Adorno im Wiesengrund - Doktor Faustus und Op. 111

  • Zunächst wundere ich mich ein wenig darüber, dass die Verfechter von künstlerischer Freiheit bei der Interpretation hier so streng sind. Ich habe dann mal in meinen Aufnahmen nachgehört (Perl, Gulda, Schnabel, Pollini und Korstick). Alle betonen die erste Note, und spielen das nicht auftaktig. Nach meinem Eindruck entspricht das auch eher dem Charakter und natürlichem Fluß des Themas.

    Wenn man volltaktig beginnt, hat man gleich zu Beginn einen Taktwechsel: erst einen Dreiertakt, dann einen Vierertakt. Ob das mehr "natürlicher Fluß" ist als der notierte durchgehende Dreiertakt mit Auftakt, wage ich doch zu bezweifeln. Ich glaube eher, dass das kaum noch jemandem auffällt, weil es eben fast alle so spielen.

    Der erste Takt ist ja auch nicht auftaktig notiert, sondern als Dritteltakt. Sonst hätte Beethoven ja 6 Sechzehntel als Pause notieren müssen. Dadurch wird sicher auch befördert, das Pianisten das wie einen normalen Takt behandeln.

    Das verstehe ich nicht. Das Motiv ist ganz normal als Auftakt notiert, und sogar der allerletzte Takt im Satz ist ganz nach Lehrbuch um die Auftaktlänge verkürzt.

    Der Auftakt ist hier nicht so offensichtlich wie in der 5. Sinfonie

    Sicher, das wurde ja auch in der Diskussion schon behandelt, dass dieser Auftakt ambivalent ist und zu einem metrischen Schwebezustand führt. Man hört das aber nur, wenn man ihn eben nicht einfach wie einen Volltakt betont.

    Viel spannender als die Frage ob der Anfang richtig gespielt wird ist für mich der Fortgang des Satzes.

    Unbestritten. Aber erstens kann man sich ja trotzdem auch mal mit diesem Auftakt beschäftigen, und zweitens spielt er in dem Kapitel aus "Dr. Faustus" nun mal eine besondere Rolle.

    Und zur Behandlung in Dr. Faustus kann ich mich nur Leverkühn anschliessen. Wir haben es hier mit einer Art Interpretation zu tun, die man nicht an strengen musikalischen Maßstäben messen sollte.

    Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich Dr. Faustus deshalb als schlechten Roman bezeichnet hätte.

    Christian

  • Der erste Takt ist ja auch nicht auftaktig notiert, sondern als Dritteltakt. Sonst hätte Beethoven ja 6 Sechzehntel als Pause notieren müssen. Dadurch wird sicher auch befördert, das Pianisten das wie einen normalen Takt behandeln.

    Das verstehe ich nicht. Das Motiv ist ganz normal als Auftakt notiert, und sogar der allerletzte Takt im Satz ist ganz nach Lehrbuch um die Auftaktlänge verkürzt.

    Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich Dr. Faustus deshalb als schlechten Roman bezeichnet hätte.

    Christian

    Lieber Christian

    Mit dem Auftakt hast Du natürlich recht, da habe ich nicht genau genug hingesehen. Aber der "normale" Hörer merkt das wohl gar nicht, und mit dem "natürlichen Fluß" meinte ich eben, das der Auftakt als solcher bei der Rezeption nicht wahrgenommen wird, wenn man dabei nicht in die Noten schaut.

    Ich habe auch nicht behauptet das Du Dr. Faustus als schlechten Roman bezeichnet hättest. Es ging mir nur darum, die Kritik an den Textzuweisungen zum Motiv der Arietta etwas zu relativieren.

    Eusebius

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Interessant finde ich, daß unter der 1. und 2. Klammer sich der Harmoniegang beschleunigt; andernfalls geriete die Wiederholung bzw. Fortsetzung vollends ins Volltaktige. Nach ein paar YT-Stichproben macht der eine oder andere Interpret hier ein deutliches Ritardando, so daß es direkt volltaktig weitergeht; so dürfte es tatsächlich unrichtig sein.

