Richard Strauss: Eine Alpensinfonie - "Wir sollten lernen, hellhörig zu hören, statt aufgeklärt die Nase zu rümpfen."

  • Richard Strauss: Eine Alpensinfonie - "Wir sollten lernen, hellhörig zu hören, statt aufgeklärt die Nase zu rümpfen."

    [Vgl. hier. :gurni: ]

    [...]

    Eine Alpensinfonie
    für großes Orchester op. 64
    "Dem Grafen Nicolaus Seebach und der Königlichen Kapelle zu Dresden"
    E: 1899-1915
    UA: 28.11.1915 Berlin, Dresdner Hofkapelle, Dir.: R. Strauss
    D: 50-53min

    [...] ins Kolossale getrieben schließlich mit der Alpensinfonie.

    Letzteres Werk schätze ich nicht so sehr wie seine Vorgänger: Was man Strauss oft zum Vorwurf gemacht hat (und was auch mich lange auf Distanz hielt), ist die Art des Komponisten, sich selbst feiernd hervorzustreichen: Solche Eitelkeit kann befremden.

    [...]

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • [...]

    ins Kolossale getrieben schließlich mit der Alpensinfonie.

    Letzteres Werk schätze ich nicht so sehr wie seine Vorgänger: Was man Strauss oft zum Vorwurf gemacht hat (und was auch mich lange auf Distanz hielt), ist die Art des Komponisten, sich selbst feiernd hervorzustreichen: Solche Eitelkeit kann befremden.

    Die Alpensinfonie war ein Werk, das ich (nach sehr kurzer Anfangseuphorie mit 16 Jahren) lange Zeit nur mit der Kneifzange angefasst habe. Hier erlebte ich eine kleine Bekehrung :D nicht durch Debussy, sondern durch einen Text von Helmut Lachenmann. Durch folgende Sätze fühlte ich mich etwas ertappt:

    Wir sollten lernen, hellhörig zu hören, statt aufgeklärt die Nase zu rümpfen. [...] Wir verdrehen die Augen bei Mahler und kneifen sie bei Richard Strauss skeptisch zusammen. Wir sind taub und voreingenommen.

    Zum Thema Selbstfeier des Komponisten:

    [Die Alpensinfonie] schildert eine Begehung der Natur durch einen frommen Bürger, und es geschieht Aufschlussreiches dabei. Man kann darüber lächeln, aber immer nur als selbst Ertappter. Ein echter Alpinist bricht vor Sonnenaufgang auf. Strauss wartet diesen ab, bevor er in Es-Dur losstapft. Alle Abenteuer spielen sich in tonaler Geborgenheit ab. Aus dem nächtlichen Nebel in b-Moll bricht die Sonne in A-Dur hervor. Man tritt in rauschendem c-Moll ein in den Wald, wandelt auf moosigem As-Dur, erlebt die in der Sonne funkelnden Wasserfälle in D, danach die Blumenwiese in E-Dur und die Alm-Idylle mit Herdenglocken und Schalmei in Es-Dur, und nach Irrwegen und gefährlicher Stelle mit Tristanklängen tut sich auf erreichtem Gipfel in «majestätischem» C-Dur die Pracht einer Aussicht oberhalb der Zivilisation auf, im Wortsinne «hymnisch» erfahren. Und was passiert, wenn dieser der Zivilisation entflohene Bürger längere Zeit mit sich allein da oben steht? Er spürt seine eigene Begrenztheit. Er wird elegisch.

    Einer der großartigsten Momente in der gesamten Musik von Strauss ist der Passus Stille vor dem Sturm:

    Die beklommen-schwüle Stille vor der Entladung bewirkt eine fast körperlich drückende Zeiterfahrung. Wo hat das irgendein Komponist wieder erreicht?

    Das ganze Interview finde ich sehr lesenswert: "http://www.beckmesser.de/komponisten/la…ensinfonie.html"


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Da muß ich mich gleich mal anschließen: Vor allem die Alpensymphonie finde ich wirklich großartig. Okay, wenn mans mag: Wer hat neben Strauss solch wunderbare Hornthemen geschrieben? War es eigentlich erst Bruch (Violinkonzert Nr.1) oder erst Strauss? [edit] der die orchestralen Potenziale dieser Melodie entdeckt hat?[/edit]
    Egal, mir gefällts, in dieser saftigen Pracht, die irgendwie kein schlechtes Gewissen zu kennen scheint beim hinschreiben und orchestrieren so wirkungsvoller Melodien.

