Was ist, was soll, was darf Opernregie? Und was nicht?

  • falls das ernst gemeint sein sollte - das mit dem "Käse" - so möchte ich doch energisch widersprechen. Sicher, da ist etwas veraltetes Pathos mit dabei, ansonsten eine adäquate Beschreibung des Verhältnisses von Werk und "Interpret", wie es sein sollte.


    Einspruch. Ich halte das "Gediene" wirklich für Quark. :D Aber das führt hier wahrscheinlich zu weit (noch zumal ich gerade nicht allzu viel Zeit habe).

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich halte das "Gediene" wirklich für Quark. :D

    Ich nicht: weder für Quark noch für Käse! Allerdings etwas differenziert: Wenn Künstler sich als "Diener am Werk" ansehen, ist das für mich völlig in Ordnung; das ist eine respektable Einstellung. Aber keineswegs etwas, das ich als Hörer/Zuschauer von Aufführungen/Einspielungen erwarten würde, weder von Dirigenten noch von Instrumentalisten, Sänger, Regisseure und wer da sonst noch alles "interpretierend" mitwirkt.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • stellen diese finsteren, düsteren Züge im Parsifal - ganz großartig, einen fast unwiderstehlichen Sog ausübend zweifellos - wirklich einen "Kontrast" zu solch widrigen Aspekten dar? Wären sie nicht vielmehr deren Affirmation? Da wäre ich mir gar nicht sicher. Mir sind sie verdächtig.

    Okay, okay, okay. Aber beim Parsifal kämen Affirmator nicht so voll krass rüber, weil Erlösungsschmarrn darin sowieso – mir jedenfalls – bereits mega-anachronistisch rüberkommt; Erlösungschose wird damit eigentlich so richtig süß und niedlich :D . (insofern hätte der Parsifal Prozesscharakter)...
    Ich vermute mal, du argumentierst damit, dass finstere Schlagseiten im Parsifal als Kontrast dienstbar, damit Erlösungskitscherei um so strahlender, erhebender rüberkommt.
    Dem stimmt mein Brägen zu. :jaja1:
    Am Ende vom 3. Akt wäre es As-Dur. Die dunkle Verwandlungsmucke (3. Akt) hat Tendenz zu b-Moll. Bin mir aber nicht 100 % sicher ?( . Tonarten müssten da mal genauer nachgecheckt werden.
    Mein Brägen würde vielleicht dazu zocken, dass das diese Chose eben nicht kompletto funzt. Denn finstere, düstere Züge von Parsifal-Mucke gewinnen derart Oberwasser, dass sie den Erlösung-dem-Erlöser-Schluss ziemlich geplättet rüberkommen lassen, im Extremfall brutalst demontieren, etwa wie am letzten Samstag Eintracht Frankfurt die Lederhosen. ...
    ...sowas würde Affirmator doch ziemlich die Fresse polieren. :hammer1:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Da checkt bisher mein Brägen nicht, was du damit meinst. :( ?(


    z.B. in der Szene in Boris Godunow, wo Pimen an seiner Chronik schreibt, da ist die Musik aufs genaueste auf die Szene (enge, dunkle Mönchszelle, Pimen schreibt mit der Feder, das alles vor Jahrhunderten) abgestimmt. Bildet die Regie nun dazu einen "Kontrast" (z.B. Pimen sitzt auf den Stufen eines Platzes in der Stadt und schreibt auf einem Laptop), so ist die Feinabstimmung von Szene und Musik hinüber, die Musik kann höchstens noch eine Art Stimmungslieferant sein, und auch das nicht sehr überzeugend. Mein etwas pauschaler Verdacht gegenüber RT-orientierten Darstellungen ist es, daß RT notwendigerweise solche Feinabstimmungen destruiert.


    Zitat

    Ob draus zwangsläufig Konsequenz (falls du das so meinst) von konzertant bzw. halbszenisch zu ziehen wäre, ist mein Brägen sich nicht sicher.


    na ja, die konzertante/halbszenische Aufführung ist halt mein Steckenpferd bei diesem Thema ... ich bin auch schon ganz froh, überhaupt sowas wie eine Argumentation vorbringen zu können ...

