Beethoven: Die Klaviersonaten - Gesamteinspielungen

  • Findest Du nicht, dass es einen gewissen natürlichen Fluss z. B. in die gesangliche Dur-Passage gibt (die im Ausdruck eine Art Antithese zum Eingangsthema bildet, aber letztlich diesem dann doch verwandt ist)? Es ist eben nicht nur das Drama, das alles zusammenhält, sondern es sind auch Aspekte des Materials und vor allem der Form.

    Nun, auf den ersten Blick "fließt" dieses Seitenthema ganz entspannt und natürlich. Aber dieser Fluss wird nach sechs Takten plötzlich und ohne Vorankündigung unterbrochen, zum Stillstand gebracht. Was soll daran "natürlich" oder "stringent" sein? Und wenn man noch ein bisschen genauer hinsieht bzw. -hört, wird auch schon in diesen sechs Takten der "Fluss" durch die hemiolische Begleitung (die ihrerseits an die auf beide Hände verteilten synkopischen ff-Themenausbrüche zuvor Bezug nimmt) gestört - das wäre einer der von Dir genannten "Aspekte des Materials". Insofern: Nein, ich finde das nicht so eindeutig. Und zu den "Aspekten der Form" gehört es, das zweite Thema trotz dieser Instabilität als formbildendes Element zu gestalten. Barenboim macht das genauso wie wahrscheinlich 95 Prozent aller Pianisten vor allem dadurch, dass er im Tempo leicht zurückgeht. Allerdings lässt er es nicht dabei bewenden, sondern spielt z.B. den Aufwärts-Auftakt eine Spur gedehnter als in Abwärtsrichtung zu Beginn, so als sei es ganz leicht mühsamer, sich nach oben aufzuschwingen als nach unten fallenzulassen. Das ist "natürlich" - und übrigens anders als Du behauptest alles andere als leicht, wenn man es so scheinbar selbstverständlich und auch noch gleichzeitig mit allen anderen klanglichen, agogischen und melodischen Elementen gestalten will.

    Ich finde es nicht sonderlich schwierig, diesen Satz (wenn man ihn denn pianistisch beherrscht, was ich leider nicht tue) in seine Einzelteile zu zerlegen. Schwieriger ist es m. E., eben diese übergeordneten Zusammenhänge, das Stringente im vermeintlichen Chaos und die Angemessenheit der Proportionen zu verdeutlichen. Das höre ich aber bei Barenboim leider nicht.

    Ich befürchte, dass das falsch verstanden wird, aber ich schreibe es dennoch, weil es einfach stimmt: Wenn Du (genau wie ich oder irgendwer sonst) etwas "nicht hörst", beweist das nicht, dass es nicht existiert, sondern nur dass Du es eben nicht hörst. Ich schlage deshalb vor, auf dieses "Argument" zu verzichten. "Stringenz" ist so ziemlich das letzte, was mir zu diesem Satz einfiele, und zwar nicht, weil ich sie bei diesem oder jenem nicht höre, sondern weil ich spätestens vom vierten Takt an das Gegenteil in der Partitur sehe. "Chaos" übrigens genauso wenig (das gibt es bei Beethoven im Gegensatz z.B. zu Schubert sowieso praktisch nie). Was ich sehe ist eine Form, die so gerade noch den inneren Spannkräften, Kontrasten, Abbrüchen, Stillständen, Generalpausen, plötzlichen Wendungen usw. standhält, die aber ganz sicher nicht deren "natürliches" Abbild ist. Deshalb kann man das auch mit "natürlichem Fluss" oder "Stringenz" kaum angemessen darstellen.

  • Wenn Du (genau wie ich oder irgendwer sonst) etwas "nicht hörst", beweist das nicht, dass es nicht existiert, sondern nur dass Du es eben nicht hörst.