    [...]

    Gruss
    Herr Maria

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • [...] eine kleine Bekehrung [...] durch einen Text von Helmut Lachenmann.

    Das Interview finde ich in der Tat hochinteressant! Ich denke, die beiden Gesprächspartner treffen es recht gut, wenn sie feststellen:

    Zitat

    Max Nyffeler: Bei Mahler ist es ins Negative gewendet, bei Strauss ins Positive. Es kann ja sein, dass wir heute Mahler nur deshalb mehr schätzen, weil wir aufs Negative geeicht sind.

    Helmut Lachenmann: Wer ist «wir»? Die Adorno-Geprägten? Ich nicht. Und wenn schon «wir»: Wir verdrehen die Augen bei Mahler und kneifen sie bei Richard Strauss skeptisch zusammen. Wir sind taub und voreingenommen.

    Ich bin mir gar nicht so sicher, ob Mahler "mehr Tiefe" erreicht als Strauss oder ob das nicht auch zu den Klischees gehört, die Lachenmann aufs Korn nimmt.

    [...]

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ich habe vor langer Zeit im Fernsehen mal eine Aufnahme der Alpensymphonie gehört. Um ehrlich zu sein habe ich nicht mehr die geringste Erinnerung an die Aufführung. Es gab aber einen Menschen, der zum Stück eine Art Einführung hielt (wer das war, weiß ich auch nicht mehr). Jedenfalls erzählte er, der für ihn eindrücklichste Moment der Alpensymphonie sei der, wenn der Gipfel erreicht ist und eine einsame Oboe ertönt. Die Besprechung war mit etwas Pathos aufgeladen und betonte mehrfach, wie feinsinnig es sei, dass gerade der mächtigste Moment - nämlich das Erreichen des Ziels - durch einen einsamen und bescheidenen, klaren Oboenklang verdeutlicht werde. Die Besprechung war so fesselnd, dass ich sie nie wieder vergaß.

    Trotzdem - das muss ich sagen - habe ich die Alpensymphonie nie so richtig konzentriert gehört. Ich hatte irgendwann eine Aufnahme davon (mit Solti und dem bayerischen Radiosymphonieorchester), aber ich verwendete die CD eigentlich nur, um in der Schule Till Eulenspiegel zu besprechen. Ich habe mal anhand einiger Beispiele Gewitter in der Musik untersucht. Von daher lernte ich auch den entsprechenden Abschnitt aus der Alpensymphonie kennen. Als Ganzes lief sie vielleicht drei oder vier Mal im Hintergrund und das war´s.

    Heute abend hatte ich die CD mal wieder in der Hand. Ich legte sie in meinen Computer und stellte fest, dass die Trackpoints mehr oder weniger mit den Programmbezeichnungen von Strauss zusammenfielen. Ich konnte also ohne Noten mitzulesen erkennen, wann der "Gipfel" erreicht ist. Da nahm ich mir vor, dass ich diesmal aufpassen will und auf die Oboe und die Bergeinsamkeit hören möchte.

    Endlich kam die Stelle... und ich wurde nicht glücklich.
    Zunächst mal erklingt großes Getöse, wenn der Gipfel erreicht ist. Die Oboe ist erst danach dran. Das hätte ich noch verschmerzen können.
    Dann stellte ich fest, dass die Oboe gar nicht einam ist: Da ist ein Streichertremolo im Hintergrund. Sphärenklänge? Keine Ahnung. Jedenfalls war es mit der absoluten Einsamkeit, die ich so gern gehört hätte, Essig.
    Dann stellte ich fest, dass es zwar immerhin zwei Solopassagen der Oboe sind, die da erklingen, das ist aber quasi nur ein Vordersatz, und den Nachsatz besteht aus einem lauten Orchesterkommentar. Ich kam mir vor, als würde auf dem Gipfel eine Imbissbude stehen.
    Der Rest der Episode besteht aus jubilierenden und triumphierenden Orchestertutti, wie ich sie schon immer relativ uninteressant fand.

