hinweisen, bei der eine melodische Moll-Variante (Var. 5) und ein angedeutetet zeremonieller Trauermarsch (Var. 13) schon den höchsten Punkt emotionaler Entäußerung darstellen. Und dass sich nur wenige Brahms-Werke finden lassen, in denen diese Vorherrschaft von "Technik" und "Tradition" bei gleichzeitiger relativer affektiver Neutralität (von mir plump als "Akademismus" bezeichnet) so deutlich hervortritt. Und dass Brahms eben genau dieses Werk als sein liebstes bezeichnet hat.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Ich mag das Werk auch sehr gern und habe deshalb auch ziemlich viel Aufnahmen davon über die Jahre angesammelt. Meine Favoriten: Leon Fleisher (1956 - schon allein für die himmlische 22. Variation würde sich diese Anschaffung lohnen!) ) und András Schiff (1994).
    Heike

    „Wahrscheinlich werden künftige Generationen sich erinnern, dass dieses Jahrhundert das ,Century of Recordings’ war, in dem die Menschen auf die seltsame Idee verfielen, man könne Musik in kleine Plastikteile einfrieren. Mich erinnert das an die Idee der Ägypter vom Leben nach dem Tod. Eine ungesunde Idee. Studiomusik ist eine Verirrung des 20. Jahrhunderts. Das wird verschwinden.“ (F. Rzewski, Komponist, in der FAZ vom 21.4.2012)

  • Die Frage wäre auch, wann Brahms das Stück sein bestes nannte. Bezieht sich das vielleicht nur auf die früheren Werke oder nur auf die Klaviermusik?
    Allerdings ist ja auch noch aus anderen Äußerungen bekannt, wieviel Wert Brahms auf "Handwerk" und Materialökonomie gelegt hat; insofern würde mich nicht unbedingt wundern, wenn er das Werk gegenüber den romantischeren frühen Klavierwerken besonders herausheben wollte (und die späten Klavierstücke waren vermutlich noch nicht komponiert)
    Angesichts des eher spielerisch-heiteren Themas finde ich die Moll-Variationen schon relativ ausdrucksvoll und als recht deutlichen Kontrast. (Selbstredend keine solche extreme Kluft wie zwischen Diabellis Walzer und dortigen Variationen 14, 20, 31 u.a.) Ich habe heute morgen, allerdings nicht mit ungeteilter Aufmerksamkeit die beiden Regerschen-Variationen (Bach bzw. Telemann) gehört und die sind ebenfalls weit eher in der Nachfolge der "Händel-Variationen" als der Diabelli-Var. Wie auch sonst manchmal beim späten Beethoven gibt es für die Diabellis kaum offensichtliche Nachfolgewerke. (Ich habe ja die Idee, dass die freieren Zyklen Schumanns mit generisch tänzerischem Charakter wie Carnaval und Davidsbündlertänze vielleicht ein Echo der Diabellis sein könnten, bloß eben keine Variationen i.e.S.)
    Mehr als einen streng-akademischen höre ich bei den Händel-Variationen oft oder vielleicht insgesamt einen eher spielerisch-humoristischen Charakter. (Weniger in der Fuge, die mir in der Tat etwas zu bombastisch ist.)

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Wie abwechslungsreich, ausdrucksvoll, geradezu aufregend und spannend die Händel-Variationen klingen können, beweist Sergio Fiorentino in einer Live-Aufnahme. Bitte nicht vom schlechten Bild stören lassen, es handelt sich um einen Mitschnitt aus dem Publikum:

    "

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    "

    Trotzdem die Klangqualität eher mäßig ist, kann man deutlich den wunderschönen Ton Fiorentinos hören. Er klingt so herrlich leuchtend und sanglich, kraftvoll und doch italienisch beschwingt. Unter seinen Händen wirkt das Werk nicht wie eine Aneinanderreihung einzelner Variationen, sondern wie ein geschlossener Zyklus, der alles bietet: Verspieltheit, Noblesse, Strenge, Ausgelassenheit, Tumult...