    M.E. käme es vor allem darauf an, daß die Unterstimmen metrisch streng sind (was vor allem ab 2. Zählzeit von T. 1 spürbar sein sollte); die Oberstimme könnte wohl metrisch ungebundener sein - etwas alpenländisch klingt es für mich- das g' auf der 1 von T. 1 nicht betont, das wäre mir etwas trivial.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Ich habe mal in meine Aufnahmen (Arrau, Gulda, Richter, Katchen, Solomon, Lucchesini, Gould) hineingehört:
    [...]
    Lucchesini spielt - ähnlich wie Gulda - Auf- und Volltakt fast gleich schwer, legt sich also einfach nicht fest. Das ist zwar im beschriebenen Sinne "schwebend" und sicher auch "semplice", aber auch ein wenig neutral langweilig. Die raffinierteste Lösung hat für mich Glenn Gould gefunden: Er spielt zunächst das Auftaktmotiv recht schwer, zeigt aber durch eine ganz leichte Überpunktierung eine deutliche Richtung zur folgenden Eins. Den Auftakt zum nächsten Takt setzt er dann aber verzögert und minimal leichter an, so dass die metrische Struktur durch die Phrasierung ganz klar wird. Das alles schafft er mit großer Natürlichkeit, weshalb ich seine Aufnahme nach diesen paar Takten noch vor Solomon an die erste Stelle setze ;+) .

    Christian

    Hallo Christian,
    Deine Feststellungen zu Gould sind sehr genau beschrieben und ich höre sie auch so heraus , allerdings überzeugt mich das nicht, denn das Metrum wird mir dadurch zu unruhig - und nicht mehr "semplice". (Ich bewundre zwar Gould's Bach, aber sein Mozart und Beethoven sagt mir wegen der überzogenen Manierismen generell nicht zu).
    Gulda spielt in der früheren Aufnahme aus den 50ern (orfeo) den erste Auftakt deutlich schwächer als die 1 des Folgetaktes, beim zweiten Auftakt dreht sich das allerdings fast um. In der Wiederholung nimmt er dann beide Male den Auftakt schwächer als die 1.

    Auch Schnabel hat eine dezent leichtere Betonung des Auftakts. Für mich kommt bei ihm das "molto semplice e cantabile" am besten zum Ausdruck.

    Gruss, leverkuehn

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    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Mit dem Auftakt hast Du natürlich recht, da habe ich nicht genau genug hingesehen. Aber der "normale" Hörer merkt das wohl gar nicht, und mit dem "natürlichen Fluß" meinte ich eben, das der Auftakt als solcher bei der Rezeption nicht wahrgenommen wird, wenn man dabei nicht in die Noten schaut.

    Und da frage ich mich, ob man das nicht so spielen kann, dass der Hörer wenigstens eine gewisse Irritation bekommt, also weder klar auftaktig noch klar volltaktig hört. Meines Erachtens trägt gerade das zu dem besonderen Charakter dieses Anfangs bei. Wie man das bewerkstelligen könnte, habe ich ja weiter oben irgendwo schon einmal beschrieben. Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass viele Pianisten sich mit dieser Frage gar nicht beschäftigt haben sondern einfach so spielen, wie sie es von anderen im Ohr haben.

    Es ging mir nur darum, die Kritik an den Textzuweisungen zum Motiv der Arietta etwas zu relativieren.