    Naja - ich erhebe hier nicht den Anspruch eine verbindliche Aussage über die Alpensymphonie zu machen. Ich möchte nur erwähnen, dass diese Vorstellung von der perfekten Idylle, die dieser Kommentator aus dem Fernsehen vor vielen Jahren in meinem Hirn verankert hat, geplatzt ist.

    Eine Illusion weniger.

    Tharon.

  • Naja - ich erhebe hier nicht den Anspruch eine verbindliche Aussage über die Alpensymphonie zu machen. Ich möchte nur erwähnen, dass diese Vorstellung von der perfekten Idylle, die dieser Kommentator aus dem Fernsehen vor vielen Jahren in meinem Hirn verankert hat, geplatzt ist.

    Lieber Tharon, über die Alpensinfonie (und andere symphonische Dichtungen von Strauss) hatten wir ab hier schon einmal diskutiert, im ersten verlinkten Beitrag findest Du auch einen Link zu einem Text von Lachenmann über dieses Werk, der Dich interessieren könnte.

    Die Oboenstelle auf dem Gipfel erinnerrt mich übrigens immer an die vergleichbare Passage im Rosenkavalier, wenn Octavian Sophie die Rose überreicht (auch hier nach großem Orchestergetöse). Was nahelegt, dass Strauss nicht nur "metaphorisch polarisiert", sondern auch metaphorisch komponiert...


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Die Oboenstelle auf dem Gipfel erinnerrt mich übrigens immer an die vergleichbare Passage im Rosenkavalier


    Mich an das 1. Fugenthema in Bruckner V.

    "...es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen." - Johannes Brahms

  • Zitat von Zwielicht

    Lieber Tharon, über die Alpensinfonie (und andere symphonische Dichtungen von Strauss) hatten wir ab hier schon einmal diskutiert, im ersten verlinkten Beitrag findest Du auch einen Link zu einem Text von Lachenmann über dieses Werk, der Dich interessieren könnte.

    Liebes Zwielicht,

    der von dir angegebene Strang ist mir durch die Lappen gegangen. Ja, vielleicht ist mein "Beitrag" dort besser aufgehoben. Wenn Bedarf besteht habe ich nichts gegen eine Verschiebung.

    Zum Lachenmann-Text möchte ich Folgendes sagen:

    Ich mag den Komponisten Lachenmann. Sein Interview zur Alpensymphonie hat aber nicht sonderlich viel mit meinem Problem zu tun.

    Ich bin bei weitem mit dem Werk noch nicht so weit, dass ich Lachenmanns Thesen hier ernsthaft in Frage stellen könnte. Ein paar Details stören mich aber schon an seiner Art zu argumentieren:

    Zitat von Lachenmann

    Wir sollten lernen, hellhörig zu hören, statt aufgeklärt die Nase zu rümpfen.

    Was spricht denn eigentlich dagegen aufgeklärt zu hören?

    Zitat von Lachenmann

    Man kann darüber lächeln, aber immer nur als selbst Ertappter.

    Leider verrät uns Lachenmann nicht, worüber "man" beim Anhören der Alpensymphonie üblicherweise lächelt. Schade. In dem Interview beschreibt er dann die "Abenteuer" des Bergwanderers, die sich bei Strauss "in tonaler Geborgenheit" abspielen. Vielleicht spielt Lachenmann darauf an, dass Strauss´ Thema möglicherweise in den Augen einiger Hörer bieder wirken kann (nach dem Motto: "Bergwandern, das war doch das mit den Lederhosen und den Heimatfilmen"). Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass alles "tonal" oder das Naturerlebnis irgendwie gezähmt und für den Konzertsaal heruntergebrochen wurde. Eindeutig finde ich Lachenmann mit dieser Aussage nicht. Der Schluss des Zitats ist aber offensichtlich als Relativierung gedacht:

    Zitat von Lachenmann

    Und was passiert, wenn dieser der Zivilisation entflohene Bürger längere Zeit mit sich allein da oben steht? Er spürt seine eigene Begrenztheit. Er wird elegisch.

    Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was ich beim Anhören der Stelle empfunden habe. Und ich habe dafür auch Gründe genannt: Dieser der Zivilisation entflohene Bürger steht nicht allein dort oben (Streichertremolo im Hintergrund), schon gar nicht längere Zeit. Das verhindern die in den Nachsätzen ertönenden Jubeltutti. Die klingen auch überhaupt nicht nach Begrenzung und Elegie.

    Natürlich kann man die Episode kleinteiliger auslegen (offensichtlich tut das Lachenmann): Der der Zivilisation entflohene Bürger: das ist dann wirklich nur das Oboensolo. Die Soli sind kurz (also begrenzt) und zumindest im Vergleich zu dem vorher und hinterher erklingenden triumphalen Tutti irgendwie klein und nichtig. Bei dieser Betrachtungsweise wird die Oboe zum Gegenpol des Orchestertuttis. Die Oboe ist dann das unbedeutende menschliche Ich, das Triumphtutti ist das überwältigende Naturerlebnis, das dem unbedeutenden Individuum gegenüber steht. Ich kann das akzeptieren, das Konzept ist aber doch wesentlich traditioneller, als die Darstellung der Einsamkeit und Sprachlosigkeit eines Individuums (an die ich bei den Worten von der einzelnen Oboe angesichts des Erreichens des Gipfels ursprünglich dachte). Dass überirdische, göttliche oder schicksalhafte Kräfte in der Musik durch ein großes Gedöns dargestellt werden, ist doch ziemlich verbreitet. Mich hätte eine Darstellung des Individuums, das angesichts des überwältigenden Naturerlebnisses in seiner Einsamkeit mit sich selbst konfrontiert wird, interessiert. Die von Strauss imaginierte Antwort des Kosmos interessiert mich weniger.

    In diesem Punkt entfernt sich Lachenmanns Betrachtungsweise auch von meinem Problem. Lachenmann stellt in seinem Text den "undurchschaubaren Dissonanzenbrei" der Neutöner Strauss´ Authentizismus gegenüber. Seine Kritik interessiert mich nicht. Meine Empfindung beruht überhaupt nicht auf der Tatsache, dass Strauss mit der Alpensymphonie einigermaßen traditionelles Terrain beschreitet. Man höre Haydns Abschiedssymphonie und erfahre, wie eine Solopassage in einem Tuttikontext wirken kann. Mein Problem ist: Ich würde gern diese überwältigende Stille hören, die ich ein paarmal in meinem Leben auf einem Gipfel erleben durfte und die bewirkte, dass ich bei mir selbst war. Für mein Empfinden hat das Orchestertutti diesen stillen Moment aber so schnell wieder vertrieben, dass er seine Wirkung gar nicht entfalten konnte. Ich finde das Konzept extrem spannend, es erweist sich aber in dieser Konkretion für mein Gefühl als nicht wirksam genug.

    Da höre ich lieber Lachenmann.

    Tharon.

  • Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was ich beim Anhören der Stelle empfunden habe.

    Vermutlich meint Lachenmann aber den nach Höhepunkt auf dem Gipfel folgenden Abschnitt, der sogar mit "Elegie" überschrieben ist.

    Die Oboe ist durch das Streichertremolo halt sinnlich eingebettet und tonartlich vermittelt. (Durch den Tonartenplan, der mit dem Anstieg gleichzeitig im Quintenzirkel aufwärts führt. Das "große Getöse" der Posaunen dient der Modulation nach F (und versinnlicht dadurch den bedeutenden "letzten Schritt" des Anstiegs. Die vollständige Kontemplation vollzieht sich durch den dem Oboensolo folgenden Schritt nach C).
    Das Streichertremolo versinnlicht für mein Empfinden die dünne Höhenluft. Okay, somit mögen die Mittel plakativ sein, aber was bedeutet das schon... billig wären sie meiner Meinung nach, sobald sie nur diesem einzigen (illustrativen) Zweck folgen würden. Alle Texturen ergeben sich aber auch rein musikalisch ganz organisch. Die Form finde ich harmonisch und dramaturgisch überzeugend, ohne dass sie irgendeiner tradierten Formschablone folgenden würde. Was will man mehr?
    Wäre eine solipsistische Deutung wirklich so viel origineller? Hat man das nicht sonst so oft in der Kunst? Strauss ging es eben wesentlich um die Affirmation der Natur, nicht um Probleme des Individuums - so sehe ich das.
    Es geht um Erhabenheit und Kontemplation. Um das Versinken des Ichs in der reinen Anschauung. Tiefromantisch. Ein unbegleitetes Solo würde total aus dem Kontext herausfallen. Ich kann es mir jedenfalls nicht vorstellen. Aber weitere Meinungen dazu wären natürlich interessant, ist eine spannende Diskussion.