    Das ist korrekt. Andererseits höre ich aber z. B. Schwankungen im Tempo, die ich nicht schlüssig finde (und die für mich einer der Gründe sind, warum dieser Satz bei Barenboim kein stimmiges Ganzes ergibt). Das ist einer der Gründe, warum das Stück bei ihm ins Episodische zerfällt.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Was ich sehe ist eine Form, die so gerade noch den inneren Spannkräften, Kontrasten, Abbrüchen, Stillständen, Generalpausen, plötzlichen Wendungen usw. standhält, die aber ganz sicher nicht deren "natürliches" Abbild ist. Deshalb kann man das auch mit "natürlichem Fluss" oder "Stringenz" kaum angemessen darstellen.


    Na ja, es bleibt trotz aller Spannung und der Kontraste aber immer noch (zumindest weitgehend) ein Sonatensatz, und zwar einer, in dem es zwischen einzelnen Teilen durchaus Zusammenhänge oder Bezüge im Material gibt. Dieses Wechselspiel aus schroffen Kontrasten, verschiedenen Ideen und einer gewissen formalen Geschlossenheit (das meine ich mit "Stringenz") sollte sich m. E. in der Darbietung vermitteln. Die Geschlossenheit vermittelt sich z. B. dadurch, dass man dem Stück einen gewissen Spannungsbogen (das meine ich mit "Fluss") entnehmen kann. Dies fehlt mir bei Barenboim und seiner Hingabe an den Moment. Er baut zwar auseinander, setzt aber nicht zusammen.

    LG :wink:

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  • Das ist korrekt. Andererseits höre ich aber z. B. Schwankungen im Tempo, die ich nicht schlüssig finde (und die für mich einer der Gründe sind, warum dieser Satz bei Barenboim kein stimmiges Ganzes ergibt). Das ist einer der Gründe, warum das Stück bei ihm ins Episodische zerfällt.

    Ich nehme sowohl einen großen Spannungsbogen als auch Stimmigkeit der agogischen Gestaltung wahr. Das haben wir jetzt festgestellt, und nun? Ich befürchte, diese allgemeine Gefühls-Argumentation hilft nicht weiter.

    Na ja, es bleibt trotz aller Spannung und der Kontraste aber immer noch (zumindest weitgehend) ein Sonatensatz, und zwar einer, in dem es zwischen einzelnen Teilen durchaus Zusammenhänge oder Bezüge im Material gibt. Dieses Wechselspiel aus schroffen Kontrasten, verschiedenen Ideen und einer gewissen formalen Geschlossenheit (das meine ich mit "Stringenz") sollte sich m. E. in der Darbietung vermitteln. Die Geschlossenheit vermittelt sich z. B. dadurch, dass man dem Stück einen gewissen Spannungsbogen (das meine ich mit "Fluss") entnehmen kann. Dies fehlt mir bei Barenboim und seiner Hingabe an den Moment. Er baut zwar auseinander, setzt aber nicht zusammen.

    Du kannst nicht ernsthaft behaupten, man würde bei Barenboim die Sonatenform nicht mehr erkennen. Zusammenhänge gibt es - wenn man genau hinhört - bei ihm sogar mehr als bei den meisten anderen, sogar satzübergreifend: Er hebt z.B. die Wechselharmonien der linken Hand im 3. und 7. Takt ganz leicht als eigenständiges Element hervor und zeigt dadurch wie aus der Ferne auf das Thema das zweiten Satzes. Die besagte Punktierung im Finale ist bei ihm so deutlich hervorgehoben artikuliert, dass ein unmittelbarer Bezug zum Beginn des ersten Satzes hörbar ist usw.. Das alles (und es gibt natürlich zahllose weitere Beispiele) lässt sich mit "Hingabe an den Moment" wohl kaum angemessen beschreiben.

  • Ich befürchte, diese allgemeine Gefühls-Argumentation hilft nicht weiter.


    Ein Zerfall ins Episodenhafte und das Ausbleiben großer Bögen lässt sich nicht allzu einfach belegen. Hinweise darauf findet man aber bei Barenboim z. B. durch die recht deutlichen Schwankungen im Tempo (wie gesagt, mir war neu, dass dieser Satz eine langsame Einleitung hat) und das nicht volle Auskosten der dramatischen Höhepunkte.

    Du kannst nicht ernsthaft behaupten, man würde bei Barenboim die Sonatenform nicht mehr erkennen.