    Ja klar, das ist natürlich nur ein eher kurioses Detail im Roman. Nur berufen sich ja manche Pianisten sogar in ihrer Interpretation auf dieses Kapitel (und heben z.B. die berühmte Vorhaltsnote "cis" - "Oh Du Himmelsblau" usw. - völlig übertrieben hervor; übrigens ist Thomas Mann auch da offenbar entgangen, dass diese Note als Vorhalt gegenüber dem auflösenden d natürlich schwer zu spielen ist). Und mal ehrlich: Thomas Mann lässt den armen Wendell Kretzschmar wenn auch mit großer Sprachkunst so doch ganz schön schwafeln: In den späten Beethoven-Sonaten gingen "das Subjektive und die Konvention ein neues Verhältnis ein, ein Verhältnis bestimmt vom Tode." Was um alles in der Welt soll das bedeuten?


    Christian

  • .. sollte er da Joachim Kaiser antizipiert haben? :hide:

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • das Subjektive und die Konvention ein neues Verhältnis ein, ein Verhältnis bestimmt vom Tode

    .. sollte er da Joachim Kaiser antizipiert haben?

    nein nein, das ist waschechter Adorno. Falls es bei Kaiser sowas gibt, ist das auch von Adorno ...

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • Und mal ehrlich: Thomas Mann lässt den armen Wendell Kretzschmar wenn auch mit großer Sprachkunst so doch ganz schön schwafeln: In den späten Beethoven-Sonaten gingen "das Subjektive und die Konvention ein neues Verhältnis ein, ein Verhältnis bestimmt vom Tode." Was um alles in der Welt soll das bedeuten?

    das ist waschechter Adorno. Falls es bei Kaiser sowas gibt, ist das auch von Adorno ...


    Was macht Dich da so sicher?

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Und mal ehrlich: Thomas Mann lässt den armen Wendell Kretzschmar wenn auch mit großer Sprachkunst so doch ganz schön schwafeln: In den späten Beethoven-Sonaten gingen "das Subjektive und die Konvention ein neues Verhältnis ein, ein Verhältnis bestimmt vom Tode." Was um alles in der Welt soll das bedeuten?

    Ich würde sagen, frag' nach bei Adorno...

    Ich erlaube mir zunächst noch einmal das Original zu zitieren:

    Zitat

    "Das Verhältnis des späten Beethoven, etwa in den fünf letzten Klaviersonaten, zum Konventionellen sei bei aller Einmaligkeit und selbst Ungeheuerlichkeit
    der Formensprache ein ganz anderes, viel läßlicheres und geneigteres. Unberührt, unverwandelt vom Subjektiven trete die Konvention im Spätwerk öfters hervor,
    in einer Kahlheit oder, man möge sagen, Aufgeblasenheit, Ich-Verlassenheit, welche nun wieder schaurig-majestätischer wirke, alse jedes persönliche Wagnis.
    In diesen Gebilden, sagte der Redner, gingen das Subjektive und die Konvention ein neues Verhältnis ein, ein Verhältnis, bestimmt zum Tode.
    "

    Thomas Mann, Doktor Faustus, GKFA 10.1, Seite 81/82


    In "Spätstil Beethovens" schreibt Adorno:

    Zitat

    "Das Verhältnis der Konventionen zur Subjektivität selber muß als das Formgesetz verstanden werden, aus welchem der Gehalt der Spätwerke
    entspringt, wofern sie wahrhaft mehr bedeuten sollen als rührende Reliquien.
    Dies Formgesetz wird aber gerade im Gedanken an den Tod offenbar.
    "

    zitiert nach: Adorno, Moments musicaux, "Spätstil Beethovens", GS 17, 15 / Digitale Bibliothek, Band 97, Seite 13734


    Adornos Philosophie der neuen Musik hatte Thomas Mann schon vor der Veröffentlichung ebenfalls zur Verfügung. Dort streicht er folgende Passage an:

    Zitat


    "Beim letzten Beethoven spielen die kahlen Konventionen, durch welche der kompositorische Strom
    zuckend gleichsam hindurchfährt, eben die Rolle wie in Schönbergs letzten Werken das Zwölftonsystem.
    "

    zitiert nach Adorno, Philosophe der neuen Musik, "Schönberg und der Fortschritt" , GS 12, 115 / Digitale Bibliothek, Band 97, Seite 10153


    Der Kommentarband zu Doktor Faustus sagt dazu:

    Zitat


    "Die - von Thomas Mann markierte - Stelle deutet darauf hin, dass der Autor den Beethoven-Vortrag Kretzschmars als Vorverweis auf Leverkühns Kompositionen konzipiert hat."

