BEETHOVEN: Fidelio – Oper als Freiheitsapotheose

  • die der von Pizarro verkörperte Staatsräson

    In dem Zusammenhang finde ich es interessant, nach dem Verhältnis zwischen Pizarro und dem Minister zu fragen: Beide verkörpern ja als Amtsträger den Staat, stehen in der Handlung aber auf zwei entgegengesetzten Seiten. Wir erfahren sehr deutlich, dass der Minister Florestan kennt und seine politischen Anliegen teilt ("Der Edle, der für Wahrheit stritt"), das heißt gleichzeitig auch, dass er ein politischer Gegner Pizarros ist. Den Hintergrund der "Fidelio"-Handlung bilden politische Machtkämpfe und Umbrüche. Aber wer ist nun eigentlich an der Macht - wenn es die Partei ist, für die Don Fernando steht (und er ist ja schließlich Minister), warum hat sich Don Pizarro dann noch als Gouverneur halten können? Florestan ist ja offenbar (nach dem Umsturz) auch bereits gesucht worden, Pizarro will ihn aus Angst vor Entdeckung töten.

    Und was machen wir dann damit, dass der Minister rhetorisch nicht sich selbst mit seinen Anliegen als Entscheider inszeniert, sondern Gott: "Gerecht, O Gott, ist dein Gericht"? Der Chor wiederholt das und ergänzt noch "Du prüfest, du verlässt uns nicht"! Das ist keine moderne Rhetorik, sondern eine, die vom Mittelalter bis zum Ancien régime in der Legitimation von Herrschaft immer präsent war: Gott weiß als einziger, was richtig und falsch ist, in seinem Namen Recht zu weisen ist also die Aufgabe herrscherlichen Handelns.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • In dem Zusammenhang finde ich es interessant, nach dem Verhältnis zwischen Pizarro und dem Minister zu fragen

    der Minister ist sicher ein problematischer Punkt für die "politische" Interpretation. ich würde mal so sagen - er verkörpert die Utopie, die Idee, auf die Leonore und Florestan hoffen, und die Rettung wider alle Wahrscheinlichkeit bringt. Pizarro hingegen ist die konkret vorhandene Staatsgewalt.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • ich würde mal so sagen - er verkörpert die Utopie, die Idee, auf die Leonore und Florestan hoffen

    Na ja, aber er tritt im Stück ja schon als reale, handelnde Figur auf. Da lebt der klassische "Deus ex machina", den das barocke Drama schon kannte, natürlich fort, trotzdem müssen wir ihn als Teil der Handlung akzeptieren und einbinden. Die Befreiung gelingt, weil Pizarro zwar die konkret vorhandene Gewalt (Bedrohung, meinetwegen aber auch Staatsgewalt) darstellt. Auch er hat aber noch Instanzen über sich. Den Minister und Gott. Und diese Instanzen sind auf Florestans und Leonores Seite.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Na ja, aber er tritt im Stück ja schon als reale, handelnde Figur auf. Da lebt der klassische "Deus ex machina", den das barocke Drama schon kannte, natürlich fort, trotzdem müssen wir ihn als Teil der Handlung akzeptieren und einbinden

    richtig, aber das müssen wir bem "Deus ex machina" schließlich auch?

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • richtig, aber das müssen wir bem "Deus ex machina" schließlich auch?

    Ja, ganz klar! Deshalb würde ich mich auch da dagegen wehren, ihn als bloße Idee oder Utopie anzusehen.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • der Minister ist sicher ein problematischer Punkt für die "politische" Interpretation. ich würde mal so sagen - er verkörpert die Utopie, die Idee, auf die Leonore und Florestan hoffen, und die Rettung wider alle Wahrscheinlichkeit bringt. Pizarro hingegen ist die konkret vorhandene Staatsgewalt.

    Das sehe ich etwas anders. Pizarro steht für den Missbrauch der Staatsgewalt, der Minister für den gerechten Gebrauch. Die Utopie, für die der FIDELIO eintritt, ist ein Staat, in dem kein Machtmissbrauch mehr möglich ist, in dem Gerechtigkeit herrscht.

    VG, stiffelio

  • Deshalb würde ich mich auch da dagegen wehren, ihn als bloße Idee oder Utopie anzusehen.

    im Stück ist der Minister "real", deshalb nicht unbedingt in der Interpretation.

    Die Utopie, für die der FIDELIO eintritt, ist ein Staat, in dem kein Machtmissbrauch mehr möglich ist, in dem Gerechtigkeit herrscht

    eben, das ist die Utopie, also nicht "Wirklichkeit".

