Nielsen, Carl: Die Kammermusik für Streicher

  • Nielsen, Carl: Die Kammermusik für Streicher

    Als Ergänzung zum Thread Nielsen: Kammermusik mit Bläsern und zum neuen Thread zur Sinfonie Nr. 1 g-moll op. 7 hier nun ein Thread zu Carl Nielsens Kammermusik für Streicher.

    Zunächst zu den Streichquartetten:

    Von Carl Nielsen (1865 – 1931) gibt es vier Streichquartette mit Opuszahl. Darüber hinaus gibt es ein Jugendwerk (komponiert 1881) sowie ein Quartett in F-Dur (komponiert 1887/88). Von Letzterem sind allerdings nur die beiden Ecksätze erhalten. Von weiteren einzeln erhaltenen Quartettsätzen jener Zeit kämen zwar einige als Kandidaten für die Mittelsätze in Frage, aber Überlegungen in diese Richtung bleiben Spekulation. Alle diese Werke ohne Opuszahl wurden nicht gedruckt und werden hier nicht weiter betrachtet.

    Das Streichquartett in g-moll op. 13 entstand in den Jahren 1887/88. Es wurde in 1897/98 geringfügig überarbeitet und erhielt erst dann seine Opus-Nummer 13.

    Somit ist das Streichquartett op. 5 in f-moll, das im Jahr 1890 komponiert wurde, bereits das zweite - wenn man die ungedruckten Werke berücksichtigt, sogar das vierte.

    In zeitlicher Nachbarschaft zur Überarbeitung von op. 13 wurde auch das Streichquartett Es-Dur op. 14 im Jahre 1898 geschaffen.

    Im Jahre 1906 entstand die Urfassung des Streichquartetts in F-Dur op. 44. 1919 wurde dieses Werk revidiert, verlegt und mit seiner Opuszahl versehen.

    Übersicht:

    - 1881 Jugendwerk

    - 1887/88 Quartett F-Dur (UA 1888)
    - 1887/88 Erstfassung Quartett g-moll (UA 1889)
    - 1890 Quartett f-moll op. 5 (UA 1892 als op. 6)

    - 1897/98 Überarbeitung Quartett g-moll op. 13 (UA 1898)
    - 1897/98 Quartett Es-Dur op. 14 (UA 1899)

    - 1906 Erstfassung Quartett F-Dur (UA 1907 als op. 19)

    - 1919 Revision des Quartetts F-Dur (UA 1919 als op. 44)

    Zur zeitlichen Einordnung ein Vergleich mit den Sinfonien Nielsens:
    Nr. 1 1890-92 (g-moll op. 7)
    Nr. 2 1901-02 (op. 16, „Die vier Temperamente“)
    Nr. 3 1910-11 (op. 27, „Expansiva“)
    Nr. 4 1914-16 (op. 29, „Das Unauslöschliche“)
    Nr. 5 1921-22 (op. 50)
    Nr. 6 1924-25 („Sinfonia semplice“)

    Es gibt einige Gesamteinspielungen von Ensembles skandinavischer Provenienz. Vom nach dem Komponisten benannten Carl Nielsen Quartett scheint noch keine Einspielung vorzuliegen – kann ja noch kommen. Die sehr prominenten Streichquartettensembles scheinen eher einen Bogen um diese Werke zu machen. Im Konzertsaal sind sie zumindest in Deutschland auch nicht allzu häufig zu hören, am ehesten vielleicht noch op. 44 (Ergebnis einer kurzen Web-Recherche).

    In den folgenden Beiträgen sollen die Streichquartette Nielsens kurz besprochen werden. Die dabei aufgeschriebenen Zeitangaben beziehen sich auf die Einspielungen mit dem Kontra-Quartett bei BIS und mit dem Oslo String Quartet bei Naxos, und zwar in dieser Reihenfolge.

    Die 2CD-Box des Kontra-Quartetts enthält neben den vier Quartetten auch das weiter unten genannte Streichquintett in G-Dur aus dem Jahre 1888 sowie das ebenfalls unten genannte Andante Lamentoso für Streichquartett mit Kontrabass mit dem Namen „An der Bahre eines jungen Künstlers“. – Die beiden Naxos-CDs enthalten lediglich die vier Quartette.

