Was ist, was soll, was darf Opernregie? Und was nicht?

  • Lieber Falstaff

    Du hast natürlich völlig recht. Die Eltern müssen von Fall zu Fall entscheiden, was ganz konkret für ihr Kind geht, und was nicht. Kinder werden meist unterschätzt, und spezielle Kinderfassungen sind meistens eher peinlich als zielführend. Unterschreibe ich alles. Ich frage mich nur, woher der Automatismus kommt, mit dem viele annehmen, dass jede Opernaufführung für einen 10jährigen geeignet sein müsste. Einen Film schauen sich Eltern ja auch an, bevor sie ihr Kind damit konfrontieren.

    Michel :wink:

    Es gibt kaum etwas Subversiveres als die Oper. Ich bin demütiger Diener gegenüber diesem Material, das voller Pfeffer steckt. Also: Provokation um der Werktreue willen. (Stefan Herheim)

  • Zitat

    Ich frage mich nur, woher der Automatismus kommt, mit dem viele annehmen, dass jede Opernaufführung für einen 10jährigen geeignet sein müsste. Einen Film schauen sich Eltern ja auch an, bevor sie ihr Kind damit konfrontieren

    .

    Da ich ja das Thema aufgeworfen habe, antworte ich mal auf diese Aussage. Ich kann dir hier nur zustimmen, ja man muss sich natürlich vorher informieren, um was für eine Opernaufführung es sich handelt. Doch bei Filmen habe ich eben die von mir bereits erwähnte FSK -Bewertung, dieses fehlt jedoch in der Oper. Wenn das Stück in einem der grosssen Häuser gespielt wird, dann habe ich vielleicht eine Rezension, an Hand derer ich einschätzen kann, ob man da ein Kind mitnehmen will, oder nicht, doch immer ist das nicht der Fall. Aber schade wäre es schon, wenn die meisten Aufführungen nur noch auf Schockelemente ala Splatterfilme setzten würden und man gar keine Möglichkeit mehr hätte, jemanden unter 18 Jahre da rein zu setzten ;+) Doch zum Glück ist das ja nicht immer so...

    Ich selber war als Kind fast häufiger in der Oper, als als Erwachsene :schaem: Doch das ändert sich seit den letzten zwei Jahren zum Glück. In der Carmina Burana war ich sogar als Kind mehrmals, da es mir und meiner besten Freundin so gut gefallen hat und ihre Mutter bei den Sängern dabei war, da gab es dann auch die eine oder andere Generalprobe zu geniessen :D

    LG Mia

  • ....wobei man die FSK-Bewertungen mitunter in der Pfeife rauchen kann... :cursing:

    Das ist jedenfalls meine Erfahrung.

    :wink:

    Momus

  • Lieber Sascha, der Vorwurf der Pauschalisierung ist durchaus angekommen, ich trage ihn mit Fassung

    Da hast Du natürlich völlig recht, man kann das durchaus etwas nuancierter sehen, wie Michel schreibt, und gleich ein Beispiel liefert, was Regietheater nicht sollte.

    Vielleicht etwas konkreter:

    Geht die Inszenierung an der konkreten Aussage des Stückes vorbei, steht sie zu ihr in einem Gegensatz, dann ist das keine "zeitgemäße" Interpretation mehr, dann ist das auch keine zulässige und erwünschte Darstellungskunst des Regisseurs sondern schlicht ein Missgriff. Merkwürdig ist, dass zu solchen Missgriffen besonders die genannten Tabubrüche eignen.

    Neben den von Michel genannten urinierenden Hexen sei ein Beispiel aus dem Aalto, ganz zahmer Art genannt:

    Wenn Jochanaan, bevor er wieder in seinem Kellerverlies verschwindet, noch mal eben Salome vergewaltigen muss - was, zur Ehrenrettung des Regisseurs seis gesagt, von den Beteiligten noch nicht so dargestellt werden musste, wie es in Wirklichkeit ablaufen würde - erschließt sich mir der Sinn nicht. Soll die Transformation in die heutige Zeit sein, dass heute dem Vergewaltiger gesagt wird: Hättest Du mich angesehen, Du hättest mich geliebt?

    Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass sexuelle, oder blasphemische oder sonstige "Tabubruchakte" oder Nakedeis auf der Bühne erscheinen, wenn es sich vom Sujet her rechtfertigen lässt. Um es mit Kehlmann leicht abgewandelt zu sagen: Man sollte sich nur nicht bloß wegen der Schau derartiger Dinge allein schon für einen fortschrittlichen Menschen halten. Im übrigen sollte Theater ja auch phantasieanregend sein. Es ist daher nicht nötig, alles plakativ darzustellen. Mich stören die nackichten Rheintöchter nicht, wenns denn der Darstellung des Kunstwerkes dient.

    Paulus


  • Da hast Du natürlich völlig recht, man kann das durchaus etwas nuancierter sehen, wie Michel schreibt, und gleich ein Beispiel liefert, was Regietheater nicht sollte.

    Ich habe kein Beispiel dafür geliefert, was Regie nicht sollte. Ich habe nur eine ganz konkrete Inszenierung genannt, in der mir eine ganz bestimmte Szene dramaturgisch nicht schlüssig schien. Der Regisseur "darf" durchaus urinierende Hexen auf die Bühne stellen, wenn er dem Zuschauer den Sinn vermitteln kann. Und das ist natürlich das Kriterium für jede inszenatorische Entscheidung, unabhängig davon, ob irgendwelche Körperflüssigkeiten beteiligt sind oder nicht. :D

    Michel

    Es gibt kaum etwas Subversiveres als die Oper. Ich bin demütiger Diener gegenüber diesem Material, das voller Pfeffer steckt. Also: Provokation um der Werktreue willen. (Stefan Herheim)

  • Zitat

    Der Regisseur "darf" durchaus urinierende Hexen auf die Bühne stellen, wenn er dem Zuschauer den Sinn vermitteln kann.

    Natürlich darf er, w e n n er den Sinn vermitteln kann, darüber sind wir uns doch einig. Und in Deinem Fall ist ihm das, jedenfalls, was Dich betrifft, nicht gelungen, oder habe ich Dich da missverstanden? Billige Provokation, so sagst Du, hättest Du es für Dich empfunden. Und die sollte ein guter Regisseur doch vermeiden, oder?

    Paulus

  • Geht die Inszenierung an der konkreten Aussage des Stückes vorbei, steht sie zu ihr in einem Gegensatz, dann ist das keine "zeitgemäße" Interpretation mehr, dann ist das auch keine zulässige und erwünschte Darstellungskunst des Regisseurs sondern schlicht ein Missgriff. Merkwürdig ist, dass zu solchen Missgriffen besonders die genannten Tabubrüche eignen.


    Paulus

    Lieber Paulus,
    aber wer legt fest, was die "konkrete Aussage" eines Stückes ist? Die Aussage schlechthin gibt es nicht, es gibt viele stückimmanente Aspekte, und welche(n) dieser Aspekte ein Regisseur nun in den Fokus rückt, ist seine künstlerische Freiheit.
    Ich erinnere mich noch gut an eine Don-Carlos-Diskussion in der alten Welt, wo als Argument gegen die sehr politische Bieito-Inszenierung behauptet wurde, der DC sei eine "romantische Liebesgeschichte", das Autodafè habe bloß folkloristische Bedeutung. Natürlich kann man es so auch sehen, wenn man gerne Scheuklappen träft, aber bei dieser "konkreten Stückaussage" würden wohl Schiller und Verdi gemeinsam in ihren Gräbern rotieren.
    Der DC ist keinesfalls nur eine romantische Liebesgeschichte, aber wenn ein Regisseur ihn just unter diesem Aspekt inszenieren will und er dafür überzeugende Bilder findet, darf er das natürlich, auch wenn er damit meine Sicht auf das Stück ganz bestimmt nicht befriedigen würde. Aber es ist nicht seine Aufgabe, mich zufrieden zu stellen, sondern zu überzeugen, nämlich davon, dass er auch Recht hat. Beachte bitte das Wörtchen AUCH, denn die Wahrheit, die absolut gültige, einzig seligmachende, gibt es auf der Bühne ebenso wenig wie im realen Leben!
    lg Severina :wink:

    "Das Theater ist ein Narrenhaus, aber die Oper ist die Abteilung für Unheilbare!" (Franz Schalk)

  • Zitat

    Der DC ist keinesfalls nur eine romantische
    Liebesgeschichte, aber wenn ein Regisseur ihn just unter diesem Aspekt
    inszenieren will und er dafür überzeugende Bilder findet, darf er das
    natürlich, auch wenn er damit meine Sicht auf das Stück ganz bestimmt
    nicht befriedigen würde. Aber es ist nicht seine Aufgabe, mich
    zufrieden zu stellen, sondern zu überzeugen, nämlich davon, dass er auch Recht hat. Beachte bitte das Wörtchen AUCH, denn die Wahrheit, die absolut gültige, einzig seligmachende, gibt es auf der Bühne ebenso wenig wie im realen Leben!