  • Leider verrät uns Lachenmann nicht, worüber "man" beim Anhören der Alpensymphonie üblicherweise lächelt.

    Da ich lange Zeit zu diesem "man" gehört habe, glaube ich es zu wissen: die extreme illustrative Komponente, die aufwendige Orchestertechnologie zur Simulation von Natur, der Vulgär-Nietzscheanismus, die scheinbare Formlosigkeit. Das musikalische Pendant zu Ganghofer in den Jahren der explodierenden Frühmoderne.


    Zitat

    Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was ich beim Anhören der Stelle empfunden habe. Und ich habe dafür auch Gründe genannt: Dieser der Zivilisation entflohene Bürger steht nicht allein dort oben (Streichertremolo im Hintergrund), schon gar nicht längere Zeit. Das verhindern die in den Nachsätzen ertönenden Jubeltutti. Die klingen auch überhaupt nicht nach Begrenzung und Elegie.

    [...]
    Mich hätte eine Darstellung des Individuums, das angesichts des überwältigenden Naturerlebnisses in seiner Einsamkeit mit sich selbst konfrontiert wird, interessiert. Die von Strauss imaginierte Antwort des Kosmos interessiert mich weniger.

    Ralph hat es ja schon gesagt: Es geht hier nicht um die Passage Auf dem Gipfel mit der Oboenstelle, sondern um die nachfolgenden Teile, die für mich die beeindruckendste Partie des Werks bilden: Die Vision, die am Ende geradezu apokalyptische Züge annimmt. Dann die klangliche und harmonische Verschattung bei Nebel steigen auf – Die Sonne verdüstert sich allmählich. Anschließend die von Lachenmann angesprochene Elegie, ein mit seinem Holzbläsersatz m.E. für Strauss sehr untypisches Stück. Und schließlich die Stille vor dem Sturm, von Lachenmann besonders hervorgehoben (Die beklommen-schwüle Stille vor der Entladung bewirkt eine fast körperlich drückende Zeiterfahrung. Wo hat das irgendein Komponist wieder erreicht?) und auch von mir sehr geschätzt. Genau in diesen Teilen (besonders in der Elegie) drängt sich die Einsamkeit des "Bürgers" doch besonders auf, das ist viel mehr als die von Ralph apostrophierte "Affirmation der Natur".

    Hier fangen aber auch meine Schwierigkeiten mit Lachenmanns Text an. Wenn sein Gesprächspartner Max Nyffeler bemerkt:

    Spannend finde ich in der Alpensinfonie die «Elegie» und was ihr folgt. Da wird es plötzlich problematisch, und die Musik stellt Fragen. Vor allem das sind für mich die Stellen, in denen das Heruntersteigen zur Metapher einer zu Ende gehenden Epoche wird.

    ...und Lachenmann antwortet:

    Als Hörer philosophiere ich nicht. Metaphorisches Komponieren – geschweige metaphorisches Hören – funktioniert niemals.

    ...finde ich das unbefriedigend. Ich kann mit meinem Kontextwissen sehr wohl metaphorisch hören. Und ich höre die Entladung des Gewitters nach dem Fortschrittsoptimismus der Bergwanderung, nach dem Übergang vom Gipfel zur apokalyptischen Vision und nach der Einsamkeit der Elegie als eine kollektive Entladung, analog beispielsweise zu Meidners Apokalyptischen Landschaften.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • das ist viel mehr als die von Ralph apostrophierte "Affirmation der Natur".