    Zitat

    Dockst du damit an Wagners (von Cosima ? überlieferten) Forderung nach unsichtbaren Theater an; ohne Schminke und so ?( Heinz-Klaus Metzger kam diese Idee Wagners mega-cool rüber.


    eine derartige Unterstützung durch einen der bedeutensten Theatermenschen nimmt man natürlich gern zur Kenntnis...

    Zitat

    Reduktion des Parsifals auf konzertanter und/oder halbszenischer Aufführung wäre eine (nicht einzige) Möglichkeit. Konzertant ist ja nicht unüblich, auch Christoph Eschenbach hatte mal den 3. Akt konzertant gequält. In einem Radio-Talk bezeichnete er die Mucke als Sinfonie für Orchester und begleitende Stimmen (okay, okay, okay etwas Chor ist im 3. Akt och noch dabei).


    Eschenbachs Auffassung wär mir etwas dünne, da wär das Theater quasi völlig eliminiert, das schwebt mir nicht vor. Das Theater sollte schon dabei sein, in welch abgespeckter Form auch immer, und wenns der Nachvollzug von Text und Handlung im Kopf des Zuhörers vorm CD-Player wäre.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Das Setting bzw. die Situation vom Rheingoldbeginn ist keine kuschlige Datsche aus quasi bloß 1. Natur. Denn zunächst wird die fiese Felsumgebung nicht als nette Blumenwiese, wie vor Walhall beschrieben. Und dann werden Woglinde und Wellgunde von Flosshilde zusammengefaltet, ob ihrer sorglos-zweckfreien Polonaisen-Attitüde. Wotan chillt dagegen zu Beginn der 2. Szene. Bei zickenkriegs-affiner Fricka sind die Rheintöchter sowieso nie besonders wohlgelitten.
    Somit könnte Stauwehr, vielleicht als Metapher für bereits herrschende 2. Natur oder so hinhalten. Okay, kommt durchaus „willkürlich“ rüber. Aber „kunstwidrig“ find ich ungerecht. Was andererseits ja nicht bedeutet, dass da unbedingt Stauwehr sein muss und jeder Besucher das noch supi zu finden hat.

    na endlich, habe lange gewartet, daß jemand mal wieder auf Rheingold Anfang einsteigt. Bisherige Diskussionen scheinen mir nämlich noch eine gewisse Unpräzision aufgewiesen zu haben.

    fiese Felsumgebung

    "fies" ist die doch nur für Fremdling Alberich, die Rheinmaiden fühlen sich pudelwohl.

    man kriegt "Natur 1" vorgeführt, allerdings ist ein Bewußtsein von Gefährdung da, sogar mit Gefährder-Profil. Das könnte man ja schon als einen gewissen Bruch verbuchen.

    wenn Stauwehr Metapher für bereits herrschende 2. Natur ist, dann destruiert das Stauwehr zwar nicht die Chronologie des Ring - wir erfahren ja später von Wotans Aktivitäten betr. Weltesche, die vor Alberichs Goldraub liegen. Aber es destruiert die - sagen wir "Zeitstruktur" des Ring, in der wir genau dies erst nach Vorführung von Natur 1 erfahren - der Komponist holt ja da nicht einfach nach, was er dummerweise vergessen hätte am Anfang zu erzählen.

    ...

    ich versuche ja durchaus zu verstehen, wie geschätzte und erwiesenermaßen fachkundige und kenntnisreiche RT-phile sowas sehen. Die Diskrepanz von Musik und Bühne stört offenbar nicht. Führen sie sowas wie eine "traditionell" orientierte Aufführung irgendwie im Hinterkopf mit und legen darüber quasi als eine Art Reflexion das, was die Regie tatsächlich liefert? Ob das theatergerecht wäre?

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
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  • Klar, aber das ist nur ein Teil der Tätigkeit, und das Entscheidende ist, dass am Ende die Noten in Klänge umgesetzt werden, in Schallwellen, das macht auf jeden Fall der Ausführende, während er große Teile der Interpretation einfach von anderen übernehmen kann (von Musikwissenschaftern, aus der Tradition).

    Insofern finde ich die Bezeichnung "Interpret" geradezu irreführend und vermeide sie.

    Naja, die Grundlagen einer Interpretation kommen wohl von anderen, aus Traditionen heraus etc. Die Umsetzung von Noten n Klänge allerdings auch, nämlich zunächst vom jeweiligen Lehrer. In beiden Fällen ist der Ausführende also nicht souverän.