    Zitiert nach R. Wimmer, Kommentar zu Doktor Faustus, GKFA 10.2, Seite 264


    Der ganze Doktor Faustus ist ja ein Patchwork aus Zitaten, aber immer gefiltert und geformt mit Manns eigenen Worten.

    Gruß, Stephan

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    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Grandiose Beweisführung. Chapeau!

    Also ist Adorno der Schwafler. Habs doch geahnt.

    Eusebius

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Grandiose Beweisführung. Chapeau!

    Also ist Adorno der Schwafler. Habs doch geahnt.

    Verstehe ich nicht so recht. Die von leverkuehn angeführten Stellen erweisen doch bestens, daß die von ChKöhn bemängelte(n) Formulierung(en) auf Adorno zurückgehen. (Adornos Aufsatz stammt von 1937). Stimmt man ChKöhn mit dem Urteil "Schwafelei" zu, fällt das also nun mal auf Adorno zurück. Ich persönlich kann Adornos Ausführungen kaum nachvollziehen; ich höre in den Trillers, Fiorituren, "simplen Begleitungen" etc. einfach keine "stehengebliebenen Konventionen". Allerdings kommt mir das Adorno-Vokabular dem Kretzschmar in den Mund gelegt noch erheblich unpassender vor - das ist m.E. ziemlich mißglückt, und peinlich; das ist es beim Adorno-Original allerdings nicht.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Allerdings kommt mir das Adorno-Vokabular dem Kretzschmar in den Mund gelegt noch erheblich unpassender vor - das ist m.E. ziemlich mißglückt, und peinlich; das ist es beim Adorno-Original allerdings nicht.


    es wäre interessant, warum...
    Wenn ich es bei Adorno lese, ahne ich zumindest einen Sinn, der in der doch ziemlich verkürzt zitierten Fassung bei Th.Mann nur mehr erratbar ist.

    Also nicht: "waschechter", sondern verkürzter sowohl Adorno als auch Mann.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • In der blumigen Sprache Manns klingt es doch irgendwie "metaphysischer", gewichtiger, "aufgeblasener" :D

    Dennoch finde ich nach den ersten Sätzen auch den von Christian zitierten garnicht mehr so schwafelig.

    Wenn man denn überhaupt solchen philosophischen Betrachtungsweisen von Musik etwas abgewinnen kann....

    Der Versuch, in Musik so etwas wie philosophische Gehalte hören zu wollen, wird ja gern mal "schwafelig" gefunden, was bei der schwer fassbaren Thematik ja nicht wundert...

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • nein nein, das ist waschechter Adorno. Falls es bei Kaiser sowas gibt, ist das auch von Adorno ...

    Kaiser zitiert in seinem Buch "Beethovens Klaviersonaten und ihre Interpreten" just die Sätze aus Doktor Faustus, die ich oben in meinem Posting auch zitiert hatte. Er weist natürlich auch auf Adorno hin, rümpft dann aber resümierend die Nase: "Schöne Sätze, die aber auf die Appassionata genauso gut, wenn nicht besser passen als auf op. 106 und op, 111" (S. 609).

    Was die Betonungsdiskussion und Verwendung der Manschen Wortumschreibungen anbelangt, schwelgt er dann aber sichtlich (bezogen auf den Schluss der Sonate mit der cis-Variante), zitiert da auch wieder ausgiebig Doktor Faustus und findet keine falsche Betonung....