    Nein, so weit würde ich natürlich nicht gehen. (Sarkastisch könnte ich jetzt sagen, dass das Stück so gut komponiert ist, dass dieses Nicht-Erkennen selbst mit Barenboims Ansatz nicht gelingt. :D )

    Um mal etwas positiver zu werden: eigentlich finde ich ganz erfrischend, dass Barenboim nicht die x-te HIP-beeinflusste Einspielung vorlegt, die Beethoven als ungestümen Rebellen zeichnet, sondern zu einem etwas "mystischeren" Beethoven-Bild zurückfindet (mir fällt leider gerade kein besserer Ausdruck dafür ein). Ich finde nur, dass er diesen Ansatz in diesem speziellen Stück nicht allzu gelungen umsetzt.

    Welche Sonate findest Du in seiner neuen GA denn besonders beeindruckend? Dann höre ich dort mal rein, bevor wir hier vor lauter Appassionata noch einen f-moll-Koller bekommen (was Nr. 1 jetzt ausschließen würde, aber so wörtlich war es nicht gemeint :D )

    LG :wink:

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  • Welche Sonate findest Du in seiner neuen GA denn besonders beeindruckend?

    Da gibt es einige. Zum Beispiel op. 10 Nr. 3, op. 101, op. 109, trotz hörbarer manueller Grenzen auch op. 106 (großartig das Adagio), aber auch op. 14 Nr. 1 und 2. Im Grunde finde ich, dass man die herausragenden Stärken dieser Einspielung überall hören kann, und dass nur bei manchen Sätzen oder Stellen gewisse (wahrscheinlich einfach altersbedingte) manuelle Grenzen etwas mehr auffallen als bei anderen. Insgesamt ist das aber eine Darstellung, die wirklich einen neuen Blick auf diese hunderttausendfach gespielten Stücke wirft, ohne deshalb verkrampft nach dem "Noch-nie-Dagewesenen" zu schielen. Die Verbindung von emotionaler Hingabe, geistiger Durchdringung, beinahe kindlichem Staunen und dem Bemühen, dieses (vermutlich letzte) Mal wirklich über buchstäblich nichts hinwegzuspielen, führt zu einer radikal individuellen, aber ganz aus den Werken entwickelten Darstellung. Das ist für mich nicht nur eine grandiose künstlerische Leistung sondern auch sehr bewegend. Um es mal etwas altmodisch auszudrücken: Barenboim geht es nie, nicht in einem einzigen Takt, um Wirkung sondern immer um Wahrheit.

  • Zum Beispiel op. 10 Nr. 3, op. 101, op. 109, trotz hörbarer manueller Grenzen auch op. 106 (großartig das Adagio), aber auch op. 14 Nr. 1 und 2.


    Danke für die Tipps. Op. 10/3, op. 109 und op. 106 gehören zu meinen Lieblings-Sonaten, so gesehen sollte ich in die unbedingt mal reinhören. Ob mir op. 106 mit hörbaren manuellen Schwächen gefallen kann, weiß ich nicht - das ist nunmal ein pianistischer Klotz. Andererseits könnte ich mir vorstellen, dass Barenboim der langsame Satz liegen dürfte - man wird sehen bzw. hören.

    dieses (vermutlich letzte) Mal


    Da sollte man sich bei Barenboim nie zu sicher sein. :D

    [...] führt zu einer radikal individuellen, aber ganz aus den Werken entwickelten Darstellung. Das ist für mich nicht nur eine grandiose künstlerische Leistung sondern auch sehr bewegend.


    Auch wenn die Frage ketzerisch klingen mag: würdest Du das auch als bewegend empfinden, wenn es nicht den Nimbus eines Barenboim hätte, der sich damit wohl zum letzten Mal im großen Stil mit Beethovens Klavierwerk auseinandersetzt? Soll heißen: wenn es die GA eines eher unbekannten (und jüngeren) Pianisten wäre?

    Um es mal etwas altmodisch auszudrücken: Barenboim geht es nie, nicht in einem einzigen Takt, um Wirkung sondern immer um Wahrheit.


