Das Konzept der "diskontinuierlichen Zeit" (Albert Gier)
Klingt interessant - könntest Du den Begriff kurz erläutern?
Das Konzept der "diskontinuierlichen Zeit" (Albert Gier)
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Kurz gesagt geht es darum, dass die Zeit unterschiedlich schnell vergeht. Mal erstarrt sie, so dass die Protagonisten (wie etwa im Finale 1 von Italiana) nur noch toc toc und kra kra sind, mal rast sie in einem Rezitativ vorwärts, wobei ganze Jahrzehnte verhandelt werden können. Es handelt sich mithin um "gefühlte Zeit", oder zeitliches Erleben, dass nicht per Uhr gemessen werden kann. Aktion und Kontemplation sind aus der Willkür des Komponisten entstanden, nicht aus dem Aristotelischen Diktum.
Gier erklärt das schöner und hat treffende Beispiele, aber ich habe ihn nicht greifbar - immer noch das Problem mit den Umzugskartons...
Edit: Genauer spricht Gier von diskontinuierlichen Zeitverläufen.
Kurz gesagt geht es darum, dass die Zeit unterschiedlich schnell vergeht.
Typisch dafür ist ja die alte Nummernoper mit ihrem Wechsel von Rezitativ (= schnell vergehend) und Arie (Zeit wird eingefroren, bleibt stehen - drei Sekunden real vergehender Zeit werden in einer musikalischen Viertelstunde ausgedrückt). In den durchkomponierten Opern ist das nicht mehr so extrem, aber kommt dennoch vor (siehe Beispiele unten).
ZitatGier erklärt das schöner und hat treffende Beispiele, aber ich habe ihn nicht greifbar
Ich hab ihn zwar überhaupt nicht, aber mir fallen schon ein paar Beispiele ein:
Raffung z.B. bei Janácek, Vec Makropulos, 3. Akt: Emilia Marty, bislang im Negligé, verschwindet von der Bühne, um zu frühstücken und sich anzuziehen und kehrt betrunken (!) zurück. Währenddessen durchwühlen die anderen ihre Koffer und Sachen. Dauer der Abwesenheit: maximal eineinhalb Minuten (für Frühstück, Anziehen und Betrinken!) bei langsamem Dirigat. Oder: Tschaikowski, Eugen Onegin, Tatjana schreibt von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang unablässig den Brief an Onegin. Diese Nacht dauert etwa 14 Minuten. Selbst wenn man berücksichtigt, dass sie schon weit im Norden lebt, ist das nicht realistisch - aber es handelt sich eben um gefühlte Zeit.
Dehnung z.B. bei Janácek, Jenufa, 2. Akt: Monolog der Küsterin ("Co chvila"). Die Küsterin wird sich hier mit einem Schlag bewusst, was sie gesagt hat und was sie tun muss, aber bei Janácek dauert der Schlag vier Minuten. Oder: Wagner, Tristan: Brangäne-Rufe. Das ist nicht in Echtzeit so lang und so gedehnt, sondern Wagner bringt hier zum Ausdruck, in welcher Form die in Wirklichkeit zackigen Warnungen Brangänes dem Liebespaar ins Bewusstsein dringen.
Zitat von AreiosUnd dann sagst du, ist Carmen eine vollkommene Operngestalt; aber Don José und Micaela sind das nach deinen Kriterien ja wohl nicht; und reicht eine vollkommene Operngestalt, um aus einer Oper eine vollkommene Oper zu machen? Gerade Carmen halte ich für lockerer gefügt als die von mir oben besprochenen Opern - was ich nicht als Kritik an der Oper meine, die ich sehr gerne höre. Aber sie wäre nicht mein Paradebeispiel für eine in sich geschlossene Oper.
Lieber Don,
hier hast du mir leider nicht geantwortet, aber es würde mich doch interessieren: Bei Carmen tauchen ja alle diese Probleme auf, die für dich eine Oper unvollkommen machen: Handlungsablauf zwischen den Akten, Personen, die nur aus ihrer Vorgeschichte verständlich sind, erzählte Handlungen ("La fleur, que tu m'avais jetée") - warum würdest du sie dennoch als vollkommen ansehen?
Liebe Grüße,
Areios
Lieber Alberich,
ich sprach vom normativen Charakter der 'Aristotelischen Dreiheit' (oder besser: Zweiheit). Eine Forderung, die zumindest für viele Jahrhunderte Gültigkeit hatte und als eine Basis der Dramentheorie gilt und immer noch zumindest Diskussionsgrundlage wenn nicht Standpunkt einer Dramenästhetik sein kann, obwohl es im Laufe der Zeit natürlich [natürlich: ja, der Begriff ist hier stimmig] zur Emanzipation von dieser ggf. starren Norm kam.
Kürzere Zeitdehnungen, Zeitstockungen widersprechen nicht der aristotelischen Forderung nach einem Zeitablauf von ca. einem Tag.
Ob A. Giers Konzept der "diskontinuierlichen Zeitstruktur" nur für die Oper Gültigkeit haben muss oder die Gattung Oper allgemein dadurch eine Abgrenzung zum Schauspiel erfährt, bleibt dahingestellt. Das müsste ich selbst nachlesen. M. E. bezieht sich Gier auf die strophische Nummernoper.
Zitat: "...Aktion und Kontemplation sind aus der Willkür des Komponisten entstanden...". Dass Du den Begriff 'Kontemplation' gerade mit Willkür ggf. Freiheit des Komponisten-Geistes (?) in Verbindung bringst, finde ich beachtenswert. Das solltest Du näher erläutern.
Bis dann.
Meine Kriterien zur Vollkommenheit(Unverwüstlichkeit) der "herkömmlichen" Oper nach Barock bis 1950:
Alle musikalische Aktion einer idealen Oper ist wie aus "einem Ur-Stoff" gewirkt.
Themen(auch die im Textbuch), Melodien, Motive sowohl im Gesang als auch im Orchester - alles scheint bruchlos auseinander hervor zu gehen.
Musik und Gesang feiern dadurch -einander befeuernd- die Umarmung mit Musik beim Hörer.
In einer solchen Oper darf und soll sich vieles wiederholen; es ist jedoch kein Platz für
Verzierung, Textlast, Überbrückungsfloskeln(Wagner!), Verlegenheitsnoten oder sonstiges Beiwerk.
Nur das musikalische Material allein bestimmt das Geschehen.
Ich kenne nur 2 Opern, die das aus meiner Sicht a n n ä h e r n d erfüllen(Ich kenne natürlich nicht alle):
Die Zauberflöte
und
Die Verlobung im Kloster.
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