    Stimmt, Affirmation der Natur ist nicht alles, aber zum Schluss (mit dem Orgel-Choral) kehrt er ja wieder dahin zurück (?). Und der (von Tharon kritisierten) Passage bis zum Einbruch der Vision entnehme ich affirmative Züge. Könnten wir uns darauf einigen, dass es beides gibt?

    Die Gipfeldramaturgie ähnelt Schopenhauers Gedankengang bzgl. des "Erhabenen":

    »Das Erhabene (sublime) ist die ehrfurchterregende Großheit (magnitudo reverenda), dem Umfange oder dem Grade nach, zu dem die Annäherung (um ihm mit seinen Kräften angemessen zu sein) einladend, die Furcht aber, in der Vergleichung mit demselben in seiner eigenen Schätzung zu verschwinden, zugleich abschreckend ist«

  • Stimmt, Affirmation der Natur ist nicht alles, aber zum Schluss (mit dem Orgel-Choral) kehrt er ja wieder dahin zurück (?). Und der (von Tharon kritisierten) Passage bis zum Einbruch der Vision entnehme ich affirmative Züge. Könnten wir uns darauf einigen, dass es beides gibt?

    Ja, sicher. Der Topos des Erhabenen und Schrecklichen gilt auch hier, dazu kommt noch das Idyllische (Auf blumigen Wiesen - Auf der Alm), das ich bei Strauss allerdings deutlich weniger überzeugend finde als bei Beethovens Pastorale (auch wenn Lachenmann es mir verbietet, zwischen mehr und weniger gelungenen Teilen des Werks zu differenzieren ;+)).

    Die Orgel dröhnt ja schon während des Gewitters, vermutlich nicht nur der Klangfülle wegen, sondern auch, um ein bisschen Transzendenz reinzubringen.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Zitat von ralphb

    Strauss ging es eben wesentlich um die Affirmation der Natur, nicht um Probleme des Individuums - so sehe ich das.

    Das kann ich trotz der Relativierungen Zwielichts zumindest auf das Erreichen des Gipfels bezogen ganz gut nachempfinden. Und da sind dann meine Interessen wohl auch eher andersherum gepolt (und es gibt auch Romantiker, bei denen das so ist - denen es wesentlich um die Probleme des Individuums und zumindest weniger um die Affirmation der Natur geht - oder nicht?). Was ich geschrieben habe ist auch gar keine Kritik an Strauss´ Werk. Ich kann mir auch vorstellen, dass er bei genauer Betrachtung alles richtig gemacht hat. Wenn ich an einen Berggipfel denke, würde ich aber eben gern etwas anderes hören.

    Die "Stille vor dem Sturm" - soviel sei gesagt - gefällt mir übrigens auch wesentlich besser als die Gipfelbesteigung. Irgendwie bin ich aber immer davon ausgegangen, dass sich der Wanderer nicht mehr auf dem Gipfel befindet, wenn der Sturm kommt (sondern in irgendeiner Klamm hängt, oder was auch immer). Ich habe gerade nochmal nachgesehen, was für Programmpunkte bei Strauss nach dem Erreichen des Gipfels folgen: Vision – Nebel steigen auf – Die Sonne verdüstert sich allmählich – Elegie – Stille vor dem Sturm und dann heißt es "Gewitter und Sturm, Abstieg". Das heißt, diese ganze Sturmangelegenheit findet auf dem Gipfel statt? Erstaunlich. Ich weiß zwar nicht so genau, warum man bei einem heranziehenden Gewitter ausgerechnet ganz oben auf dem Gipfel ausharrt... aber offensichtlich ist es so gedacht. Wie dem auch sei. Die Information verändert meine Sicht auf die Dinge doch etwas. Vielen Dank auch dafür. Nach meinem nächsten Hörvorgang berichte ich möglicherweise wieder.

    Tharon

  • Ich meine, den krassen Fokus aufs Individuum findet man doch bei Mahler, oder? Ist doch toll, dass es diese Gegensätze gibt und nicht der eine das Gleiche wie der andere bloß unter anderer klanglicher Oberfläche zu sagen hat.