    Das ist jetzt aber in der Tat ziemlich altmodisch. ;) Was ist denn Wahrheit in der Musik? Und: gibt es die losgelöst von Wirkung?

    LG :wink:

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  • Auch wenn die Frage ketzerisch klingen mag: würdest Du das auch als bewegend empfinden, wenn es nicht den Nimbus eines Barenboim hätte, der sich damit wohl zum letzten Mal im großen Stil mit Beethovens Klavierwerk auseinandersetzt? Soll heißen: wenn es die GA eines eher unbekannten (und jüngeren) Pianisten wäre?

    Nein. Ich interessiere mich nicht für Musik sondern nur für große Namen.

  • Ich glaube nicht, dass Symbol das insunieren wollte.

    Aber hier kam jetzt mehrfach implizit der Hinweis bei Barenboim, dass man in der aktuellen Einspielung die ganzen Erfahrung und das lange Musikerleben auch mithören würde. So wird die Abgeklärtheit und Ruhe zum Teil erklärt.

    Jetzt stellt sich halt die berechtigte Frage, ob man die gleiche Interepretation von einem 25-jährigen Newcomer ähnlich bewerten würde? Wenn man keine 60 Jahre Interpretationserfahrung als Überbau geltend machen kann?

    Daraus ergibt sich die letztlich die übergeordnete Frage, wie bei der Bewertung solche außermusikalischen Dinge einfließen. Wenn man die Situation hat, dass eine Interpret das Werk zu früheren Zeiten zum Beispiel mit mehr Verve gespielt hat und jetzt aber das Werk z.b. viel ruhiger spielt. Der eine sagt: Toll, das ist eine Entwicklung aus früheren Interpretationen - der andere sagt: Das ist fad.

    Wenn ich F10 auf meinem Computer drücke, schweigt er. Wie passend...

  • Nein. Ich interessiere mich nicht für Musik sondern nur für große Namen.


    Du kannst davon ausgehen, dass ich Dir das nicht unterstellen wollte.

    Mir ging es (wie von Harnoncourt-Fan verstanden) darum, ob und bis zu welchem Grad hier eventuell die Erwartungshaltung das Hörerlebnis prägt - also das Wissen darum, wer hier in welchem Abschnitt seiner Karriere spielt. Wenn es nur um das klingende Resultat gehen würde, hätte man sich ja auch den Hinweis auf das lange Musikerleben, das hier eingeflossen sei, sparen können. Und "bewegend" ist auch eine etwas andere Kategorie als z. B. "überzeugend" oder "schlüssig".

    LG :wink:

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  • Wenn es nur um das klingende Resultat gehen würde, hätte man sich ja auch den Hinweis auf das lange Musikerleben, das hier eingeflossen sei, sparen können.

    Ich schrieb ausdrücklich vom klingenden Resultat ("Da hört man (höre ich) wirklich die Erfahrung eines ganzen, riesigen Musikerlebens.").

    Jetzt stellt sich halt die berechtigte Frage, ob man die gleiche Interepretation von einem 25-jährigen Newcomer ähnlich bewerten würde? Wenn man keine 60 Jahre Interpretationserfahrung als Überbau geltend machen kann?

    Man kann auch fragen, ob man den "Zauberberg" anders bewerten würde, wenn er von einem Achtjährigen verfasst worden wäre. Solche "berechtigten Fragen" mögen andere diskutieren, mich interessieren sie nicht.

  • Ich schrieb ausdrücklich vom klingenden Resultat ("Da hört man (höre ich) wirklich die Erfahrung eines ganzen, riesigen Musikerlebens.").


    Eben. Wüsste man auch (rein hörend), dass diese Aufnahme von einem Pianisten mit etwa 70-jähriger Konzerterfahrung stammt (der bereits mit 17 alle Beethoven-Sonaten beherrschte), wenn man nicht wüsste, dass die Aufnahme von Daniel Barenboim im Jahr 2020 gemacht worden ist?