    Weitere Kammermusik für Streicher:

    - Streichquintett G-Dur (1888)
    - Andante lamentoso "Ved en ung kunstners baare" (An der Bahre eines jungen Künstlers) für Streichquartett und Kontrabass (1910)
    - Präludium und Thema mit Variationen für Violine solo op.48 (1923)
    - Preludio e presto für Violine solo op.52 (1927–28)

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Streichquartett g-moll op. 13 (1887/88, überarbeitet 1897/98)

    Das Streichquartett in g-moll hat die folgenden Sätze:

    - Allegro energico
    - Andante amoroso
    - Scherzo: Allegro molto
    - Finale: Allegro inquieto

    Schon die ungewöhnlichen Satzbezeichnungen „energico“, „inquieto“ lassen vermuten, dass es hier um aufgewühlte Musik geht. So ist es auch.

    Der erste Satz beginnt sogleich mit dem ersten Thema über einer seltsamen ganztonweise aufsteigenden und halbtonweise absteigenden Bassfigur. Rhythmisch gezackt, mit auftaktigen Bildungen und Komplementärrhythmen kommt es erregt daher. Bei 0:41/0:37 hebt eine Sechzehntelbewegung an, die die Erregung weiter steigert und große Teile des Satzes dominiert. Diese Bewegung begleitet auch das zweite Thema, welches bei 0:56/0:53 im Cello zu hören ist. – Die Schlussgruppe beginnt etwa bei 1:54/1:47. Dann wird es ruhiger: mit begleitenden Pizzicati geht die Exposition zu Ende, das Cello geht arco in die unterste Oktave – das wird uns im f-moll-Quartett op.5 an genau dieser Stelle der Architektur so wieder begegnen. Wiederholung der Exposition.

    Die Durchführung beginnt bei 4:52/4:45, die stark variierte Reprise bei 7:02/6:45 – nach der Rekapitulation des ersten Themas folgt sogleich ein Einschub, traumverloren, in hoher Lage, mit Pizzicati begleitet. Das zweite Thema dann ab 8:26/8:00 in einer der Mittelstimmen, nicht mehr von der Sechzehntelbewegung, sondern von Pizzicati begleitet. Gegen Ende des Satzes nimmt die Erregung nach und nach ab.

    Die beiden Mittelsätze sind jeweils in der Form A - B - A‘ gehalten.

    Der zweite Satz, Es-Dur, ¾-Takt (?), ein „Andante amoroso“, das eher „Adagio“ zu nennen wäre, bildet zunächst den denkbar größten Gegensatz zum Kopfsatz. Der A-Teil ist seinerseits wieder dreiteilig in der Form a – b – a‘. Je zwei viertaktige Perioden bilden dabei einen Abschnitt. Abschnitt a bei 0:00/0:00, Abschnitt b bei 0:39/0:37, Abschnitt a‘ bei 1:10/1:13.

    Danach beginnt eine Beschleunigung hin zum bewegteren Mittelteil, der in seiner Erregung wieder an den Kopfsatz erinnert (ab 1:45/1:56).

    Der variierte Teil A‘ beginnt dann bei 3:29/3:30. Variiert ist nicht nur die Begleitung des Themas, sondern auch der Periodenbau: Die zweite Periode im Abschnitt a wird über die Viertaktigkeit hinaus auf acht Takte verlängert, genauso der Abschnitt a‘. – Zwölf Takte Coda.

    Der dritte Satz, das Scherzo, nimmt wiederum den erregten Tonfall des Kopfsatzes auf. Trio ab 1:34/1:45 mit Dudelsackanklängen. Reprise des Scherzos ab 3:36/3:46. – Der Harenberg-Kammermusikführer nennt die letzten Noten eine „Allusion zur Einleitung von Dvoraks Cellokonzert“. Na ja …

    Die Form des vierten Satzes wäre vielleicht am ehesten als Sonatenhauptsatzform mit verkürzter Reprise zu bezeichnen. Erstes Thema ab 0:00/0:00, mehr als nur ungarisch angehaucht, zunächst von Pizzicati begleitet. Das zweite Thema kommt zweistimmig mit Andeutung von Hornquinten daher (ab 1:09/1:02) und erfährt bei seiner variierten Wiederholung (ab 1:43/1:34) große klangliche Entfaltung (besonders beim Oslo String Quartet). Keine Wiederholung der Exposition, die Durchführung beginnt bei 2:24/2:16 im Unisono mit großen Sprüngen.