    Ja, hier gehe ich mit der Wortwahl völlig konform: Ich entscheide, welcher Tradition ich mich in meiner Umsetzung anschließe. Der Begriff "Interpretation" liegt nicht so nahe.

    Allerdings kann ich als ausführender Künstler ja auch neue Wege gehen, mich von Traditionen etc. absetzen.

    Das tut er durchaus. Man wird nämlich kaum jemals eine exakte Kopie einer anderen Darbietung abliefern wollen - nicht so sehr aus Originalitätsdrang, sondern eher als Folge der simplen Erkenntnis, dass Menschen seltenst exakt gleiche Ansichten vertreten, wenn es um den Umgang mit einer sehr komplexen Materie geht.

    Und seltenst die exakt gleichen technischen Voraussetzungen mitbringen, was ja auch Darbietungen beeinflussen.

    falls das ernst gemeint sein sollte - das mit dem "Käse" - so möchte ich doch energisch widersprechen. Sicher, da ist etwas veraltetes Pathos mit dabei, ansonsten eine adäquate Beschreibung des Verhältnisses von Werk und "Interpret", wie es sein sollte.

    Vielleicht müsste man 'Dienen am Werk' auch noch einmal definieren. Interessanterweise wird ja nicht vom Komponisten gesprochen, sondern vom Werk. Wird also gleich mitgedacht, dass sich ein Werk, wenn es denn einmal vom Urheber in die Welt entlassen wurde, auch unabhängig von den Intentionen seines Schöpfers entwickeln darf, muss? Dass es vielleicht auch reichhaltiger, vielschichtiger ist, als es sich der Komponist gedacht hat und dass ein wirkliches 'Dienen' gerade darin besteht, es in alle Richtungen auszuloten?

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • man kriegt "Natur 1" vorgeführt,

    Vielleicht ist das ein Irrtum.
    Man könnte einen durch ein Wehr gebändigten Rhein hören, der in ES-Dur (nicht F!) brav Dreiklänge aufeinander türmt. Da ist nichts Wildes - das ist alles geregelt. Ein Beton-Bad in Es-Dur.
    Für mich ist jedenfalls das Bild aus dem Chereau-Ring absolut schlüssig.

    Ich habe eiserne Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht gefallen, habe ich auch noch andere.

  • Vielleicht müsste man 'Dienen am Werk' auch noch einmal definieren. Interessanterweise wird ja nicht vom Komponisten gesprochen, sondern vom Werk. Wird also gleich mitgedacht, dass sich ein Werk, wenn es denn einmal vom Urheber in die Welt entlassen wurde, auch unabhängig von den Intentionen seines Schöpfers entwickeln darf, muss? Dass es vielleicht auch reichhaltiger, vielschichtiger ist, als es sich der Komponist gedacht hat und dass ein wirkliches 'Dienen' gerade darin besteht, es in alle Richtungen auszuloten?

    Es gibt durchaus auch die Rede davon, dem Schöpfer des Kunstwerkes zu dienen. Kennst du Cileas "Adriana Lecouvreur": Io son l´umile ancella del genio creatore? Ich glaube, dieses "Dienen am Werk" bedeutet zu allererst einmal, sich nicht für klüger zu halten als den Komponisten oder Schriftsteller, der den Text - seien es nun Noten, Worte oder beides zusammen - aufgeschrieben hat. Es gibt diesen schönen Begriff vom Lesen als "Denken mit fremden Gehirnen" - und ist das nicht auch das Tolle beim Musikhören: Einem viel, viel klügeren und begabteren Menschen als mir dabei zuzuhören, wie er über Themen redet, die uns alle beschäftigen? Genau hinzugucken, hinzuhören, was er zu sagen hat?

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Kennst du Cileas "Adriana Lecouvreur": Io son l´umile ancella del genio creatore?

    Klar. ;)

    Einem viel, viel klügeren und begabteren Menschen als mir dabei zuzuhören, wie er über Themen redet, die uns alle beschäftigen? Genau hinzugucken, hinzuhören, was er zu sagen hat?