    Liebe Severina,

    Natürlich darf der Regisseur alles. Es geht nicht darum, die Kunstfreiheit in irgendeiner Weise zu beschneiden. Auch gibt es keinen Papst, der sagt, was die Aussage eines Stückes keinesfalls ist. Allerdings halte ich mein Salomebeispiel für ziemlich klar, aber auch das ist nur meine Meinung.

    Ich denke, dass die Diskussion vergleichbar der HIP Diskussion ist: Es gibt verschiedene Möglichkeiten einer Aufführung, verschiedene Weisen, einen - hier nur musikalischen - Text darzustellen. Mancher mag es dort historisch, andere mögen es eher in einer Aufführung auf heutigen Instrumenten entsprechend dem Zeitgeschmack romantisierend oder kühl sachlich dargestellt, wieder andere fabrizieren aus einer alten barocken Vorlage ein völlig neues Stück mit Schlagzeug und jazzigen Klängen. Alles hat seine Berechtigung. Nur muss es in sich stimmig sein. Ich kann nicht hingehen und behaupten nur ein verjazzter Bach sei ein guter Bach. Und auch nicht, nur der Bach einer HIP Aufführung sei zu akzeptieren. Es wird schlicht ein unterschiedlicher Geschmack bedient. Und es gibt dabei schlicht Geschmacklosigkeiten und schlechte Inszenierungen.

    Auch Kehlmann wendet sich ja ausdrücklich nicht dagegen, dass ein Theaterstück verfremdet dargeboten wird. Ihm ist es nur um die von ihm konstatierte deutsche Einseitigkeit in Richtung des Regietheaters zu tun. Seine Feststellung, ausländische Besucher würden über das deutsche Regietheater den Kopf schütteln, Autoren würden sich einer deutschen Inszenierung verweigern, weil sie eher die Vorstellungen des Regisseurs denn die des Autors bedienen, hätte man sich allerdings gerne nicht nur als Behauptung, sondern unterfüttert gewünscht.

    Paulus

  • Natürlich darf er, w e n n er den Sinn vermitteln kann, darüber sind wir uns doch einig. Und in Deinem Fall ist ihm das, jedenfalls, was Dich betrifft, nicht gelungen, oder habe ich Dich da missverstanden? Billige Provokation, so sagst Du, hättest Du es für Dich empfunden. Und die sollte ein guter Regisseur doch vermeiden, oder?

    Paulus

    Genau, mir schien in diesem Beispiel der Sinn nur zu sein, einen Buh-Sturm zu provozieren. Und das ist halt etwas dünn. Und eine sehr oberflächliche Provokation obendrein. Bei mir persönlich hat das nicht funktioniert, ich war weder entsetzt noch sonstwie peinlich berührt, ich hab's distanziert und unbeteiligt beobachtet. Und mich natürlich auch nicht den buh-rufenden Pavianen angeschlossen.

    Provokation, auch ganz gezielte Provokation, kann aber dennoch ein kraftvolles Ausdrucksmittel sein. Siehe den aktuellen Thread über die Meistersinger: Die Schlussansprache von Sachs so umzusetzen, dass fanatischen Wagnerianern Hören und Sehen vergeht, ist doch fast eine Pflicht für jeden Regisseur. 8+)

    Zuallererst sollte der Regisseur allerdings jede Art von unmotivierter Regieentscheidung vermeiden, ob provokant oder nicht spielt dabei keine Rolle.