    Die Reprise beginnt bei 3:58/3:42. Darin gibt es nach dem ersten Thema ein neues, in der Exposition nicht dagewesenes retardierendes Moment ab etwa 4:22/4:02, die Musik beruhigt sich (vor allem beim Oslo String Quartet), um ab 4:37/4:18 in so etwas wie eine „Coda alla Stretta“ überzugehen, in der auch das zweite Thema (kurz) zu seinem Recht kommt (ab 5:03/4:40). Schließlich darf das erste Thema des Kopfsatzes noch so etwas wie Dur-Apotheose erfahren (ab 5:28/5:02). Lieto fine im schönsten G-Dur.

    Eine herrlich stürmisch-bewegte Musik, geistreich, sicher im Formalen. Der Hörer wird nicht so gefordert, wie dies bei einem mittleren oder späten Beethoven, bei spätem Schubert oder bei Brahms der Fall wäre. Dennoch ist dieses Quartett sehr hörenswert – aber leider nur selten zu hören. Es gibt vieles zu entdecken – etwa das erste Thema des Andante, ein herrlicher Einfall! - Ich könnte mir das Werk einerseits in der zweiten Hälfte eines Serenaden-Konzertes vorstellen, in der ersten Hälfte könnten etwa Haydn und Brittens „Simple Symphony“ in der Streichquartett-Fassung auf dem Programm stehen. Oder halt in einem „normalen“ Programm anstelle des üblichen Haydn- oder Mozart-Quartetts, das man gerne an den Anfang setzt. Dann könnte ein modernes Werk folgen, um in der zweiten Hälfte das Hauptwerk des Abends (aus dem 19. Jhd.) zu bieten.

    Das Kontra-Quartett spielt mit höherer Differenzierung und (für mein nicht-Streicher-Verständnis) höherer Spielkultur. Es wird auch durch die überlegene BIS-Klangtechnik unterstützt.

    Ich ziehe zumindest im Kopfsatz, im Andante und im Finale dennoch die Interpretation des Oslo String Quartets vor. Denn das Kontra-Quartett bringt den drängenden Charakter des ersten Satzes und die formale Idee des Finales nicht so auf den Punkt wie die Herren aus Oslo. Die „energico“-Anweisung wird eigentlich ignoriert, es klingt manchmal recht behäbig, dito die „inquieto“-Anweisung des Finales. Das retardierende Moment und der Stretta-Effekt kommen nur beim Oslo String Quartet zur Geltung – bei diesen birst diese Musik geradezu vor Energie. Auch im zweiten Satz spielt dieses Ensemble im bewegten Mittelteil einfach zupackender, was der Musik m. E. besser bekommt. Im Scherzo hat eventuell das Kontra Quartet durch etwas mehr Biss die Nase leicht vorne. Dennoch gilt meine Empfehlung der Aufnahme aus Oslo, die zudem preisgünstiger ist.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Streichquartett f-moll op. 5 (1890)

    Das Streichquartett in f-moll op. 5 hat die folgenden Sätze:

    - Allegro non troppo ma energico
    - Un poco adagio
    - Allegretto scherzando
    - Allegro appassionato

    Wieder fallen die leidenschaftlich verstärkenden Spielvorschriften „energico“ und „appassionato“ auf, die besondere Emotionen vorausahnen lassen.