    Volle Zustimmung!

    Zustimmung auch von mir. Allerdings finde ich Ralphs Gegenüberstellung von "Affirmation der Natur" bei Strauss und "krassem Fokus aufs Individuum" bei Mahler doch sehr vereinfachend, zumindest sehr auf die Alpensinfonie fokussiert. [...]

    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Die obige Gegenüberstellung ist natürlich sehr vereinfachend, das ist klar. Und es ging mir auch primär um die Alpensinfonie. Ich glaube, dass das, was Tharon sucht, eher bei Mahler zu finden ist als bei Strauss, auch wenn dein Einwand sehr treffend ist:

    Dagegen ist es wohl kein Zufall, dass Strauss in seinen Tondichtungen immer wieder "Individuen" zum Thema wählt: Macbeth, Don Juan, Till Eulenspiegel, Don Quixote... Und wenn ein Komponist in seiner Musik in geradezu dreister Weise von sich selbst spricht - wenn auch teilweise ironisch gebrochen - dann ist es Richard Strauss: Ein Heldenleben, Sinfonia domestica, Intermezzo. Ohne dass ich das werten will.

    Ich glaube aber, dass es Strauss nicht so sehr um das Innenleben des Individuums selbst ging (höchstens noch in Tod und Verklärung), als um dessen soziale Interaktionen. In Don Juan wird bspw. der tragische Tod weniger von innen heraus erlebend vertont als aus einer erzählerischen Perspektive. Einen vergleichbaren Schluss hätte Mahler nie geschrieben. Die Abschnitte, die wirklich nur das Individuum selbst betreffen, sind in allen genannten Tondichtungen nach Art einer äußerst gerafften Themenexposition.

    Ganz anders in z. B. Mahlers 9., wo wirklich das Individuum als einzelnes im Vordergrund steht. Vielleicht könnte man (wieder stark vereinfachend) konstatieren, Mahler schreibt aus der Perspektive des "erlebenden Ichs", Strauss tendiert zu größerer Distanz (personal? auktorial?) zum Protagonisten...?

  • Strauss schildert weniger "die Natur" als das Empfinden des Wanderers ausgelöst durch die Natur (und durch seine wandernde Tätigkeit). Das "Individuum" drückt er dabei wohl auch weniger aus, als situationsbedingte typische Gefühle.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Strauss schildert weniger "die Natur" als das Empfinden des Wanderers ausgelöst durch die Natur (und durch seine wandernde Tätigkeit).

    Das mag auf Beethovens Pastorale zutreffen: "mehr Ausdruck der Empfindung als Malerey". Für die Alpensinfonie stimmt Deine Aussage in dieser Absolutheit aber nicht. Es gibt verdammt viel "Malerey" bzw. musikalische Mimesis von Natur: Waldesrauschen, fließende Bäche, Wasserfall, muhende Kühe, Herdenglocken auf der Alm, aufsteigende Nebel, fallender Regen, Heulen des Winds, Blitzeinschläge, Donner. Zudem wird die Aktion des Wanderers nachgeahmt: rüstiges Ausschreiten, Klettern, Stolpern. Und schließlich gibt es natürlich auch "Ausdruck der Empfindung", besonders im Mittelteil (Vision, Elegie usw.). Bei vielen Teilen lässt sich selbst beim konkreten Strauss nicht unterscheiden, ob hier "die Natur" oder das "Empfinden des Wanderers" im Mittelpunkt steht: Nacht, Sonnenaufgang, Auf dem Gipfel etc.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Stimmt auch wieder - ich habe es nicht kürzlich angehört und war jetzt aufgrund der Diskussion gedanklich am Gipfel.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Die vorangegangenen Beiträge stammen aus zwei anderen Fäden zu Richard Strauss:
    Strauss metaphorisch polarisiert – Wer die Schweinshaxe kreischt
    Richard Strauss als Symphoniker: "eines der eigenständigsten Genies unserer Zeit"?
    Ich habe sie hierhin kopiert (mit Kürzungen, damit der Blick auf die Alpensinfonie nicht durch andere Gipfel verstellt wird).

    :gurni:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!