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Das erstrebte "Idyll" hat per se potentiell politische Sprengkraft, da muß nicht noch etwas dazu kommen. Vgl. z.B. an prominenter Stelle das "Pursuit of Happiness" in der amerikan. Unabhängigkeitserklärung, in der das Streben nach Glück als Recht des Einzelnen, nicht als staatl. Norm formuliert ist. Dieses Recht garantiert keineswegs Ruhe, sondern der Staat muß so eingerichtet werden, daß er diesem Recht dient.

    In der Zwischenzeit hat sich die Diskussion ja in eine andere Richtung entwickelt. Trotzdem noch einmal zu diesem Punkt. Ein 'Idyll', gar ein 'häusliches Idyll' ist durchaus etwas anderes als das 'Pursuit of Happiness', was ja die Vielfältigkeit der Lebensentwürfe offen lässt und sie gleichberechtigt behandelt. Diese Vielfältigkeit muss der Staat akzeptieren und sie garantieren, auch wenn ihm der einzelne Lebensentwurf nicht passen sollte. Gegen das 'häusliche Idyll' wird wohl selten ein Staat etwas haben.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Er sagt, dass Florestan ihn vernichten wollte. Und er bezeichnet ihn als Mörder.

    Übrigens wundere ich mich ein wenig: Wäre Florestan Pizarro nicht gefährlich geworden, hätte der doch keinen Grund gehabt, sich an ihm zu rächen. Da er das aber offensichtlich tun will, muss es, wenn es dieser nicht ist, einen anderen Grund geben. Der wird aber nicht genannt. Wenn es ihn trotzdem gibt, erhebt sich die Frage. welcher das ist und woher man von ihm weiß.

  • Er sagt, dass Florestan ihn vernichten wollte. Und er bezeichnet ihn als Mörder.

    Meinst Du das Quartett im 2. Aufzug? Da unterstellt Pizarro Florestan, daß dieser ihn, Pizarro, habe stürzen wollen. Florestan darauf: "Ein Mörder steht vor mir!" Damit meint er offensichtlich Pizarro, es wäre also umgekehrt als von Dir gesagt. Oder beziehst Du Dich auf eine andere Stelle?

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Wäre Florestan Pizarro nicht gefährlich geworden, hätte der doch keinen Grund gehabt, sich an ihm zu rächen. Da er das aber offensichtlich tun will, muss es, wenn es dieser nicht ist, einen anderen Grund geben. Der wird aber nicht genannt. Wenn es ihn trotzdem gibt, erhebt sich die Frage. welcher das ist und woher man von ihm weiß.

    Tut mir leid, langsam verstehe ich überhaupt nicht mehr, was du meinst. Aus dem gesamten Libretto geht doch sehr klar hervor, dass Pizarro als Governeuer verbrecherisch handelt, u.a. indem er Kritiker heimlich einkerkert. Natürlich ist Florestan Pizarro gefährlich geworden, denn Florestan wollte diesen Machtmissbrauch beim Minister anzeigen. Ich finde es aber sehr merkwürdig zu behaupten, man hätte einem Verbrecher "übel mitgespielt" wenn man seine Verbrechen zu Recht anzeigen wollte.

    Gurnemanz: ich vermute, Argonaut bezieht sich auf die Zeile in Pizarros Arie: "Nun ist es mir geworden, den Mörder selbst zu morden". Pizarro meint hier m.E. den Rufmord, als den er Florestans beabsichtigte Anzeige empfindet.

  • Nein, das geht aus dem LIbretto nicht hervor. Aus dem Libretto geht lediglich hervor, dass er in genau einem Gefangenen Menschen widerrechtlich festhält: Einen Aristokraten, der ihm übel mitspielen wollte. Was für Machenschaften dieser aufdecken wollte, erfahren wir nicht, weil Leonore ihn genau an der Stelle unterbricht, wo er das aufzählen will. Dass es das widerrechtliche Festhalten von Menschen in seinem Gefängnis ist, kann man mutmaßen, dafür gibt es aber keine Grundlage. In dem Brief steht zwar, der Minister habe erfahren, dass es mehrere Opfer willkürlicher Gewalt in dem von Pizarro verwalteten Gefängnis gibt, aber das beweist genau das Gegenteil. Denn das kann es nicht sein, was Florestan ausgeplaudert hat, sonst hätte es der Minister schon gewusst, und Pizarro reagiert auf das Wort »mehrere« gar nicht. Ein Problem ist offensichtlich nur der eine. Sollte es wirklich weitere Unregelmäßigkeiten geben (was wir nicht wissen können), ist er jedenfalls der Meinung, dass er damit leicht zurande kommt.

