Die Renaissance-Polyphonie an der Peripherie Europas

  • Böhmen & Mähren (Tschechien)

    Die Renaissance-Polyphonie begann erst spät in Böhmen/Mähren Fuß zu fassen. Am Beginn des 15. Jahrhunderts stand nämlich zunächst Jan Hus (1369-1415) mit seiner Bewegung, die auch eine eigene Liedtradition - die Hussitenlieder - entwickelte. Erst im Jahrhundert darauf gründete Ferdinand I. (1503-1564) - Bruder Kaiser Karls V. - seine eigene Hofkapelle, die er zumeist mit ausländischen Musikern betrieb. Sein Nachfolger Maximilian II. (1527-1576) hielt das Niveau der Hofkapelle aufrecht; z.B. war Philippe de Monte (1521-1603) ab 1568 Kapellmeister. Seit Rudolf II. (1552-1616) Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Böhmen war (1576), residierte die Hofkapelle in Prag (davor war sie in Wien ansässig).

    Neben dem Kaiser waren auch die böhmischen Adligen nicht abgeneigt, sich Kapellen zuzulegen. Wilhelm von Rosenberg (1535-1592) hatte sich in Ceský Krumlov eine solche aufgebaut, die sein Bruder Peter Wok von Rosenberg (1539-1611) weiterführte. Auch der unten erwähnte Komponist Krystof Harant (1564-1621) hatte sich eine erschlossen, die größte in Böhmen in den ersten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts.

    Im Böhmerwald hatte sich eine kirchliche Tradition entwickelt, die sehr weit zurückreicht. Im Zisterzensierkloster in Vyssí Brod hat sich ein Manuskript enthalten (MS 42 aus dem Jahre 1410), worin sich die Hymne Jezu Kriste, ščedrý kněže befindet, die während der Predigten von Jan Hus gesungen wurde. In den Städten Prachatice und Susice entwickelte sich ebenfalls eine reichhaltige Kultur heraus. Der Gemeindegesang wurde besonders gefördert durch Bruderschaften (literátská bratrstva), die sogar ein eigenes Chorbuch herausbrachten. Als etwa 1620 die katholische Gegenreformation begann, wurden auch im Böhmerwald zahlreiche Neuordnungen versucht; das gelang erst nach mehreren Versuchen z.B. in Form von neuen Gesangsbüchern (Capella regia musicallis).

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    Komponisten:
    Die erste wichtige Persönlichkeit ist Jan Blahoslav (1523–1571), der allerdings eher Theoretiker war. Er wurde 1557 Bischof und hatte 1564 das Neue Testament ins Tschechische übersetzt; seine musiktheoretische Schrift Musica: to gest knjžka zpěwákům (1558) gilt als die älteste ihrer Art in tschechischer Sprache. Das wichtigste musikalische Werk ist der Szamotuly Kancionál, eine Sammlung an 735 Hymnentexten und 450 Melodien, die er selber editierte.

    Jan Simonides Montanus (zw. 1530/1540-1587) war Zeit seines Lebens in Kutna Hora ansässig, einer Stadt in Mittelböhmen. Er lebte im Zisterzienserkloster Sedlitz und komponierte Messen und Motetten. Leider sind nur noch 22 Werke erhalten, und nur eine vollständig mit allen Stimmen.

    Der nächste Name ist mir dagegen ein Begriff: Simon Barjona Madelka (1530/1550-um 1598), zu dem ich hier bereits was geschrieben hatte. Bis auf seine Septem psalmi poenitentiales (1586) ist sein Werk nur noch unvollständig erhalten.

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    Jirí Rychnovský, auch Georgius Rychnovius (1545–1616) komponierte polyphone Werke in Tschechisch und Latein. Seine Stücke sind in einigen Pragern Manuskripten enthalten.