    Michel

    Es gibt kaum etwas Subversiveres als die Oper. Ich bin demütiger Diener gegenüber diesem Material, das voller Pfeffer steckt. Also: Provokation um der Werktreue willen. (Stefan Herheim)

  • Lieber Paulus,
    mit deinem letzte Post sind wir ganz auf einem gemeinsamen Nenner :sev: , auch ich plädiere ja immer wieder für einen Regiepluralismus, in der alles seinen Platz haben darf - Provokation um der Provokation willen ebenso wie eine traditionelle Sicht. Persönlich bin ich auch nicht unbedingt ein Fan der so genannten "Regieberserker", sondern bevorzuge die gemäßigtere Liga, also Carsen, Pelly, Loy, Decker, Herzog, Konwitschny......
    Was mich bei deinem ersten Beitrag so gestört hat, war deine Unterstellung, den modernen Regisseuren ginge es nur um Selbstdarstellung, um Zerstörung, um Provokation - die wahre Aussage des Stückes sei ihnen völlig egal. Das mag sogar in einigen Fällen zutreffen - schwarze Schafe gibt es unter Regisseuren wie in jeder anderen Berufsgruppe auch - aber gegen eine Verallgemeinerung wehre ich mich.
    lg Severina :wink:

    "Das Theater ist ein Narrenhaus, aber die Oper ist die Abteilung für Unheilbare!" (Franz Schalk)

  • Zitat

    Was mich bei deinem ersten Beitrag so gestört hat, war deine
    Unterstellung, den modernen Regisseuren ginge es nur um
    Selbstdarstellung, um Zerstörung, um Provokation

    Liebe Severina,

    ich meine ich hätte von manchen Regisseure gesprochen, durchaus nicht von d e n Regisseuren.


    Vielleicht ist die Empörung, die Kehlmann erntet, aber auch darin begründet, dass er behauptet, ein Regietheater gebärde sich nur modernistisch. Dass er sagt: Das was ihr macht, macht ihr jetzt schon seit 40 Jahren. Das ist gar nichts Neues mehr, das ist noch nicht mal Provokation, das ist eine Masche. Ihr seid mit solchen Formen der Provokation im Grunde die Konservativen: Ihr haltet an nur einer der denkbaren Formen des Theaters fest. Und damit dieser Art von Regie inzident eine Einfallslosigkeit vorwirft.

    Mich würde vor allem an Kehlmanns statement interessieren, ob seine Diagnose, es handele sich um eine isoliert deutsche Erscheinungsform des Theaters, begründet ist.

    Paulus

  • Zitat

    Mich würde vor allem an Kehlmanns statement interessieren, ob seine Diagnose, es handele sich um eine isoliert deutsche Erscheinungsform des Theaters, begründet ist

    ich habe jetzt die Kehlmann-Rede mir reingezogen und bin enttäuscht. Nach der Lektüre von "Mahlers Zeit" hatte ich eine gedankenreichere Rede erwartet.

    Nein, die Kehlmann-Rede ist keine Diagnose, sondern eher eine Aneinandereihung von Allgemeinplätzen. Kehlmannn ist unter seinem Niveau.

    Ich habe zwar einige Theateraufführungen erlebt, die den Kehlmannschen Klischees entsprachen (das war in der tat ärgerlich), aber die Gegenbeispiele überwogen eher und deshalb prallt die Rede an ihren Gegenstand ab. ... auf die gegenwärtige Opernregie lassen sich die Kehlmannschen Ausführungen - nach meiner bisherigen Erfahrung - noch weniger übertragen.

    Ich habe öfters die Formulierung gelesen "dem Werk dienen". Vielleicht ist es in manchen Fällen dem Werk besonders dienlich, wenn man dem Werk nicht dient (nicht willfährt), sondern die Brüche, das Ungelöste darin deutlich werden lässt z.B. so:

    Zitat

    Die Schlussansprache von Sachs so umzusetzen, dass fanatischen Wagnerianern Hören und Sehen vergeht, ist doch fast eine Pflicht für jeden Regisseur


    :wink:

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Provokationen

    Zitat

    Es gibt Inszenierungen, in denen um der Provokation willen provoziert wird, weil dem Regisseur gerade nix Brauchbares eingefallen ist.

    Lieber Michel,

    sicher kannst auch Du diese Aussage anhand von Gesprächen mit Regisseuren oder Mitwrikungen an Produktionen belegen. Immerhin relativierst Du Dein Kusej-Beispiel, in dem Du einräumst, dass Dir die beschriebene Szene nicht schlüssig und eher provokant vorkam - sie also dem Regisseur durchaus zu seiner Inszenierung passend und in sich stimmig erschienen sein kann, dass also nicht "Provokation" der Motor seiner künstlerischen Arbeit gewesen sein muss, sondern die Szene der Beschäftigung mit dem Stück entsprungen sein kann.