    [Zeitangaben in der Reihenfolge Kontra Quartet/Oslo String Quartet]

    Der erste Satz beginnt mit wenigen Tönen in den Begleitstimmen, bewegt, erregt. Sogleich setzt das erste Thema ein, heftig, ungestüm, mit charakteristischem punktiertem Rhythmus. Stellen wie 0:23/0:26 mit ihren chromatischen Gängen in Oktaven (Mittelstimmen) zeigen an, dass der Komponist hier nach Höherem strebt als in dem früher entstandenem op. 13. Ab 0:36/0:39 sind zahlreiche Imitationen zu hören, bei 1:00/1:02 ist die Überleitung zum zarten zweiten Thema anzusetzen, welches bei 1:27/1:28 im Cello in hoher Lage beginnt und von der ersten Violine fortgesetzt wird. Die Bewegung wird nach und nach wieder belebter, wieder gibt es Imitationen über ein geradezu hymnisches Motiv, das mit einem Oktavsprung beginnt (1. Violine/Cello, ab 2:23/2:23). Wie im Kopfsatz des Quartetts op. 13 geht das Cello gegen Ende der Exposition in die unterste Oktave, die Bewegung der anderen Instrumente lässt nach, bis sie ganz verschwindet. – Wenige Takte Überleitung (3:31/3:30), dann Wiederholung der Exposition.

    Die Verbindung zur Durchführung ist höchst raffiniert, man merkt erst, dass man in der Durchführung ist, wenn man schon mitten drin ist (ab ca. 7:05/6:55 geht’s los). Interessanterweise wird überwiegend Material aus dem zweiten Thema verwendet. Ab 8:21/8:08 ein neuer Gedanke, der ab 8:45/8:30 vom Cello sekundiert wird, und zwar mit dem hymnischen Oktavsprung-Motiv, dass bei 2:23/2:23 in der Exposition in Imitation erschien. Erst kurz vor der Reprise (9:23/9:08) deutet sich das erste Thema an, um diese dann bei 9:47/9:31 auch zu eröffnen.

    Wie im Quartett op. 13 ist die Reprise stark variiert, und die Veränderungen sind hier wie da nicht nur der veränderten Tonart des zweiten Themas (ab 10:31/10:14) geschuldet. Bei 11:43/11:27 dann so etwas wie eine Antiklimax als Beginn der Coda, starke Beruhigung, geradezu elegische Klänge. Noch einmal wird ab ca. 12:20/12:02 Tempo und Bewegung des Anfangs aufgenommen, dann kommt der Satz recht schnell zu seinem Ende.

    Die beiden Mittelsätze sind jeweils in der Form A - B - A‘ gehalten.

    Der zweite Satz, C-Dur, 4/4-Takt (?), „Un poco adagio“ überschrieben, exponiert den Anfang seines ersten fast pentatonischen Themas im Unisono, bevor der Anfang im vierstimmigen Satz wiederholt wird. Die Harmonik klingt manchmal eher modal.

    Ab 1:53/1:54 beginnt der B-Teil mit einem Thema, das ebenfalls terzenlastig ist. Stellenweise klingt die Musik wie ein Lamento (2:10ff/2:11ff).

    Bei 3:43/3:53 beginnt dann die variierte Reprise des A-Teils mit dem Thema im Cello unter zarten Akkordbrechungen der höheren Streicher. – Ab 5:21/5:25 dann die Coda über einem Orgelpunkt im Cello, bei 6:06/6:15 eine letzte Reminiszenz an das erste Thema im Cello, bevor der Satz mit zarten Akkorden in hoher Lage über dem tiefen C des Cellos endet.

    Der dritte Satz, Allegretto scherzando, 2/4-Takt, steht vielleicht wirklich einem Intermezzo (Harenberg Kammermusikführer) näher als einem Scherzo. – Das Trio, ab 1:57/2:04, arbeitet wie im Quartett op. 13 mit Bordunklängen, wartet aber auch mit erregten Abschnitten auf (2:49ff/2:58ff). – Reprise des A-Teils ab 3:22/3:33.