    Ich möchte mit dieser Frage Deine Hörkompetenz keinesfalls entwerten oder bezweifeln, aber mich beschäftigt es schon, inwieweit wir (als Hörer) uns von solchem Wissen unabhängig machen können. Mir selbst geht es z. B. bei Abbados späten Aufnahmen so. Sicherlich sind seine Mahler- und Mozart-Aufnahmen aus Luzern von vorzüglicher Qualität, aber wären sie ebenso beeindruckend, wenn man nicht wüsste, dass sie von einem todkranken Musiker am Ende einer großen Karriere dirigiert worden sind? Würde die gleiche ergriffene Stille nach den Schlusstönen herrschen?

    Ich selbst kann diese Dinge kaum voneinander trennen, und mich hat einfach die Frage interessiert, ob Deine Wertschätzung von Barenboims Aufnahme vielleicht auch mit Deiner (nachvollziehbaren) allgemeinen Bewunderung dieses großen Musikers korreliert. Dass Du Dich nicht scheust, bei mäßigen musikalischen Leistungen großer Musiker diese auch offen (und gleichwohl respektvoll) anzusprechen, ist aus anderen Zusammenhängen hinlänglich bekannt.

    LG :wink:

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  • Man kann auch fragen, ob man den "Zauberberg" anders bewerten würde, wenn er von einem Achtjährigen verfasst worden wäre. Solche "berechtigten Fragen" mögen andere diskutieren, mich interessieren sie nicht.

    Bei allem Verständnis für die Polemik hinter diesem Vergleich, aber der Vergleich hinkt etwas, weil Thomas Mann den Zauberberg nicht vier Mal geschrieben hat und dabei die Sprache jedes Mal verändert hat. Aber gerade in der Literatur gibt es ja vielfach Gesamtbetrachtungen von Werken, die dann in die Beurteilung von Spätwerken einfließen bzw. zu deren Verständnis sogar entscheidend beitragen.
    Der späte Thomas Bernhard wird sicherlich anders bewertet, weil man auch den frühen Thomas Bernhard kennt.

    Vielleicht ist man in der Interpretationsrezeption in der klassischen Musik diesbezüglich wirklich weniger sensibilisiert, weshalb dann eine Aufnahme wie die besagte Barenboim-Aufnahme so heraussticht, weil sie gerade durch die doch sehr unterschiedliche Beurteilung zum Nachdenken anregt.

    Wenn ich F10 auf meinem Computer drücke, schweigt er. Wie passend...

  • Ich selbst kann diese Dinge kaum voneinander trennen, und mich hat einfach die Frage interessiert, ob Deine Wertschätzung von Barenboims Aufnahme vielleicht auch mit Deiner (nachvollziehbaren) allgemeinen Bewunderung dieses großen Musikers korreliert. Dass Du Dich nicht scheust, bei mäßigen musikalischen Leistungen großer Musiker diese auch offen (und gleichwohl respektvoll) anzusprechen, ist aus anderen Zusammenhängen hinlänglich bekannt.