    Übrigens weiß Uhde anscheinend nichts von Adornos Einfluss beim Doktor Faustus, denn er schreibt in seinem Buch über die Klaviersonaten (erschienen Reclam-Verlag 1974) über das cis nur lapidar, das sei schon Thomas Mann aufgefallen

    Gruß, Stephan

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    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Ich fand diese kurzen Texte zum späten Beethoven und zur Missa Solemnis immer befremdlich und schwer nachvollziehbar. Da ich die nicht parat habe, gibt er konkrete Beispiele für Sätze, die diesen "stehengebliebenen" Konventionen entsprechen sollen?
    Fällt das vielleicht nur gegenüber außerordentlich unkonventionellen Sätzen auf? Aber das gibt es m.E. eh schon beides beim "mittleren" Beethoven, ebenso auch Sätze mit "ausuferndem" Passagenwerk und Trillern (zB Finale der Waldsteinsonate).

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • das ist waschechter Adorno

    Vielen Dank an leverkuehn für die Belegstellen, ich wusste bisher nur allgemein, dass das Kretzschmar-Kapitel auf Adorno zurückgeht.

    Also ist Adorno der Schwafler. Habs doch geahnt.

    :D

    In der blumigen Sprache Manns klingt es doch irgendwie "metaphysischer", gewichtiger, "aufgeblasener"

    Ich habe ja den Verdacht, dass Thomas Mann gar nicht am Inhalt sondern an der Sprache des Adorno-Aufsatzes interessiert war. Die "kahlen Konventionen" klingen ja auch schon wie alliterativer Wagner.

    Kaiser zitiert in seinem Buch "Beethovens Klaviersonaten und ihre Interpreten" just die Sätze aus Doktor Faustus, die ich oben in meinem Posting auch zitiert hatte. Er weist natürlich auch auf Adorno hin, rümpft dann aber resümierend die Nase: "Schöne Sätze, die aber auf die Appassionata genauso gut, wenn nicht besser passen als auf op. 106 und op, 111" (S. 609).

    Was die Betonungsdiskussion und Verwendung der Manschen Wortumschreibungen anbelangt, schwelgt er dann aber sichtlich (bezogen auf den Schluss der Sonate mit der cis-Variante), zitiert da auch wieder ausgiebig Doktor Faustus und findet keine falsche Betonung....

    Über diese falsche Betonung kann es allerdings schlechterdings keine zwei Meinungen geben, denn (anders als beim Auftakt) schreibt Beethoven hier sogar noch zusätzlich eine cresc.-Gabel zum cis und eine decrecs.-Gabel zum folgenden aufgelösten d. Das wäre im Grunde gar nicht nötig, weil es wie gesagt ein Vorhalt ist, der im Verhältnis zur Auflösung sowieso schwer ist, aber mit diesen Gabeln kann es schon gar keinen Zweifel geben. Jedenfalls nehme ich stark an, dass weder Adorno noch Thomas Mann betont haben "grü-ner Wiesengrund" ;+) .

    Christian

  • Ich fand diese kurzen Texte zum späten Beethoven und zur Missa Solemnis immer befremdlich und schwer nachvollziehbar. Da ich die nicht parat habe, gibt er konkrete Beispiele für Sätze, die diesen "stehengebliebenen" Konventionen entsprechen sollen?
    Fällt das vielleicht nur gegenüber außerordentlich unkonventionellen Sätzen auf? Aber das gibt es m.E. eh schon beides beim "mittleren" Beethoven, ebenso auch Sätze mit "ausuferndem" Passagenwerk und Trillern (zB Finale der Waldsteinsonate).