    Jan Trojan Turnovský (vor 1550-1606) studierte in Prag und wurde später Priester. Von ihm sind ein komplettes Ordinarium - die Missa super Jerusalem cito veniet (1578), basierend auf einer Motette von Clemens non Papa - , zwei Responsorien und elf Lieder enthalten; der Rest (weitere 24 Werke) liegt leider unvollständig vor.

    Pavel Spongopaeus Jistebnický (1550/1560–1619) war Lehrer und hatte verschiedene Stellungen inne; ab 1598 blieb er in Kutna Hora. Er gehörte zu den profiliertesten Komponisten seiner Zeit. Obwohl sechzig Werke von ihm erhalten sind, ist nur eine davon (Králi nad králi, Pane) vollständig erhalten; die anderen Werke (6- bis 8stimmige Messen) sind nicht rekonstruierbar.

    Krystof Harant z Polzic a Bezdruzic (1564-1621) war ein böhmischer Adliger und umfassend gebildeter Humanist. Er trat in die Dienste Rudolfs II. und machte sich als Soldat einen Namen. Sein Leben endete ziemlich abrupt unter dem Henkerbeil; er hatte sich 1618 auf die Seite der böhmischen Adligen geschlagen, als diese den Prager Fenstersturz vollzogen. Nur sieben seiner Kompositionen sind erhalten geblieben - eine Messe (Missa quinis vocibus super Dolorosi martir) und zwei Motetten.

    Als Letzten stelle ich Jan Campanus Vodnanský, auch Johannes Vodnianus Campanus (1572–1622), vor. Er war Hussite und studierte in Prag. Er war als Lehrer tätig, schrieb Theaterstücke und komponierte zumeist homophone Stücke. 1613 erschien das Sacrarum odarum libri duo mit seinen Kompositionen in Frankfurt. Kurz bevor er starb, war er zum Katholizismus übergetreten und hatte seine bisherige Stellung verloren.

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    Ab der Gegenreformation setzte sich der Barock endgültig in Böhmen/Mähren durch. Es folgten Komponisten wie z.B. Adam Václav Michna z Otradovic (ca. 1600-1676) oder Heinrich Ignaz Franz Biber (1644–1704).


    Bedauerlicherweise sind die Informationen über Böhmen/Mähren etwas mager. Hinzu kommt, daß ich kaum CDs finden konnte. Da die Quellenlage bei den oben vorgestellten Komponisten so lückenhaft bis rudimentär vorliegt, sind auch kaum Aufnahmen gemacht worden... ;(

    [Blockierte Grafik: http://ecx.images-amazon.com/images/I/518PoJJFZtL.jpg]
    "http://cdmusic.cz/inshop/scripts/Detail.asp?kat=MK07082231"


    Links:
    "http://www.radio.cz/de/static/musikgeschichte"
    "http://en.wikipedia.org/wiki/Music_of_the_Czech_Lands"
    "http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Czech_composers"
    "http://de.wikipedia.org/wiki/Hussitenlieder"
    "http://cantica.kh.cz/grad/skladatele_en.html"
    "http://de.wikipedia.org/wiki/Christoph…tz_und_Weseritz"
    "http://de.wikipedia.org/wiki/Jan_Campa…C5%88ansk%C3%BD"


    jd :wink:

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    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Naja, es gibt aber schon auch einige säkulare Traditionen, an den Höfen, wie auch schon in Städten (Ministrels/ Piffari/Stadtpfeiffer etc.) und Bürgerhäusern. Und natürlich gibt es säkulare Madrigale und Chansons usw.. Das kann alles natürlich - außer bei strengen Reformierten - auch nach der Reformation weiterleben, wie auch polyphone Kirchenmusik und die dominante Form des Lutheranismus keine Gegensätze waren.