    Eben, mit letzterem ist doch die Frage, soweit sie mich betrifft, eigentlich beantwortet. Ich finde Krystian Zimermans Neuaufnahme des ersten Beethoven-Konzerts gemessen an dem, was er früher geleistet hat, weitgehend misslungen und fand seine Live-Darbietung desselben Stücks inakzeptabel. Ich fand, dass Radu Lupu beim letzten Konzert, welches ich von ihm live gehört habe, nur noch ein Schatten seiner selbst war, und bin deshalb (soweit ich mich erinnere zum ersten und bisher einzigen Mal überhaupt bei einem Konzert) in der Pause gegangen, weil ich es voyeuristisch und gleichzeitig sehr traurig fand, ihm dabei zuzuhören. Beide gehörten für mich jahrzehntelang zu der Handvoll Pianisten, die ich fast ohne Einschränkung bewundert habe, beide haben etliche Aufnahmen gemacht, die ich in ihrer Art für unübertrefflich, für vollkommen halte. Meine "allgemeine Bewunderung" hat hier also nicht zur "Wertschätzung" ihrer späteren Aufnahmen bzw. Konzerte geführt, warum sollte das also bei Barenboim anders sein? Wenn ich trotzdem dem 78-Jährigen z.B. die ein oder andere manuelle Schwäche nachsehe, dann tue ich das nicht aufgrund seines Alters sondern wegen der hörbaren geistigen Durchdringung und emotionalen Tiefe und der dadurch erst möglichen, ungeheuren Freiheit seines Spiels, zu der so einfach kein 25-Jähriger fähig sein kann (jedenfalls kenne ich keinen), die aber auch nur ganz wenigen 78-Jährigen Musikern möglich ist. Das ist meinerseits nicht einfach nur ein "Gefühl", schon gar keine Verklärung, sondern es hat konkret benennbare Gründe. Hier müssen die paar genannten Beispiele reichen (eine weitere Empfehlung wäre übrigens auch op. 27 Nr. 1). Ich habe auch nicht den Ehrgeiz, Dich oder andere von irgendetwas zu überzeugen. Deshalb auch eher als Anekdote: Neulich habe ich aus dieser Einspielung op. 10 Nr. 3 und das Adagio aus op. 106 zusammen mit einer jungen Kollegin gehört, die selbst auf ihrem Instrument die Perfektion in Person ist, und wir haben beim Hören an zahllosen Stellen quasi gleichzeitig dieselben Besonderheiten, Feinheiten und Schönheiten wahrgenommen und bewundert.

  • Ich habe auch nicht den Ehrgeiz, Dich oder andere von irgendetwas zu überzeugen.


    Ich umgekehrt auch nicht. Ich habe mich aufgrund meines ersten Höreindrucks lediglich über die Lobeshmynen über diese Neuaufnahme gewundert, die hier zu vernehmen waren. Ich möchte für meinen Teil jedenfalls nicht ausschließen, dass meine Erwartungen an Barenboim einfach sehr hoch (zu hoch?) gewesen sind. Ich habe ihn vor vielen Jahren mal mit den drei letzten Beethoven-Sonaten live gehört und habe auch einen Großteil seiner Meisterklassen zu diversen Beethoven-Sonaten (auf youtube zu finden) gesehen. Insbesondere bei den Meisterklassen habe ich den Eindruck eines Musikers gewonnen, der diese Stücke einerseits genauestens kennt, andererseits aber immer auch vom musikalischen Detail auf das Große und Ganze kommt - so z. B. bei seiner Meisterklasse ausgerechnet zur Appassionata mit einem inzwischen sehr bekannten Pianisten aus Fernost.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Aus teilweise älteren Beiträgen zur Gesamteinspielung der Sonaten mit Jean-Efflam Bavouzet:

    Ich höre Bavouzet generell sehr gerne, vor allem eben auch mit Debussy und Ravel. Sein Beethoven ist frisch und modern, klar strukturiert, warm und transparent dargeboten. Technisch teilweise atemberaubend, immer auf jeden Fall stilvoll und elegant. IMO sehr hörenswert. Gleichwohl allerdings keine spektakulären oder besonders eigenwilligen Interpretationen, falls man so etwas vorzieht. Bavouzet ist aber definitiv kein Langweiler, seine Aufnahmen sind sehr interessant und in sich schlüssig. Mir gefallen sie.

    Danke, liebe Cosima, damit kann ich etwas anfangen ("frisch", "klar strukturiert" klingt gut, wobei ich "stilvoll und elegant" etwas skeptisch aufnehme: ob das bei Beethoven so gut paßt? :/ ). Möglicherweise liegen zwischen Bavouzet und Pollini (dessen Beethoven-Einspielungen ich mittlerweile sehr schätze!) keine Welten, was die Auffassung betrifft.

    Vielleicht bringt Chandos irgendwann die Bavouzet-Aufnahmen in einer günstigen Box mit allen 9 CDs heraus, jedenfalls werde ich das beobachten...


    Danke, liebe Cosima, damit kann ich etwas anfangen ("frisch", "klar strukturiert" klingt gut, wobei ich "stilvoll und elegant" etwas skeptisch aufnehme: ob das bei Beethoven so gut paßt? :/ ). Möglicherweise liegen zwischen Bavouzet und Pollini (dessen Beethoven-Einspielungen ich mittlerweile sehr schätze!) keine Welten, was die Auffassung betrifft.