    Aber er redet ja nicht zu uns. Er braucht ein Medium und von dem verlange ich geradezu, dass es, als eigenständiges Wesen, auch selbständige Entscheidungen trifft. Apropos 'Diener'. Ich versuche mich gerade in die Rolle eines englischen Adeligen zu versetzen. :D Da würde ich von meinem Butler auch verlangen, dass er selbstverantwortliche Entscheidungen trifft, zunächst einmal in meinem Sinne, aber auch mir auch hilft, meine falschen, engen, zu kurz gedachten Entschlüsse geradezubiegen, d.h. über meine Intentionen, meine Ideen hinauszugehen. Alles andere wäre doch Sklavendienst, oder?

    :wink: Wolfram

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  • ich bedaure sehr, daß Ch. Köhn nicht mehr als Diskussionspartner zur Verfügung steht. Denn mir ist erst in den letzten Monaten deutlicher klargeworden, zu welch absurden Konsequenzen die von ihm in seiner letzten Zeit hier vertretene Theorie von der "Interpretation als eigenständigem Kunstwerk" führt.

    Eigenständig muss ja nicht völlig losgelöst bedeuten. Über den Allgemeinplatz hinaus, dass es wenig oder nichts von allem anderen Unabhängiges gibt, ist ja naheliegend, dass selbst wenn "Chr. Köhns Spielen der Mondscheinsonate" eigenständig gegenüber "W. Kempffs Spielen der Mondscheinsonate" und "Beethovens Spielen der Mondscheinsonate" und gegenüber dem Notentext der Mondscheinsonate verstanden wird, dieses Spielen natürlich nicht unabhängig vom Notentext ist. Sondern eine bestimmte, vermutlich auch notwendige Beziehung dazu (und zu vielen anderen Dingen) haben muss.
    Genauso bei einer Oper, wo es i.d.R. noch viel mehr Dinge gibt, die man für eine konkrete Inszenierung machen muss, zu denen aber überhaupt nichts im Text steht. Dennoch wird auch eine extrem "freie" Inszenierung normalerweise sehr klar von einer freien Improvisation zu unterscheiden sein, eben durch den notwendigen Bezug. Banales Beispiel: Eine konzertante Aufführung hat ja auch sehr viel mit der entsprechenden Oper zu tun, obwohl wesentliches (absichtlich und ehrlich zugegeben) fehlt.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Eigenständig muss ja nicht völlig losgelöst bedeuten. Über den Allgemeinplatz hinaus, dass es wenig oder nichts von allem anderen Unabhängiges gibt, ist ja naheliegend, dass selbst wenn "Chr. Köhns Spielen der Mondscheinsonate" eigenständig gegenüber "W. Kempffs Spielen der Mondscheinsonate" und "Beethovens Spielen der Mondscheinsonate" und gegenüber dem Notentext der Mondscheinsonate verstanden wird, dieses Spielen natürlich nicht unabhängig vom Notentext ist. Sondern eine bestimmte, vermutlich auch notwendige Beziehung dazu (und zu vielen anderen Dingen) haben muss.
    Genauso bei einer Oper, wo es i.d.R. noch viel mehr Dinge gibt, die man für eine konkrete Inszenierung machen muss, zu denen aber überhaupt nichts im Text steht. Dennoch wird auch eine extrem "freie" Inszenierung normalerweise sehr klar von einer freien Improvisation zu unterscheiden sein, eben durch den notwendigen Bezug. Banales Beispiel: Eine konzertante Aufführung hat ja auch sehr viel mit der entsprechenden Oper zu tun, obwohl wesentliches (absichtlich und ehrlich zugegeben) fehlt.


    da habe ich dieses Theorem doch etwas anders verstanden. "Eigenständig" nicht im Sinne der Selbständigkeit einer Interpretation gegenüber anderen - das wäre nichts besonders neues, wenn auch aus Sicht der "Diener am Werk"-Auffassung schon etwas fragwürdig - sondern eigenständig in dem Sinne, daß die "Interpretation" ihre Vorlage zwar "verwendet", letzterer aber keinerlei Verbindlichkeit mehr zuerkannrt wird - wie sonst könnte die "Interpretation" es beanspruchen, selber ein oder sogar "das" Kunstwerk zu sein? Die "notwendige" Beziehung wäre nur in dem Sinne notwendig, wie ein Schaffensprozess sich niemals im"luftleere Raum" abspielt.

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  • Naja, die Grundlagen einer Interpretation kommen wohl von anderen, aus Traditionen heraus etc. Die Umsetzung von Noten n Klänge allerdings auch, nämlich zunächst vom jeweiligen Lehrer.