    Der vierte Satz steht nun wieder in Sonatenhauptsatzform. Auch hier hebt das erste Thema gleich zu Beginn an, auch hier gibt es mehr als nur ungarische Anklänge, etwa die Stelle bei 0:21/0:18. Interessant ist die Überleitung zum zweiten Thema, die in tiefer Lage mit Figurationen über einem Orgelpunkt des Cellos beginnt (0:46/0:41) – ist das thematisch oder nur Begleitfloskel? Ein Mittelding – hochmodern! Das zweite Thema beginnt dann bei 1:09/1:01 und steht interessanterweise in F-Dur und erfährt beim zweiten Auftreten eine klanglich opulente Behandlung (1:46/1:35) – völlig analog zum Quartett op. 13. – Wiederholung der Exposition (ab 2:25/2:12), am Ende mit deutlich veränderter „zweiter Klammer“ beim Übergang in die Durchführung (etwa ab 4:42/4:15), wieder wird deren Eintritt – wie im Kopfsatz – eher verschleiert.

    Ab 6:22/5:44 dann die stark veränderte Reprise – man höre alleine das zweite Thema, das sich wie ein Schatten seiner selbst anhört (ab 6:59/6:21, unscheinbar). Ab 8:14/7:30 die Coda, die mit einer Variation des ersten Themas beginnt. Schluss in dramatischem f-moll.

    Formal gibt es viele Ähnlichkeiten mit dem Quartett g-moll op. 13, doch die Tonsprache ist eindeutig fortschrittlicher. Als Nielsen den dritten Satz vollendet hatte, schrieb er in sein Tagebuch: “Hier habe ich meinen eigenen Ton gefunden. Durch dieses Quartett wurde es mir klar, woraus dieser besteht.“

    Für dieses Werk würde ich eher das Kontra-Quartet empfehlen wegen seiner höheren Spielkultur und der besseren Klangtechnik. Lediglich im letzten Satz kann das Oslo String Quartet durch noch mehr Schwung punkten. Aber beide Interpretationen sind sehr gut – darum eine herzliche Empfehlung für die preiswerte Naxos-CD!

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Streichquartett Es-Dur op. 14 (1897/98)

    Das Streichquartett in Es-Dur op. 14 ist Edvard Grieg gewidmet und hat die folgenden Sätze:

    - Allegro con brio
    - Andante sostenuto
    - Allegretto pastorale – Presto – Allegretto pastorale
    - Allegro coraggioso

    Das Beiheft der BIS-Einspielung erzählt eine Anekdote zu diesem Werk: „Das Es-Dur–Quartett […] sollte bei Wilhelm Hansen erscheinen. Nielsen zog auf dem Fahrrad los, das Manuskript unter dem Arm. Auf dem Weg durch Kopenhagen begegnete er einem Wagen, dessen Pferd umgefallen war. Von der Kindheit auf dem Lande bestens mit Pferden vertraut, sprang er vom Fahrrad herunter, um Hilfe zu leisten, und er bat einen Jungen, mittlerweile das Manuskript zu halten. Als das Pferd wieder auf den Beinen war, was dafür der Junge verschwunden, und Nielsen musste das gesamte Quartett rekonstruieren.“

    War schon das Quartett in f-moll deutlich fortschrittlicher als das g-moll Quartett, so ist hier ein weiterer Entwicklungsschritt zu hören. Zum einen ist die kontrapunktische Komplexität noch einmal erhöht, zum anderen geht die Tonalität des Werkes oft in Richtung einer Modalität. Es gibt immer wieder kleine Abschnitte, in denen gar nicht klar ist, ob das Tongeschlecht gerade Dur oder Moll ist. Auch skalenfremde Töne werden wie selbstverständlich integriert. Gleich im ersten Thema des ersten Satzes ist eine kleine Septime (des) eingeschmuggelt, die überhaupt nicht daran denkt, in Richtung c und damit funktionsharmonisch-subdominantisch aufgelöst zu werden.