    :wink:

    Der Kunst ihre Freiheit

  • RE: Provokationen

    Lieber Michel,

    sicher kannst auch Du diese Aussage anhand von Gesprächen mit Regisseuren oder Mitwrikungen an Produktionen belegen. Immerhin relativierst Du Dein Kusej-Beispiel, in dem Du einräumst, dass Dir die beschriebene Szene nicht schlüssig und eher provokant vorkam - sie also dem Regisseur durchaus zu seiner Inszenierung passend und in sich stimmig erschienen sein kann, dass also nicht "Provokation" der Motor seiner künstlerischen Arbeit gewesen sein muss, sondern die Szene der Beschäftigung mit dem Stück entsprungen sein kann.

    :wink:


    Lieber Alviano,

    Selbstverständlich kann ich das nicht durch Aussagen der Beteiligten belegen - ebenso wenig, wie ich all meine persönlichen Deutungen von Inszenierungen belegen kann, in denen mir radikale oder provozierende Elemente schlüssig erschienen. Ich kann natürlich in jedem Fall nur vermuten, was die Beteiligten sich gedacht haben. Und in diesem konkreten Fall vermute ich eben, wie gesagt, dass absichtlich und ohne tiefere Begründung das konservative Münchner Publikum provoziert werden sollte. Im übrigen hatte die Inszenierung durchaus viele funktionierende starke Bilder, die von Teilen des Publikums als ebenso provokant empfunden wurden.

    Man darf auch nicht vergessen, dass Macbeth Bachlers erste Premiere in München war. Ein mehr oder weniger expliziter "Auftrag" an den Regisseur, ein Ausrufezeichen zu setzen, dass jetzt neue Zeiten anbrechen, erscheint mir gar nicht so abwegig. Auch das selbstverständlich eine Spekulation, die ich nicht belegen kann :) . Und trotzdem äußern können möchte.

    Ich bin sicher, dass Du aus Deiner Erinnerung auch Beispiele nennen könntest, wo Du dem Regisseur unterstellen würdest, dass er ohne weitergehende künstlerische Begründung um der Provokation willen provozieren wollte. Oder willst Du ernsthaft behaupten, dass Die dieser Gedanke noch nie gekommen ist?

    Viele Grüße
    Michel

    Es gibt kaum etwas Subversiveres als die Oper. Ich bin demütiger Diener gegenüber diesem Material, das voller Pfeffer steckt. Also: Provokation um der Werktreue willen. (Stefan Herheim)

  • Verdeutlichung

    Lieber Michel,

    der von mir zitierte Satz steht als Behauptung da:

    Zitat

    Es gibt Inszenierungen, in denen um der Provokation willen provoziert wird, weil dem Regisseur gerade nix Brauchbares eingefallen ist.

    Deshalb habe ich nachgefragt, vor welchem Hintergrund Du zu dieser Behauptung kommst. Da Du unumwunden einräumst, dass Du nur einen persönlichen Eindruck wieder gibst, will ich nur ein wenig den Blick darauf lenken, dass mit solchen Behauptungen Regisseure diskreditiert werden. Ich finde eine solche, ungesicherte Behauptung den Betroffenen gegenüber nicht fair.

    Wovon sich ein Publikum "provoziert" fühlt, ist eine ganz andere Geschichte, das war aber hier nicht der Aufhänger.

    Selbstverständlich setzt ein Intendant durch die Verpflichtung bestimmter Regisseure Akzente, auch - ich habe es zumindest in einem Fall erlebt - um eine bestimmte Publikumsreaktion zu erzielen. Aber das ist doch so ein wenig ein Allgemeinplatz.

    Zitat

    Ich bin sicher, dass Du aus Deiner Erinnerung auch Beispiele nennen könntest, wo Du dem Regisseur unterstellen würdest, dass er ohne weitergehende künstlerische Begründung um der Provokation willen provozieren wollte. Oder willst Du ernsthaft behaupten, dass Die dieser Gedanke noch nie gekommen ist?