    Ich muss gestehen, dass ich im Gegensatz zur Mahler-Monographie, die mir gut lesbar und wirklich essentiell erscheint, ansonsten bei Adorno große Probleme habe. Ich habe zwar viel von ihm gedruckt bzw. digital auf CD-ROM, aber nie ernsthaft angegangen. Eben habe ich noch einen Text gefunden, der in dem Buch "Beethoven - Philosophie der Musik" (nicht in den GS enthalten) abgedruckt ist. Es handelt sich dabei um einen Rundfunkvortrag von 1966, der wohl schon wegen des Publikums in sprachlich besser verständlichen Regionen angesiedelt ist. Ich habe das jetzt etwas ruck-zuck diagonal gelesen und kann das nicht komplett resümieren. Aber vielleicht ein Beispiel in Bezug auf die "stehengebliebenen Konventionen":

    Er betont und bezieht das im Beispiel auf das a-Moll-Quartett, dass die große Form beim späten Beethoven da ist, aber anders behandelt wird, in dem Sinn, dass die Durchführung "unverbindlich" wird und nicht mehr das eigentlich Entscheidende, sondern

    "dass sie mit einer Art Unentschieden endet und dass die Leistung der Durchführung erst in der Coda vollbracht wird. Beethoven hat es mit der Form gehalten wie mit der tonalen Harmonik. Er hat zwar in den letzten Werken nicht die Reprise abgeschafft oder angetastet, aber durch die Formbehandlung ihr Negatives hervortreten lassen, und das spricht sich darin aus, dass der Teil nach der Reprise, die sogenannte Coda, die sonst nur ein bloßer Anhang war, entscheidenden Rang gewonnen hat." (zitiert nach Adorno, Beethoven, Suhrkamp-Verlag 1993, S. 273).

    So, jetzt muss ich mich aber erst einmal hier ausklinken, da ich den nächsten Tage auf Reisen und auch digitaler Tauchstation sein werde.

    Grüße, Stephan

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  • Die Coda ist aber schon im Kopfsatz der Eroica (und vermutlich schon in noch älteren Stücken) WEIT mehr als "bloßer Anhang". Das wird nun ganz OT, aber der Kopfsatz vom a-moll-Quartett ist u.a. deshalb ungewöhnlich, weil er "zwei Reprisen" hat, von denen die erste in der "falschen" Tonart (nämlich Dominante e-moll, soweit ich erinnere) steht).
    M.E. gründen (was ich Adorno eigentlich nicht unterstellen will) viele der Behauptungen über die mal durchbrochenen, mal "kahl stehengelassenen" Konventionen in einem Missverständnis der Sonatenform. Das Missverständnis entsteht, wenn man die tendenziell schematischen Sätze, die ab der Frühromantik dominieren als Maßstab nimmt (und dann zu einer schematischen Lehrbuchform kommt). Das Missverständnis würde nie entstehen, wenn man die 50 interessantesten Haydn-Kopfsätze nähme, weil man da nie so einen sturen Schematismus, sondern erstaunliche Flexibilität und Freiheiten (die aber fast immer in einem schlüssigen Rahmen allgemeiner Prinzipien eingebettet sind) finden würde.

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    (B. Pascal)

  • gibt er konkrete Beispiele für Sätze, die diesen "stehengebliebenen" Konventionen entsprechen sollen?
    Fällt das vielleicht nur gegenüber außerordentlich unkonventionellen Sätzen auf? Aber das gibt es m.E. eh schon beides beim "mittleren" Beethoven

    Die konkretesten Bezugnahmen im Spätstil-Aufsatz sind wohl die auf op. 110 und die letzte Bagatelle op. 126:

    Zitat

    das erste Thema der Sonate op. 110 zeigt [ab T. 5] eine unbefangen primitive Sechzehntelbegleitung, die der mittlere Stil kaum geduldet hätte; die letzte der Bagatellen bringt Einleitungs- und Schlußtakte wie das verstörete Vorspiel einer Opernarie

    Wobei zum Bagatellenbeispiel zu fragen wäre, wieso "stehengebliebene Konvention", wenn "verstört"?

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  • In Bezug auf den ersten Satz von op. 110 leuchtet mir ein, dass es da eine merkwürdige Rückkehr des Konventionellen gibt. So ist die kurze Durchführung derart simpel, dass ich mich schon frage, ob es eine Parodie sein soll. Aber als allgemeines Merkmal von Beethovens Spätwerk käme mir das nicht in den Sinn.

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

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