    Nein, die Umsetzung in den Klang erfolgt durch den Körper des Ausführenden gegebenenfalls mit Verwendung eines Gegenstandes (Instrument), nicht durch den Lehrer.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Ich verstehe nicht, warum sich das ausschließen muss. Die Herr-der-Ringe-Filme basieren auf dem Buch. Sie sind nicht eine Verfilmung irgendeiner Fantasygeschichte, sondern genau dieser. Sie weichen aber in vielen Hinsichten, sowohl was Auslassungen und Hinzufügungen als auch, was "Deutung" betrifft, von dem Buch ab. (Und die kann man natürlich auch kritisieren.) Dennoch besteht doch offensichtlich ein besonders enger und spezifischer Zusammenhang zwischen diesen drei Filmen und diesem einen Buch. Und damit ein klarer Unterschied zu einer banalen notwendigen Voraussetzung (wie der, dass es überhaupt die Technik für Filme gibt etc.) oder zwischen einer vagen Abhängigkeit eines Kunstwerks von einer bestimmten Genre-Tradition, von vielfältigen Einflüssen usw.

    Das festzustellen, löst natürlich keine Frage, was man "darf" oder "sollte". Es reicht aber m.E. um der falschen Dichotomie "Diener am Werk" oder "alles erlaubt" zu entgehen.

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    (B. Pascal)

  • Das festzustellen, löst natürlich keine Frage, was man "darf" oder "sollte". Es reicht aber m.E. um der falschen Dichotomie "Diener am Werk" oder "alles erlaubt" zu entgehen.

    Die Dichotomie ist ja nicht falsch sondern benennt die Pole, zwischen denen sich alles bewegt.

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  • Aber er redet ja nicht zu uns.

    Doch! Der Text ist ja da.

    Ich will jetzt auf keinen Fall wieder einmal das Fass aufmachen, was denn eigentlich das "Werk" sei ("Goethes gesammelte Werke" / "Beethovens gesammelte Werke" sind Bücher, nichts anderes), aber eigentlich stoßen wir genau an diese Frage: Was ist mit dem Roman, dem Dramentext oder der Partitur, wenn ihn/sie gerade niemand liest/aufführt?

    Ich versuche mich gerade in die Rolle eines englischen Adeligen zu versetzen. Da würde ich von meinem Butler auch verlangen, dass er selbstverantwortliche Entscheidungen trifft, zunächst einmal in meinem Sinne, aber auch mir auch hilft, meine falschen, engen, zu kurz gedachten Entschlüsse geradezubiegen, d.h. über meine Intentionen, meine Ideen hinauszugehen.

    Na ja, ich glaube, die meisten Menschen würden sich in so einem Fall eher dagegen verwahren und im Zweifelsfall eben die Verantwortung übernehmen für ihre Entschlüsse und Anweisungen. Es ist gibt genug Geschichten (häufig sehr witzige) von Missverständnissen und Verschlimmbesserungen, weil jemand meinte, einen falschen oder zu kurz gedachten Entschluss gerade biegen zu müssen - und am Ende nur einfach nicht das Ganze überblickt und die Hintergründe verstanden hat.

    Meinetwegen kann jemand auch in einer Beethoven-Symphonie die Instrumentierung ändern, die Tempo-Relationen oder Wiederholungen weglassen - alles okay. Aber das fällt dann in seine Verantwortung, nicht in die Beethovens. Und man braucht schon ein verdammt großes Selbstbewusstsein, um zu meinen, es besser zu wissen als ein Beethoven.

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  • Die Herr-der-Ringe-Filme basieren auf dem Buch. Sie sind nicht eine Verfilmung irgendeiner Fantasygeschichte, sondern genau dieser. Sie weichen aber in vielen Hinsichten, sowohl was Auslassungen und Hinzufügungen als auch, was "Deutung" betrifft, von dem Buch ab

    die Filmemacher verwenden die Buchvorlage, aber erkennen dieser keinerlei Verbindlichkeit zu. Eine Kritik an einem Detail des Filmes kann nur "filmimmanent" erfolgen, ein Verweis auf das Buch "da steht es aber soundso" könnte zu recht beantwortet werden mit "na und?"