    Will ich. Ich habe schon misslungene Produktionen erlebt, gesehen, wenn etwas nicht richtig fertig geworden ist, der Regisseur keine richtigen Antworten auf im Stück vorhandene Fragen gefunden hat, Szenen die aus unterschiedlichen Gründen nicht überzeugend sind, all dies habe ich auch bei prominenten Regisseuren gesehen. "Provokation um der Provokation willen" habe ich - zumindest aus der Erinnerung heraus - nicht erlebt.

    Genau deshalb versuche ich, den entsprechenden Vorurteilen etwas entgegenzusetzen.

    :wink:

    Der Kunst ihre Freiheit

  • Lieber Alviano,

    was die Sache diffizil macht, ist m. E., daß der Sinn eines Regie-Einfalls sich einzig und allein über das Bühnengeschehen übermitteln muß. Es gibt nunmal kein Erläuterungs-Forum, in dem der Regisseur seine Inszenierung erklären kann (das Programmheft könnte hier in vielen Fällen meiner Meinung nach mehr leisten, aber das ist wohl ein eigenes Thema).

    Was Michel nun passiert ist, finde ich sehr menschlich: er hat einen Einfall gesehen, den er schlicht nicht plausibel findet, und sich seine eigenen Gedanken für den Grund dieser (seiner Meinung nach) mißlungenen Szene gemacht. Damit ist man natürlich automatisch im Bereich der Spekulation. Dies mag man nun als unlauter zurückweisen (streng genommen ist es das sicherlich), aber ich finde es trotzdem nachvollziehbar. Wichtig ist nur, daß man eine Grenze einhält. Ich habe mal mitbekommen, wie einem Regisseur unterstellt wurde, er hätte es auf Buhs angelegt und würde sich darüber noch freuen. Ich kenne den Regisseur, und weiß, daß dies definitiv nicht stimmt. Dies finde ich eine Unterstellung, die zu weit geht. Bei einem mißlungenen Einfall über einen profanen Grund zu spekulieren, finde ich weniger schlimm. Hierbei eine Grenze zu ziehen, wird jedoch sicherlich schwierig sein. Regisseure stellen ihre Arbeiten nunmal einer Öffentlichkeit vor und müssen mit deren Urteil leben, und die Öffentlichkeit sollte versuchen, dieses Urteil auch im negativen Fall nicht ad personam werden zu lassen.

    (Kurzer Nachtrag: In dem von mir erlebten Fall ging es um Buhs für die gesamte Inszenierung. Michel hat, wenn ich ihn richtig verstehe, nur bei einer einzelnen Szene auf gezielte Provokation eines eher konservativen Publikums spekuliert.)

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Spekulieren

    Lieber Symbol,

    es geht mir um jenen Satz, den ich zitiert habe. Da wird eine Behauptung aufgestellt, die nicht belegt ist. Genau solche populistischen Behauptungen benutzen konservative Theaterbesucher/innen völlig unreflektiert, um einem Regisseur Willkür, Unkenntnis, Einfallslosigkeit oder eben ein "Der will nur provozieren, weil ihm sonst nichts einfällt" zu unterstellen. Ich möchte gerne erreichen, das solche Vorurteile nicht einfach übernommen, sondern hinterfragt werden.

    :wink:

    Der Kunst ihre Freiheit

  • Genau solche populistischen Behauptungen benutzen konservative Theaterbesucher/innen völlig unreflektiert, um einem Regisseur Willkür, Unkenntnis, Einfallslosigkeit oder eben ein "Der will nur provozieren, weil ihm sonst nichts einfällt" zu unterstellen. Ich möchte gerne erreichen, das solche Vorurteile nicht einfach übernommen, sondern hinterfragt werden.

    Wenn schon dem theaterverantwortlichen Feuilleton-Redakteur der angeblich besten deutschen Zeitung nichts anderes einfällt, als auf der ersten Seite auf eine Zeit zu schimpfen, "in der die jüngeren marktbeherrschenden, längst konventionell und gängig gewordenen Regisseure nie von sich absehen und sich auch auf der Bühne exakt mit dem beschmieren, beschreien, beschallen und bekleckern, was ihnen völlig werk,- text- und figurenunabhängig so durch die Rüben rauscht", erscheint mir das auch bitter nötig.