    Ich habe noch viele andere Aufnahmen, die erst einmal wieder gehört werden wollen. Aber ich war so begeistert von Fiorentino, dass ich diesen Hinweis unbedingt schon mal platzieren wollte.
    Wenn die Händel-Variationen so gespielt werden, klingen sie auf gar keinen Fall akademisch oder trocken. Die machen ungeheuer Spaß. Ich bin ziemlich begeistert! :juhu:

  • Ich war ein paar Tage unterwegs und konnte mich deshalb an der Diskusson nicht mehr beteiligen.

    das Taktschema wird immer beibehalten. Mit Aunahme von drei Variationen ist immer die Grundtonart vorgezeichnet, nur eine Variation steht in Moll. Von der Länge und vom "Gewicht" her unterscheiden sich die Variationen nicht sehr. Und, wie von mir schon angesprochen: das Ausdrucksspektrum ist moderat und begrenzt, als würde Brahms sich seiner frühen schwärmerisch-romantischen Phase (u.a. mit den Klaviersonaten) schämen.

    In Variation 15 ist der zweite Teil auf fünf Takte verlängert. Die Variationen Nr. 5, 6 und 13 stehen in b-moll, Variation Nr. 21 in g-moll. Es weichen also immerhin 4 von 25 Variationen von der Grundtonart ab. Wie bei jedem geschlossenen Werk, ist natürlich auch bei den Händel-Variationen das Ausdrucksspektrum begrenzt, aber ob diese Grenzen tatsächlich bei den frühen Klaviersonaten weiter gesteckt sind als hier, wage ich zu bezweifeln. Die Sonaten bewegen sich in einem anderen Ausdrucks-bereich, aber die Vielfalt der musikalischen Charaktere scheint mir bei den Händel-Variationen doch eindeutig größer zu sein. Dass der musikalische Ausdruck hier mit größerer formaler Strenge einhergeht, ist trotz der genannten (und einiger mehr) metrischen und harmonischen Abweichungen offensichtlich, aber gerade darin kann man natürlich jenseits vom persönlichen Geschmack auch einen kompositorischen Fortschritt sehen. Dass Brahms sich seiner früheren Werke "geschämt" habe, ist daraus jedenfalls genausowenig abzuleiten wie aus der klassizistischen ersten Serenade im Vergleich zum kurz zuvor entstandenen, romantisch-rhapsodischen ersten Klavierkonzert.

    Und dass Brahms eben genau dieses Werk als sein liebstes bezeichnet hat.

    Die Formulierung mit dem Lieblingswerk stammt aus einem Brief vom 14. April 1862 an Breitkopf & Härtel. Sie bezieht sich natürlich nur auf die bis dahin exisitierenden Werke, wahrscheinlich sogar nur auf die Klavierwerke. Außerdem steht sie im Zusammenhang mit Honorar-Verhandlungen. Sie bedeutet dennoch mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass Brahms mit den Händel-Variationen einen grundsätzlichen kompositorischen Fortschritt erreicht zu haben glaubte.

    Christian

  • Leider ist die Diskussion über die Variationen op.24 von
    Brahms seit einem Jahr unterbrochen, so dass bisher niemand auf das eingangs
    von Christian gestellte Rätsel eingegangen ist. Ich meine das Zitat aus Bachs
    d-moll Fuge ab Takt 291 über die 3 folgenden Takte zu vernehmen.