    Da hast Du jetzt im Prinzip recht mit den säkularen Traditionen, da habe ich zu kurz gedacht. (Allerdings: Minstrels und Piffari folgten irgendwie schon anderen musikalischen Traditionen, als der franco-flämischen Polyphonie... ;+) ) Was Polyphonie und protestantische Kirchenmusik des 16. Jhs. betrifft: Gegensätze waren das natürlich nicht, allerdings war meines Wissens die Schlichtheit auch bei den Lutheranern Programm.

    In den Kirchen dominiert eher der Hymnus, eine volksmusiknähere Eigenform, die unter dem Einfluß franco-flämischer, niederländischer, italienischer, englischer und deutscher Musiker in Dänemark und Schweden gerade nach der Reformation gar nicht so selten auch polyphon gesetzt wurden.


    Was muß ich mir unter einem gleichzeitig polyphonen und volksmusiknahen Hymnus vorstellen? Hast Du ein Beispiel dafür?

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Ergänzung zu Böhmen

    neben den von Josqin Dufay Genannten gibt es noch

    Petrus Wilhelmi de Grudencz (Grudziądz, Graudenz), ca. 1400 – ca. 1480. Cappelanus bei Kaiser Friedrich III. Etwa 20 Werke im Stil der zeitgenössischen Franco-Flamen haben überlebt.

    Ondřej Chrysoponus Jevíčský, ca. 1550 - nach 1590 (auch Andreas Chrysoponus Gevicenus), von 1576 to 1582 in Prachatice in Südböhmen tätig. Er schrieb hauptsächlich auf lateinische Texte in 5-9 Stimmen mit einem c.f. von gregorianischen Gesängen oder tschechischen Kirchenliedern. 1579 veröffentlichte er in Prag eine Sammlung von 100 Bicinien ("Bicinia nova").
    Ebenfalls (unvollständig) erhalten sind vier Messen mit 6-8 Stimmen, zwei Prorien-Zyklen und 25 Motetten ("Et valde mane", 1578, ist einzig komplett erhalten)

    alle bisher genannten Komponisten wurden nur regional aufgeführt und blieben ausserhalb Böhmens weitgehend unbekannt.

    An Ausländern wirkten in Böhmen neben dem bereits erwähnten Philip de Monte vor allem

    Jacobus Gallus/Jakob Handl, der seine letzten 5 Lebensjahre (1586-91) in Prag verbrachte. Sein Hauptwerk,das "Opus Musicum", eine Sammlung von 374 Motetten für das gesamte Kirchenjahr wurde dort ebenso publiziert, wie die Madrigalsammlung "Harmoniae morales" (1589/90, 100 Werke). Auch 16 seiner 20 Messen wurden in Prag gedruckt. Zuvor war er seit 1580 (1579?) Kapellmeister beim Bischof von Olmütz in Mähren.

    Franz Sales (nicht zu verwechseln mit dem Fürstbischof von Genf), geb. 1540-50 in Namur, gest. 1599 Prag. Vorübergehend Tenor bei Lasso in München (1579/80), bis 1587 Innsbruck, bis 1591 Hall am Inn. Ph. de Monte holte ihn 1591 als Tenor an die Hofkapelle nach Prag. Drei Sammlungen von Messen (Prag 1594 und 96) und Canzonette (dto. 1598) und andere. Die meisten seiner Werke wurden allerdings in München gedruckt - Messen, Motetten und Villanellen zwischen 1589 und 1598
    (zahlreiche Noten bei der Musikedition Tirol "http://www.musikland-tirol.at/html/html/musikedition/sales.html", scorch-Plugin nötig. Aufführungsmaterial gegen Unkosten beim Institut für Tiroler Musikforschung der Universität Innsbruck)

