Die Dichotomie ist ja nicht falsch sondern benennt die Pole, zwischen denen sich alles bewegt.
Der Witz der Position, die so ähnlich von Christian Köhn vertreten worden zu sein scheint, war aber doch meiner Erinnerung nach, dass man durch eine Art schiefe Ebene beim sehr liberalen Pol landen muss. WEIL unzählige Dinge (genaue Dynamik, Phrasierung, Tempo etc.) nicht vorgeschrieben, typischerweise (außer elektronik u.ä.) nicht vorschreibbar sind oder eben per Konvention zum Teil dem Interpreten überlassen werden (sollen), kann man keine scharfe Grenze ziehen und daher kommt man tendenziell dahin, dass "alles erlaubt" und die Interpretation eigenständig und nahezu unabhängig ist. Und wenn ich Zabki oben richtig verstehe, ist für ihn eben die Eigenständigkeit zu nahe an der Beliebigkeit, wenn man sie so hochhält und das führte angeblich zu so bizarren Konsequenzen, dass man etwa einem Schüler nicht ankreiden dürfte, wenn er, statt die Noten zu spielen, anhand der Vorlage (oder gar frei) improvisierte.
M.E. stellt sich in der Praxis bei Berücksichtigung des Kontexts das Problem gar nicht so scharf. Wir unterscheiden eh schon die ganze Zeit zwischen einer gelungenen, einer unkonventionellen, einer mißlungenen Interpretation usw. Wir sagen normalerweise nur übertreibend "Das war nicht Beethovens Mondscheinsonate", weil selbst bei einer total verzerrenden Interpretation immer noch klar war, um welches Stück es sich handelte.
Warum sollte das bei Klavierstücken gehen, bei Opern auf einmal nicht mehr, weil immer droht, in einen der beiden Extrempole zu fallen? Warum stört es zB fast niemanden, dass die o.g. "Mischfassung" bei Don Giovanni üblich ist, nicht eine der "historisch korrekten" Fassungen? Warum stört sich niemand, wenn Don Giovanni in Kostümen à la 1780 gegeben wird, anstatt ca. 1600 wie der angeblichen Handlungszeit eher entsprechen würde? Auch der Freischütz wird konventionell m.E. weit eher im Stil der Entstehungszeit (also frühes 19. Jhd.) ausgestattet statt "Böhmen kurz [Kaspar hat noch mitgekämpft] nach dem dreißigjährigen Kriege". Warum fänden wir Händels Cäsar in einem 1730 üblichen Kostüm irritierend und erwarten eine Toga? Das sind alles Konventionen, denen man folgen kann, oder auch nicht. Bzgl. der "optischen Aktualisierung" gibt es halt in der Geschichte unterschiedliche Konventionen. In der Barockoper gab es prächtige Phantasiekostüme, aber keinen Ehrgeiz, Cäsar korrekt im 1. vorchristlichen, Rodelinda im 7. und Rinaldo im 12. Jahrhundert anzusiedeln.