    Gurnemanz: Pizarro bezeichnet sich als Rächer. Darauf reagiert Florestan, indem er ihm die immerhin würdevolle Bezeichnung des Rächers, der sich ein gewisses Recht auf sein Handeln zuschreiben kann, durch die als Mörder, als als Verbrecher ersetzt. Das heißt nicht, dass Florestan nichts gegen Pizarro unternommen hatr.

    Ich frage noch einmal: Warum sagt Pizarro das? Und warum hat er Florestan eingesperrt, wenn der gar nichts gegen ihn unternommen hat?

  • Wäre Florestan Pizarro nicht gefährlich geworden, hätte der doch keinen Grund gehabt, sich an ihm zu rächen

    Einen Aristokraten, der ihm übel mitspielen wollte.

    unter "jmd. übel mitspielen" versteht man normalerweise etwas wie "zu Unrecht Schaden zufügen" (wobei "zu Unrecht" nicht nur juristisch zu verstehen sein muß). Polizei, Staatsanwalt und Richter, die einem Verbrecher "Schaden zufügen" oder "gefährlich werden", indem sie ihn hinter Gitter bringen oder dies versuchen, spielen diesem nicht "übel mit", das sagt man nicht so.

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    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • Danke für Eure Antworten: Ja, auch Pizarro bezeichnet Florestan als Mörder, in seiner Arie im 1. Aufzug. Kurz zuvor erhält er die Nachricht, daß "der Minister in Erfahrung gebracht hat, daß die Staatsgefängnisse, denen Sie [Pizarro] vorstehen, mehrere Opfer willkürlicher Gewalt enthalten". Er, Pizarro, solle versuchen, "sich sicherzustellen", da der Minister Pizarro "mit einer Untersuchung überraschen" will. Diese Nachricht versetzt Pizarro in helle Aufregung, und er beschließt, Florestan zu ermorden (Rocco weigert sich bekanntlich, das für ihn zu übernehmen). Auch Rocco selbst und Leonore gedenkt er sich "noch heute beide vom Halse [zu] schaffen, damit alles verborgen bleibt" (unmittelbar vor dem Quartett im 2. Aufzug).

    Die Rollen sind also klar verteilt: Pizarro als der Verbrecher, der am Ende seiner gerechten Strafe zugeführt wird, und Florestan, der "Edle, der für Wahrheit stritt" (Fernando im Finale des 2. Aufzugs).

    Ich nehme an, das alles, was ch hier zusammengefaßt habe, ist nicht strittig.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • unter "jmd. übel mitspielen" versteht man normalerweise etwas wie "zu Unrecht Schaden zufügen" (wobei "zu Unrecht" nicht nur juristisch zu verstehen sein muß).

    Zum einen verstehe ich das nicht so, zum anderen kann es Pizarro wirklich so sehen. Aber wenn es um subtile Feinheiten der Formulierung geht, kann jeder einsetzen, was ihm beliebt. Was gemeint ist, ist ja klar.

    Übrigens finde ich es etwas kurios, dass aus einer solchen durchaus zweifelhaften Subtilität der Schluss gezogen wird, ich nähme an, dass Pizarro mit seinem Handeln im Recht sei. Ich finde immer, dass es zu einem sinnvollen Gespräch gehört, dass man den andereen wenigstens so weit respektiert, dass man davon ausgeht, dass er nicht blöd ist.

  • Ich frage noch einmal: Warum sagt Pizarro das? Und warum hat er Florestan eingesperrt, wenn der gar nichts gegen ihn unternommen hat?

    Pizarro hat Florestan eingesperrt, weil der etwas gegen ihn unternehmen WOLLTE und Pizarro vorher von dieser Absicht erfahren hat und der Durchführung durch das heimliche Einsperren zuvorgekommen ist. Genau dieses Einsperren und dann die Mordabsicht war Pizarros Rache ("ihn, der so oft meine Rache reizte, der mich vor dem Minister enthüllen und mir seine Gunst entreißen wollte.")

    Ich nehme an, das alles, was ch hier zusammengefaßt habe, ist nicht strittig.

    Schön wäre es, aber dann verstehe ich Argonauts Einwände noch weniger.
    VG, stiffeio

  • Ich finde immer, dass es zu einem sinnvollen Gespräch gehört, dass man den andereen wenigstens so weit respektiert, dass man davon ausgeht, dass er nicht blöd ist.

    :megalol:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Ja, das sind so Nuancen. Er wollte es, ist aber noch nicht dazu gekommen. Was ändert das? Richtig: Gar nichts. Pizarro immerhin nimmt die Ansicht offensichtlich als Tat, wie man aus seinen Worten entnehmen kann.

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