    [Zeitangaben in der Reihenfolge Kontra Quartet/Oslo String Quartet]

    Der erste Satz steht in Sonatenhauptsatzform, es geht gleich mit dem ersten Thema los (0:00/0:00), optimistisch, fast jubelnd, jedenfalls freudig, wie man es von manchen Es-Dur –Werken kennt (wie etwa von Robert Schumanns Sinfonie Nr. 3 oder auch von dessen Klavierquintett). Eine erste Eintrübung ist bei 0:23/0:21 hörbar, es wird ernster, komplexe polyphone Arbeit hebt an, bis die Bewegung wieder ruhiger wird und bei 1:00/0:59 das zweite Thema in B-Dur in der Bratsche (oder im Cello?) erscheint. Ab 1:50/1:49 führt die erste Violine mit Motiven des zweiten Themas eine Steigerung an, die bei 2:02/2:01 in einen letzten Einsatz des zweiten Themas im Cello führt. Die Schlussgruppe beginnt bei 2:30/2:27, auch hier gibt es die fast obligatorischen Pizzicati am Ende der Exposition.

    Bei 3:07/3:01 will Nielsen uns glauben machen, die Exposition würde wiederholt – erst später merken wir, dass dem nicht so ist (den Trick hat allerdings zumindest Brahms im Kopfsatz seiner 4. Sinfonie schon benutzt … ). Wir sind also bereits in der Durchführung. Eine recht verwickelte kontrapunktische Arbeit ist zu hören. - Ab 4:04/3:58 dann ein lyrischer Abschnitt mit weniger Verflechtungen – das braucht das Stück jetzt auch. Dennoch werden natürlich weiter die Themen und Motive der Exposition verarbeitet. – Klanglich sehr originell – so habe ich Streichquartettklänge noch nicht gehört – finde ich die Pizzicati ab 5:24/5:11.

    Bei 5:40/5:26 folgt dann die Reprise mit dem ersten Thema. Das zweite ist ab 6:47/6:33 gegen die Regel in der Subdominante As-Dur zu hören, erst bei der gesteigerten Wiederholung (7:48/7:30) erfolgt der Einsatz in der Tonika Es-Dur. – Ab 8:16/8:03 dann die Coda. Am Ende wird noch einmal das erste Thema zitiert und variiert und der Satz mit sehr befriedigender Symmetrie zum quicklebendigen Ende gebracht.

    Der zweite Satz ist dreiteilig: Erst ein langsamer, klagender Gesang, dann ein belebter zweiter Teil, dann wieder ein ruhiger Abschnitt.

    Los geht es mit einer Einleitung, die Lamento-Charakter hat (0:00/0:00). Dann übernimmt bei 0:46/0:43 die erste Violine die Führung mit einem ruhigen und kantablen Thema. Die Musik ist durch klagende Eintrübungen und interessante Harmoniewechsel gekennzeichnet, manchmal ist unklar, ob wir gerade in Dur oder Moll sind.

    Bei 3:46/3:47 beginnt der zweite, belebtere Abschnitt mit einem punktierten Motiv. Nach und nach wird es turbulenter, bis bei 4:59/5:12 die Depression des Anfangs endgültig überwunden scheint – aber nur kurz, gleich darauf dunkelt die Musik wieder ab.

    Bei 5:16/5:31 ist dann der dritte Teil erreicht. Dieser ist fast so ruhig wie der erste, aber weniger klagend als eher verklärt. Doch die Musik wird nach und nach noch ruhiger und schließt in völliger Ruhe. Eine wunderbare Musik.

    Auch der dritte Satz ist dreiteilig und folgt grob dem Schema Scherzo – Trio – Scherzo, wobei der mittlere Teil kein genuinen „Trio“-Charakter hat.

    Das Thema des „Allegretto pastorale“ wird von Pizzicati begleitet (0:00/0:00). Die Stimmung ist keineswegs nur bukolisch, es gibt auch Nachdenkliches. – Der Mittelteil (Presto) beginnt bei 1:35/1:35), furios, zupackend, dramatisch. Eine Abkühlung erfährt die Musik bei 2:09/2:07, dann hebt bei 2:54/2:48 wieder die vorherige Intensität an. In diesem Mittelteil ist auch wieder reiche kontrapunktische Arbeit zu hören. – Die Reprise des ersten Teils folgt bei 3:21/3:12.