    Ich empfinde jedoch auch eine gewisse Ähnlichkeit im
    Bewegungsgestus mit der Fuge D-Dur BWV532. Und noch etwas ist auffällig,
    nämlich Anklänge an Schumanns Toccata op.7, und zwar besonders in den
    Schlusstakten. Bevor mich jetzt aber jemand verdächtigt ich würde Brahms hier
    als Plagiator diffamieren: das ist wahrscheinlich mehr Zufall als Absicht, und
    schmälert die kompositorische Leistung keineswegs.
    Eusebius

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Ich meine das Zitat aus Bachs d-moll Fuge ab Takt 291 über die 3 folgenden Takte zu vernehmen.

    l-l

    Und noch etwas ist auffällig, nämlich Anklänge an Schumanns Toccata op.7, und zwar besonders in den Schlusstakten.

    Ist mir bisher noch nicht aufgefallen, aber Du hast vollkommen Recht. Die Ähnlichkeit ist auch in den Takten ab 258 zu finden, wo zu der durchlaufenden Sechzehntelbewegung genau der synkopische Rhythmus aus der Toccata kommt.

    Christian

  • Da wir an anderer Stelle gerade über Gerhard Oppitz sprachen, habe ich mir mal seine Version der Variationen op.24 angehört. Da es eines meiner Lieblingsstücke ist, kann ich das auch praktisch immer hören :rolleyes:

    Auffällig ist, dass Oppitz mit wenig Pedal spielt und einen etwas trockenen Klang bevorzugt. Das ist bei einigen Variationen durchaus von Vorteil, kommt doch dadurch die Binnenstruktur mit den Mittelstimmen gut zur Geltung. Aber er beherrscht auch den "grossen Ton", denn insbesondere bei den Variationen, wo ordentlich zugelangt werden darf, tut er dies ausgiebig. So z.B. in der Variation 4, wo er die Oktaven wunderbar staccato in den Flügel stemmt. Das hat Saft und Kraft. Seine rhythmische Pointiertheit zeigt er z.B. auch in Variation 7, wo er die Jagdhorn-Imitationen akzentuiert und sempre staccato mit der gebotenen "con vivacita" spielt. Das setzt sich in der folgenden Variation noch fort. Die Variationen bei denen der Ton etwas innerlicher ist, gelingen ihm jedoch nach meinem Eindruck nicht ganz so gut, aber wer ohnehin in diesen Variation mehr das kraftvolle Element liebt, der wird hier bestens bedient. So auch in der Stretta der letzten 3 Variation, die er in Variation 25 mit atemberaubendem Tempo und enormer Treffsicherheit abschließt.
    Die Fuge nimmt Oppitz wie zu erwarten weniger streng im Gestus, eher aufgelockert. Das "Glockengeläut" ab Takt 327, wo die Oktaven auf F auf und ab gehen, und von munteren Sechzehnteln umspielt werden, würde ich mir etwas pompöser wünschen, denn sie läuten buchstäblich den Abschluß der Fuge und des gesamten Zyklus ein.
    Im Vergleich zu den von mir besonders geliebten Versionen von Leon Fleisher, Julius Katchen oder Andeas Boyde fällt Oppitz ein wenig zurück, aber eine tolle Aufnahme ist es auf jeden Fall, und unbedingt des Hörens wert.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Aber er beherrscht auch das "sotto voce", denn insbesondere bei den Variationen, wo ordentlich zugelangt werden darf, tut er dies ausgiebig. So z.B. in der Variation 4, wo er die Oktaven wunderbar staccato in den Flügel stemmt. Das hat Saft und Kraft.

    "Sotto voce" heißt m. W. wörtlich "unter der Stimme" und meint, dass eine Sängerin, ein Sänger nicht mit der Vollstimme singt, d. h. mit voller Resonanz und der vollen Spannung im Körper und einem gut gestützen Atemstrom, sondern bewusst "unter" seinen Möglichkeiten bleibt.

    Der Effekt kann z. B. verschleiernd sein oder "quasi hinter vorgehaltener Hand", wie eine vertrauliche Mitteilung. "Siehe, ich sage euch ein Geheimnis ..."

    Manchmal ist zu hören, dass "sotto voce" als "mit satter Stimme" o. ä. übersetzt wird. Das ist natürlich Quatsch ... ;)

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

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