    Charles Luython (Antwerpen 1557 - Prag 1620), Mit 9 Jahren Sängerknabe am Hofe Kaiser Maximilians II. Nach 1576 unter Rudolf II. Hoforganist zunächst in Wien, dann in Prag. Wurde von dessen Nachfolger ohne Pension entlassen und starb in Armut. Hauptwerke: Mehrere Bücher Madrigale (Venedig 1582 und Prag 1603), Lateinische Hymnen a 6 ("Popularis anni jubilus", Prag 1587), "opus Musicum" (Lamentationes, Prag 1604), Primo libro di 9 Messe a 3 e 5 voci, (Prag 1611, vier davon auf c.f. von Ph. de Monte), Missa Caesar vive, (Prag 1613)

    David Köler (Colerus, Cholerus, Koler), 1532 Zwickau-1565 Zwickau, Sudium 1551 in Ingolstadt, 1554/55 Kantor in Schönfeld in Böhmen, heute Krásno nad Teplou. Hier entstand seine Sammlung von zehn Psalmen, die lediglich in einem Exemplar in der Ratsschulbibliothek Zwickau vollständig erhalten ist (Leipzig 1554), 1556/57 war er in St. Joachimsthal, heute Jáchymov, 1557 bis 1563 Kantor in Altenburg/Thüringen. Anschließend Hofkapellmeister bei Herzog Johann Albrecht I. von Mecklenburg-Schwerin. 1565 Stadtkantor in Zwickau.

    Johann Knöfel, ca.1525 - 1617, 1592 (da war er also schon ziemlich alt) bis zu seinem Tod Organist und Kantor in St. Heinrich in der Prager Neustadt. (den Rest spar ich mir, er war auch lange Jahre beim bayerischen Herzog angestellt). Mehrere größere Drucksammlungen mehrstimmiger Werke. Robert Eiter vermerkt in der "Allgemeinen Deutsche Biographie" 1882: "Die Neuzeit hat noch keine Notiz von ihm genommen".


    Und nicht zu vergessen:

    Jakob Regnart
    (Die Details, glaub ich, kann ich mir hier sparen). 1579-1582 Viezekapellmeister bei Rudolf II. in Prag (davor in Wien, danach bei Erzherzog Ferndinand II. in Innsbruck, wo er sich solche Verdienste um die Hofkapelle erwarb, daß er 1596 geadelt wurde. ab 1596 bis zu seinem Tod 1599 wieder als Vizekapellmeister in Prag.
    (zahlreiche Noten bei der Musikedition Tirol "http://www.musikland-tirol.at/html/html/musi…on/regnart.html", scorch-Plugin nötig. Aufführungsmaterial gegen Unkosten beim Institut für Tiroler Musikforschung der Universität Innsbruck)


    Also: Randrepertoire würde ich das gerade nicht mehr nennen wollen... ;+)

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Da ich gerade Renaissance-Polyphonie von der Peripherie Euorpas höre, mache ich mich auf die Suche, was dazu bei Capriccio so zu finden sei - und fand diesen Thread wieder ;+)


    :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Zufällig habe ich diese Woche eine Liste gemacht, was ich noch bei Capriccio abschließen möchte, und da steht auch dieser Thread drauf. Demnächst gibt's noch weitere Übersichten.


    jd :wink:

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    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Zufällig habe ich diese Woche eine Liste gemacht, was ich noch bei Capriccio abschließen möchte,


    ... ;( ... das klingt so bedeutungsschwanger ... "was ich noch bei Capriccio abschließen möchte" - bevor was ... ?

    Dann harre ich gespannt der Dinge, die da noch kommen mögen - in gespannter Vorfreude! [/Sülzmodus aus]


    :D Was bei dem einem voller Ernst ist oder zumindest als solcher prätendiert wird, ist beim anderen "Sülzmodus" ... :mlol:

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • ... ;( ... das klingt so bedeutungsschwanger ... "was ich noch bei Capriccio abschließen möchte" - bevor was ... ?


    Bevor gar nichts - ich habe halt ein paar Sachen schleifen lassen, und die will ich zu einem Abschluß bringen. Hier in diesem Thread ist die Anzahl der Länder recht übersichtlich... :D


    jd :wink:

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