    Vielleicht bringt Chandos irgendwann die Bavouzet-Aufnahmen in einer günstigen Box mit allen 9 CDs heraus, jedenfalls werde ich das beobachten...

    Oh, vielleicht hätte ich besser "kultiviert" schreiben sollen (statt stilvoll und elegant). Das ist kein ungezügelter, roher und wilder Beethoven - Bavouzet bringt einen Hauch "französisches Parfum" (Zitat aus einem Nachbarforum) in den Beethoven. Ich empfinde Bavouzet aber als direkter und expressiver als Pollini (dessen Beethoven ich aber auch liebe).

    :)

    ein kleiner Kommentar zu einigen der zuletzt genannten Namen:
    - Bavouzet: jedenfalls sehr gut. Alle Wiederholungen, sehr guter Klang. Manches ist mir etwas zu zurückhaltend; außerdem reagiere ich sehr empfindlich auf die derzeitige Modeerscheinung, Kunstpausen zwischen den Phrasen zu machen. Da wo Bavouzet das nicht tut, etwa im langsamen Satz der Hammerklaviersonate, finde ich sein Spiel wunderbar (ha, endlich ist es mir mal gelungen, eine Kritik positiv aussehen zu lassen...).

    [...]

    Hier nun meine ersten Eindrücke, da ich die Aufnahmen gerade erst kennenlerne und in den letzten Tagen fast alle gehört habe (auf Beispiele verzichte ich, da ich das nach einmaligem Hören noch nicht beurteilen mag):

    Erstklassige Aufnahmetechnik, räumlich, plastisch, man hört geradezu alles, scheint mir, auch die leiseren Nebenstimmen, alles mit weiter Dynamik. Bavouzet zeigt sich als großer Virtuose, ohne daß er sein Virtuosentum zur Schau stellt, d. h., nirgends habe ich den Eindruck, daß er sich selbst in den Vordergrund spielt. Man könnte sein Spiel auch "impressionistisch" nennen, in dem Sinn, daß er, gänzlich uneitel, mich als Hörer gleichsam an seine Seite stellt, damit wir beide gemeinsam die großartigen Sonaten aufnehmen, im Unterschied zu einer "expressionistischen" Haltung, in der ich den Eindruck hätte, der Künstler wolle sich selbst und seine Gefühle mir darstellen. Bavouzet ist ja auch ein großer Debussy-Kenner, doch sein Beethoven klingt nicht nach Debussy (da war ich vor dem Kennenlernen etwas skeptisch gewesen). Sein Spiel wirkt auf mich bis ins Letzte durchdacht und fein ausgehört; was er klanglich dabei erreicht, finde ich grandios. Ein bißchen Klischee, da der Pianist Franzose ist: Ich höre da durchaus "clarté" und "esprit". Klarheit und Geist, das trifft es hier m. E. gut.

    Ein Zitat aus dem Booklet, der Künstler selbst:

    Zitat von Jean-Efflam Bavouzet

    Die uns gegenwärtig zur Verfügung stehende historisch gewachsene Diskographie ist so reichhaltig und vielseitig wie nur irgend möglich. Und somit gibt es unter den großen Beethoven-Interpreten der Vergangenheit einige Meister, deren Darbietungen uns ungeachtet ihres Alters auch heute noch unmittelbar ansprechen, während andere heute weniger relevant erscheinen. Die Aufnahmen von Schnabel und Gulda zum Beispiel waren mir trotz ihrer Verschiedenheit beide eine stete Quelle tiefer Inspiration.

    Über Schnabel kann ich nichts sagen, weil ich dessen Beethoven-Aufnahmen nicht kenne. Dagegen schätze ich seit langem die Aufnahmen Guldas sehr (die 1967 bei Amadeo entstandene Gesamteinspielung). Und ich meine, bei Bavouzet kann man gut heraushören, daß Gulda von ferne winkt, vor allem dann, wenn Beethovens knorriger Humor aufscheint.

       

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

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