Findest Du nicht, dass es einen gewissen natürlichen Fluss z. B. in die gesangliche Dur-Passage gibt (die im Ausdruck eine Art Antithese zum Eingangsthema bildet, aber letztlich diesem dann doch verwandt ist)? Es ist eben nicht nur das Drama, das alles zusammenhält, sondern es sind auch Aspekte des Materials und vor allem der Form.
Nun, auf den ersten Blick "fließt" dieses Seitenthema ganz entspannt und natürlich. Aber dieser Fluss wird nach sechs Takten plötzlich und ohne Vorankündigung unterbrochen, zum Stillstand gebracht. Was soll daran "natürlich" oder "stringent" sein? Und wenn man noch ein bisschen genauer hinsieht bzw. -hört, wird auch schon in diesen sechs Takten der "Fluss" durch die hemiolische Begleitung (die ihrerseits an die auf beide Hände verteilten synkopischen ff-Themenausbrüche zuvor Bezug nimmt) gestört - das wäre einer der von Dir genannten "Aspekte des Materials". Insofern: Nein, ich finde das nicht so eindeutig. Und zu den "Aspekten der Form" gehört es, das zweite Thema trotz dieser Instabilität als formbildendes Element zu gestalten. Barenboim macht das genauso wie wahrscheinlich 95 Prozent aller Pianisten vor allem dadurch, dass er im Tempo leicht zurückgeht. Allerdings lässt er es nicht dabei bewenden, sondern spielt z.B. den Aufwärts-Auftakt eine Spur gedehnter als in Abwärtsrichtung zu Beginn, so als sei es ganz leicht mühsamer, sich nach oben aufzuschwingen als nach unten fallenzulassen. Das ist "natürlich" - und übrigens anders als Du behauptest alles andere als leicht, wenn man es so scheinbar selbstverständlich und auch noch gleichzeitig mit allen anderen klanglichen, agogischen und melodischen Elementen gestalten will.
Ich finde es nicht sonderlich schwierig, diesen Satz (wenn man ihn denn pianistisch beherrscht, was ich leider nicht tue) in seine Einzelteile zu zerlegen. Schwieriger ist es m. E., eben diese übergeordneten Zusammenhänge, das Stringente im vermeintlichen Chaos und die Angemessenheit der Proportionen zu verdeutlichen. Das höre ich aber bei Barenboim leider nicht.
Ich befürchte, dass das falsch verstanden wird, aber ich schreibe es dennoch, weil es einfach stimmt: Wenn Du (genau wie ich oder irgendwer sonst) etwas "nicht hörst", beweist das nicht, dass es nicht existiert, sondern nur dass Du es eben nicht hörst. Ich schlage deshalb vor, auf dieses "Argument" zu verzichten. "Stringenz" ist so ziemlich das letzte, was mir zu diesem Satz einfiele, und zwar nicht, weil ich sie bei diesem oder jenem nicht höre, sondern weil ich spätestens vom vierten Takt an das Gegenteil in der Partitur sehe. "Chaos" übrigens genauso wenig (das gibt es bei Beethoven im Gegensatz z.B. zu Schubert sowieso praktisch nie). Was ich sehe ist eine Form, die so gerade noch den inneren Spannkräften, Kontrasten, Abbrüchen, Stillständen, Generalpausen, plötzlichen Wendungen usw. standhält, die aber ganz sicher nicht deren "natürliches" Abbild ist. Deshalb kann man das auch mit "natürlichem Fluss" oder "Stringenz" kaum angemessen darstellen.