    Das Finale steht in Sonatenhauptsatzform. Das erste Thema (0:00/0:00) ist fröhlich und ausgelassen, sein anfangs chromatisch absteigender, dann quarten-/quintenweise springender Bass und die Dreiklangsmelodik verleihen ihm fast den Charakter einer Musicalmelodie. Bei 0:35/0:31 die Überleitung zum 2. Thema, welches dann zart und mit punktierten Rhythmen bei 1:16/1:09 beginnt. Wie üblich steigert sich die Musik nach und nach. Die Schlussgruppe nimmt wieder Intensität weg (ab 2:17/2:07).

    Die Pizzicati markieren hier nicht den Schluss der Exposition, sondern den Beginn der Durchführung (2:31/2:21) – keine Wiederholung der Exposition. Noch eine ganze Zeit lang bestimmen Pizzicati den Klang. Bei 3:07/2:55 wird die ausgelassene Stimmung des Anfangs wieder aufgenommen, es folgt ein lyrischer Abschnitt (3:39/3:26), an dessen Ende (ab 4:22/4:04) das erste Thema imitatorisch im piano behandelt wird, bis bei 4:49/4:25 die Reprise erreicht ist.

    Bei 5:33/5:07 erscheint das zweite Thema wieder. – Ab 6:51/6:19 beginnt unerwartet ein Schluss-Fugato, dass das Werk zum ausgelassenen Schluss bringt.

    Hier gibt es originelle, handwerklich einwandfreie, herrliche Musik zu entdecken!

    Zu den Interpretationen ist Ähnliches zu sagen wie bei den Quartetten op. 5 und op. 13: Das Kontra-Quartet empfiehlt sich wegen seiner höheren Spielkultur und der besseren Klangtechnik, das Oslo String Quartet durch mehr musikantischen Schwung. Wiederum finde ich beide Interpretationen sehr gut – darum auch hier eine herzliche Empfehlung für die preiswerte Naxos-CD!

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Hab mir gerade das f-Moll Quartett angehört. Der erste Satz hat mir besonders gefallen und hat mich stark an Hindemiths Op. 10 erinnert - beide Werke stehen in f-Moll und sind in relativ jungem Alter komponiert. Man spürt die jugendliche Freude am üppigen Klang und Impetus. Die lebhaften, virtuosen Mittelstimmen (Bratsche!) sind für beide ersten Sätze charakteristisch.

    Weniger überzeugt haben mich die folgenden Sätze. Nach den beiden etwas zahmen Mittelsätzen habe ich die von dir erwähnten großen Emotionen auf Grund der Satzbezeichnung im Finale erwartet. Nach dem stürmischen Beginn kann der Satz aber im weiteren Verlauf dieses "Versprechen" m. E. nicht einlösen, auch wenn der Wille ersichtlich ist: so z. B., wenn er den sich häufig bewährten Kniff anwendet, zum Schluss in ein Dreiermetrum zu wechseln und das Tempo anzuziehen.
    Ich bin gespannt auf die späteren Quartette.

  • Zunächst mein Dank an Mauerblümchen für diese exzellenten Analysen der Streichquartette!

    Kürzlich habe ich mir die folgende Box gegönnt - das Gegenstück für Orchester von dacapo kenne ich schon länger. Die Einzel-CDs dieser Wiederveröffentlichungen sind wohl auch alle noch erhältlich; das habe ich aber nicht genau gesichtet.

    Die Kammermusik mit Bläsern ist hier bemerkenswert vollständig vertreten - es soll weitaus unvollständigere sogenannte "Complete Works"-Sammlungen geben, während dies hier ja gar nicht beansprucht wird. Ich kann eigentlich nur noch jeweils ein sehr kurzes Stück für zwei Blockflöten und eines für Flöte solo (aus einem Orchesterwerk) an anderem Ort entdecken. Ähnliches scheint für die Klaviermusik zu gelten.

    Bei den Streichquartetten finden sich allerdings nur die Hauptwerke mit Opuszahlen. Ich besitze schon länger die oben diskutierten Einspielungen mit dem Osloer Streichquartett. Die SACDs mit dem Dänischen Streichquartett halte ich im Zugriff für leicht überlegen, in klanglicher Hinsicht ist dies deutlicher festzustellen.

    Empfehlung für alle Nielsen-Fans und solche, die es werden wollen! Nicht nur seine Orchestermusik ist interessant!

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

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