Dass Uhde ein derartiger Adorno-Anhänger ist, war mir nicht bekannt, zumal er ja in der Besprechung zu op. 111 zu dem besagten cis nur schreibt, das "überstarke Espressivo dieser Variante" sei schon Thomas Mann aufgefallen. Da hätte er eigentlich wissen müssen, dass das von Adorno kommt. Zumal ja Thomas Mann diese Dinge von sich aus in der "Entstehung" bekannt hat.
Im Vorwort zu "Denken und spielen" schreibt er:
ZitatDaß eine solche Symbiose von musikalischer Theorie und Praxis möglich ist, zeigt das Denken Theodor W. Adornos. Es vereinigt in sich die Erkenntnisse des Philologen, des Komponisten, des Musikwissenschaftlers und nicht zuletzt auch des Spielenden. Adorno erst stellte und erklärte die Fragen, die dieses Buch bewegen [...]. Es sind aber vor allem auch die radikalen philosophischen Thesen, die Adorno in seiner Ästhetik formulierte, bis in die Praxis hinein zu verfolgen: sie sind richtungsweisend für die Darstellung. Denn Adornos Philosophie drängt, wie kaum eine andere, zu einer veränderten Praxis.
Wie auch die Deutung Uhdes nun zu sehen ist, es gibt m.E. keine analytische Formulierungen Thomas Manns, sondern er fokussiert eben zuvorderst auf diese cis-Variante für seinen Roman, ließ sich womöglich von Adorno zeigen, wo sie herkommt, bzw. das erste Mal auftritt, und damit ergeben sich die Anknüpfungspunkte für die Textunterlegungen, was der Ausgangspunkt der Diskussion war. Und meines Erachtens besitzt dieses d-g-g Schlussmotiv aus dem ersten Teil des Themas schon eine formale Bedeutung, wie man an den Modulationen T. 120-129 vor der letzten Variation sehen kann und an den teilweise chromatischen Einfärbungen in den ersten beiden Variationen (T. 23 bzw. 39). Bei der Doppelvariation wird in der Wiederholung im Diskant bereits das erste d-g-g (von ursprünglich T. 1) auch schon mit cis umspielt. Am reinsten und hinsichtlich des Romans eben bedeutsamsten wird die Stelle eben dann erst in der direkten Gegenüberstellung von Takt 168 mit 170-71, Solche Modulationen und chromatische Eintrübungen kann ich jedoch an der "Urform" des Themas, also dem besagten Auftakt c-g-g vom Anfang nicht sehen (natürlich abgesehen von all den rhythmischen Veränderungen und Auflösungserscheinungen, die das ganze Thema erfassen).
Es stimmt, dass das Quint-Motiv ab Takt 120 eine bedeutende Rolle spielt. Aber schon ab Takt 127, und damit noch innerhalb der chromatischen Modulationen, tritt ihm das (umgekehrte) Quart-Motiv gleichberechtigt entgegen (und weist dabei aus der Ferne schon auf die Schlusstakte hin), und ab Takt 129 werden beide durch das Sext-Motiv (wieder umgekehrt) ersetzt. So wird der Beginn der fünften Variation vorbereitet. Ab Takt 146 steht für längere Zeit (bis Takt 153) die Terz-Variante ganz im Mittelpunkt. Verschiedene Varianten werden also im Laufe des Satzes besonders beleuchtet. Das Quart-Motiv ist dabei aber natürlich schon dadurch hervorgehoben, dass es den Satz einleitet und beendet (die letzten drei Takte beherrscht es fast vollständig). Und nirgendwo sonst tritt das Motiv in irgendeiner Variante so stark hervor wie die Quart-Variante am Beginn des langen Trillers in Takt 106 (auf den ganzen Satz gesehen ziemlich genau im "goldenen Schnitt"), in der Basslage, oktaviert und im Forte, in der Wirkung noch verstärkt durch die Dissonanz zum d-Triller. Auf dem Höhepunkt des formalen Auflösungsprozesses erscheint das Hauptmotiv des ganzen Satzes in beinahe pathetischer Größe und zwingt den musikalischen Verlauf wieder in Richtung der formalen Bahn, also der fünften Variation. Dieses Motiv ist Ausgangs- und Endpunkt aller Entwicklung, nicht seine melodische Spreizung in Takt 7. Wenn Du Recht hast, dass die Textunterlegungen sich ausschließlich auf das Motiv in Takt 7 beziehen (was ich wie gesagt so eindeutig nicht finden kann), dann haben Thomas Mann bzw. Adorno dieser gespreizten Variante von Takt 7 erst im Rückblick von Takt 170 eine exklusive Bedeutung verliehen, die sie im Satz einfach nicht hat. Sie haben sich - warum auch immer - ganz auf diese cis-Variante kapriziert (und deren Bedeutung dabei meines Erachtens überschätzt), um dann den Rest der Analyse (vor allem die Behauptung der Reduzierbarkeit des Themas auf das Quint-Motiv) dem angepasst. Der sprachlich unklare Bezug, was denn mit "diesem Motiv" eigentlich konkret gemeint ist, könnte auch darauf hindeuten, dass Thomas Mann sich des dünnen Eises, auf dem er sich analytisch da bewegte, durchaus bewusst war...
Und noch einmal zu den cresc/decresc-Gabeln: Definitiv erstrecken sie sich über insgesamt 4 Noten, so dass man das c schon etwas anheben kann und dann die Hauptbetonung auf das cis legt, bevor mit dem nachfolgenden d und g die Betonung wieder abnimmt. Damit ergibt sich ein realisierbarer dynamischer "Bogen" (auch wenn ich das so natürlich nur auf dem Papier, aber nicht auf der Tastatur schaffe )
Es stimmt, dass die Figuren sich über vier Noten erstrecken, aber die cresc.-Gabel reicht nur von der ersten zur zweiten Note. Und das bedeutet für die Ausführung, dass man eben nur die Möglichkeit hat, die zweite gegenüber der ersten - in welchem Maße auch immer - verstärkt zu spielen. Eben das bedeutet aber "sf" auch. Wie gesagt besteht musikalisch durchaus ein Unterschied zwischen einer solchen Gabel und einem sf, aber der ist zu einem guten Teil eher mit dem Gesichtsausdruck als mit den Fingern darstellbar ;+) .
In Klavierstücken von Schönberg gibt es Einzeltöne mit cresc-decresc-Gabel dazu, dann aber auch solche mit sf und Akzente gibt's auch noch.
Wie man das als Pianist auflösen soll, weiß ich zwar nicht, er wird sich aber schon etwas gedacht haben dabei.
Das gibt es auch schon bei Brahms. Die britische Pianistin Fanny Davis hat einmal beschrieben, wie Brahms das ausgeführt hat:
Zitat„Das Zeichen <>, so wie Brahms es verwendete, erscheint häufig, wenn er großen Ernst und Wärme ausdrücken möchte, eng verbunden nicht nur mit dem Klang, sondern auch mit dem Rhythmus. Er verweilte dabei nicht nur auf einer Note, sondern auf einem ganzen Gedanken, als ob es ihm unmöglich sei, sich von dessen Schönheit zu trennen.“
Noch einmal zu den Gabeln bei op. 111: Man hat natürlich die Möglichkeit, mit den kürzeren Noten in den anderen Stimmen, also vor allem dem gleichzeitigen Triller in der Oberstimme zu crescendieren. Wichtiger ist aber eine leichte Dehnung der hervorgehobenen Note.
Christian