    Es ist bitter, wenn selbst Fachleute meinen, nun den Weg des Argumentes verlassen zu dürfen und nur einfach mal Ihren Frust herausblöken können. Damit reihen sie sich dann ein in eine selbsternannte Armada, die nichts anderes kann, als zu klagen. Auch, dass heute keine "anständige" Musik mehr komponiert werde, die moderne Kunst nur Geschmiere sei und so weiter. Das nervt schon. Was aber dann wirklich noch viel mehr nervt ist, wenn man diese flachgeistigen Konstrukte als das benennt, was sie sind. Dann ist man nämlich unhöflich und beleidigend, obwohl man nichts anderes tut, als eine Tatsache festzustellen.

    Notwendig scheint mir klarzustellen, dass ich Michel freilich nicht im entferntesten in dieser Denkrichtung ausmache.

    Gruß
    Sascha


    "You realize that it’s not necessary to own 50 Beethoven cycles, 46 of which you never play, when you can be just as happy with 20 of them, 16 of which you never play.
    "
    , David Hurwitz

  • Ich habe die Pinkelszene (bayrisch: Bieselszene) im Münchner Macbeth nicht unbedingt als "ohne Sinn" empfunden, sondern spontan an die Zubereitung des Hexentranks im Libetto rückgebunden (in der entsprechenden Szene des dritten Akts wird ja auch vom brodo infernal gesungen: L'acqua già fuma, crepita e spuma).

    Trotzdem wehre ich mich gegen das Postulat, eine Inszenierung müsse immer "Sinn" produzieren, gar ein kohärentes Ganzes darstellen usw. Es existiert auch eine unmittelbare visuelle bzw. theatralische Präsenz, die alle möglichen Empfindungen und auch Gedanken auslösen kann, aber nicht zwangsläufig immer "sinnvoll" sein muss. Wie etwa bei den Inszenierungen des im Forum auch schon diskutierten Robert Wilson, dessen minutiöse Farbregie und abstrahierte Gestik auch keinen "Sinn" in Bezug auf das inszenierte Stück erzeugen. Das semantische Auseinanderfallen von Stück und Inszenierung ist durchaus ein legitimes ästhetisches Mittel.

    Ebenso möchte ich eine Lanze für die Provokation brechen, die ja hier geradezu als der begriffliche Gottseibeiuns gehandelt wird. Provokation ist ein Signum der Moderne, insb. der theatralischen Moderne: seit Alfred Jarrys Ubu Roi, dessen erstes Wort bereits auf das Zurückschreien des Publikums ausgerichtet ist, und seit den serate der italienischen Futuristen, bei denen die Provokation zu regelrechten Kriegen zwischen Menschen auf der Bühne und Menschen im Zuschauerraum führte. Was hier erreicht wird, ist das Niederreißen der imaginären vierten Wand zwischen Bühne und Zuschauerraum, es ist (wie beim Macbeth) häufig auch die Übertragung von Extremzuständen, die von den Schauspielern/Sängern vorgeführt werden, auf das Publikum - das so in einen Erregungszustand gerät, den es im Alltag nicht häufig erleben dürfte. Die Publikumsreaktionen bei der Macbeth-Premiere haben ziemlich gut das Changieren zwischen wilder Empörung und Travestie getroffen, das auch Kusejs Inszenierung prägt. Dabei ist es m.E. egal, ob es sich um eine hundert-, achtzig- oder fünfzigprozentige Provokation mit entsprechenden Anteilen an "Sinn" handelt. Das Attribut "platt", das dem Begriff "Provokation" immer angehängt wird wie ein Schleppfuß, mag manchmal, aber durchaus nicht immer zutreffen.

    Insofern: "Provokation um der Provokation willen" - warum denn nicht?


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Ich habe eben in der heutigen "Süddeutschen" eine sehr treffende und interessante Erwiderung von Nicolas Steman auf die Kehlmannrede gelesen, leider soll/darf man ja nicht verlinken.

    Spekulation ist übrigens jede Überlegung zu einer Inszenierung, solange man den Regisseur nicht persönlich befragen kann. Denn selbst wenn mich eine Szene begeistert, weiß ich ja nicht, ob sie das in dem vom Regisseur intendierten Sinn tut. Vielleicht hat er ja etwas ganz anderes zum Ausdruck bringen wollen, als ich herauslese, meine Zustimmung beruht also in Wahrheit auf einem großen Missverständnis.
    lg Severina :wink:

    "Das Theater ist ein Narrenhaus, aber die Oper ist die Abteilung für Unheilbare!" (Franz Schalk)

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