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  • sondern eigenständig in dem Sinne, daß die "Interpretation" ihre Vorlage zwar "verwendet", letzterer aber keinerlei Verbindlichkeit mehr zuerkannrt wird


    Diese Verbindlichkeit existiert objektiv gesehen ja auch gar nicht.

    Was existiert sind Konventionen. Wir akzeptieren gemäß Konvention i.d.R. als Wiedergabe der Mondscheinsonate, wenn ein Pianist die von Beethoven notierten Töne auf einem modernen Steinway-Flügel spielt, obwohl Beethoven ein solches Instrument gar nicht kannte.

    Wir akzeptieren gemäß Konvention, wenn ein Opernhaus die übliche Prag-Wien-Mischfassung des Don Giovanni bringt (obwohl Mozart keine Fassung diese Art angefertigt oder positiv sanktioniert hat) und bezeichnen dies üblicherweise als Aufführung des Don Giovanni von Mozart. Wenn die Inszenierung dann noch stockkonservativ ist, sprechen diverse Lordsiegelbewahrer der "echten" Oper dann noch von einer "endlich mal wieder werkgerechten" Inszenierung.

    Wir akzeptieren gemäß Konvention, wenn bei der Matthäus-Passion ein Cello den Gamben-Part übernimmt und nennen das trotzdem immer noch eine Aufführung der Matthäus-Passion von Bach.

    Wir bezeichnen sogar Glenn Goulds, ähm, "Begegnung" mit der Appassionata in der Regel immer noch als Darbietung der Appassionata.

    Soll heißen: es gibt keinen allgemeinverbindlichen Maßstab, wo "Darbietung" oder "Interpretation" endet und wo "Bearbeitung" anfängt, sondern es gibt Konventionen, die immer mal wieder hinterfragt werden. Es gibt auch keine allgemeine Vorschrift, die die Darbieter oder Interpreten daran bindet, sich an eine Textvorlage zu halten (sofern diese gemeinfrei ist).

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Was existiert sind Konventionen.

    Genau so ist es. Und im deutschen Sprachraum haben wir die Konvention, dass eine Inszenierung etwa in der Art Schenks "nicht mehr geht" (und die Neuinszenierung des Schlauen Füchsleins ist für mich dann ein skeptisch beäugter Ausreißer). Das Regietheater ist Konvention und die Gerichte haben beschlossen, dass der Veranstalter entsprechende Umsetzungen nicht als "Bearbeitung" ankündigen muss.

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  • Und im deutschen Sprachraum haben wir die Konvention, dass eine Inszenierung etwa in der Art Schenks "nicht mehr geht" (und die Neuinszenierung des Schlauen Füchsleins ist für mich dann ein skeptisch beäugter Ausreißer).


    Von einer derartigen Konvention ist mir nichts bekannt. Es gibt durchaus Inszenierungen im deutschen Sprachraum, die eher einer konservativen Ästhetik folgen.

    Das Regietheater ist Konvention und die Gerichte haben beschlossen, dass der Veranstalter entsprechende Umsetzungen nicht als "Bearbeitung" ankündigen muss.


    Da es "das Regietheater" als uniforme künstlerische Strömung nicht gibt, kann es auch keine Konvention sein.

    Zum zweiten Teil Deines Satzes: es ist ja auch geradezu eine Frechheit, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsstaat ist. ;) Wem das nicht passen sollte: in Kuba und Nordkorea ist sicherlich noch etwas Wohnraum verfügbar.

    LG :wink:

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  • Diese Verbindlichkeit existiert objektiv gesehen ja auch gar nicht.

    nein, aber man kann ein Konzept vertreten, in dem einem Notentext sagen wir von Beethoven Verbindlichkeit zuerkannt wird ("freiwillig" natürlich), und das darauf setzt, daß auf diese Weise der künstlerische Wert am ehesten zur Erscheinung kommen kann.

    Ob das dann stimmt, ist natürlich dem "gesellschaftlichen Diskurs" überlassen.

    Und es ist auch klar, daß die Anschauungen darüber, was "Verbindlichkeit" nun wieder heißt und welche Dimensionen eines Textes wie zu betrachten sind, dem Wandel unterliegen. Ich würde auch nicht dafür eintreten, Regieanweisungen in einer Oper auf dieselbe Weise verbindlich zu nehmen wie den Notentext, aber sie deshalb nicht für völlig unverbindlich erachten.

    ---
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    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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