BEETHOVEN: Fidelio – Oper als Freiheitsapotheose

  • Schön wäre es, aber dann verstehe ich Argonauts Einwände noch weniger.

    Ich habe nichts eingewandt. Vielmehr wurde mir erklärt, dass meine Bemerkung, aus der ohne jede Grundlage geschlussfolgert wurde, ich zweifelte an, dass Pizarro unrechtmäßig handelt. unzutreffend sei. Sie ist es aber natürlich nicht. Das ist alles.

  • Na, dann ist das ja jetzt geklärt. Großes Missverständnis wegen sprachlicher Nuancen und zweifelhafter Subtilitäten. Kann offenbar selbst unter Diskutanten vorkommen, die sich gegenseitig respektieren und nicht für blöd halten. Damit wäre das jetzt auch alles von meiner Seite.

    VG, stiffelio

  • Es bleibt dabei, dass man nicht wissen kann, was Florestan getan hat. Er selbst sagt, dass er die Wahrheit gesagt hat und deshalb nun in Ketten liegt. Das deutet darauf hin, dass es nicht nur ein Plan war, den Pizarro verhindert hat. Was er eigentlich gesagt hat, wissen wir aber nicht. Wie wir auch nicht wissen, ob die Information, die der Minister erhalten hat, den Tatsachen entsprechen, ob also wirklich mehrere Opfer willkürlicher Gewalt im Gefängnis sind, Die Tatsache, dass die Pizarro nichts unternimmt, um auch die anderen zu verstecken, kann darauf hindeuten, dass es sie gar nicht gibt, es kann aber auch bedeuten, dass er, wenn sie gefunden werden, keine besonders starke Strafe zu erwarten hat. Es ist also klar, dass unsere Informationen über den Hintergrund der Geschichte äußerst lückenhaft sind. Und es ist klar, dass aus diesen bruchstückhaften Informationen zur Vorgeschichte und der Handlung selbst nichts hervorgeht, dass Leonore und Florestan sich im geringsten für die wirtschaftliche und politische Lage Jaquinos und Marzellines und ihrer Standesgenossen interessieren. Man kann sich das vorstellen, man kann es hineinlegen, weil man es gern möchte, dass es so ist, man kann es aber aus dem Stück nicht begründen. Was man aus dem entnehmen kann, ist, dass es sich um einen Kampf zwischen zwei Aristokraten handelt, deren einer seine politische Position ausnutzt, um seinen Feind zu vernichten. Mehr nicht.

  • Was man aus dem entnehmen kann, ist, dass es sich um einen Kampf zwischen zwei Aristokraten handelt, deren einer seine politische Position ausnutzt, um seinen Feind zu vernichten. Mehr nicht.

    Ich weiss nicht..... überzeugt bin ich nicht von Deiner etwas reduzierten Auffassung.
    Ich finde die Zeilen vom Ende der Oper wichtig. Es kommt mir aber so vor, als würdest Du sie nicht beachten. Wie passt denn zB das sklavische Niederknien des Volkes in Deine Version?


    VOLK
    Heil, Heil, heil sei dem Tag,
    Heil sei der Stunde,
    die lang ersehnt, doch unvermeint,
    Gerechtigkeit mit Huld im Bunde
    vor unsres Grabes Tor erscheint!

    FERNANDO
    Des besten Königs Wink
    und Wille führt mich zu euch,
    ihr Armen her,
    daß ich der Frevel
    Nacht enthülle,
    die all umfangen schwarz
    und schwer.
    Nicht, nicht länger
    kniet sklavisch nieder,
    Tyrannenstrenge sei mir fern.
    Es sucht der
    Bruder seine Brüder,
    und kann er hellen,
    Und kann er helfen
    hilft er gern.„

  • Ich weiß nicht, was diese (mir übrigens bekannten) Verse in diesem Zusammenhang für Neuigkeiten bringen sollen. Wir wissen bereits alles, was der Minister da sagt: Es gibt die Vermutung, dass einige der Gefangenen im Gefängnis, für das Pizarro verantwortlich ist, zu Unrecht inhaftiert sind. Der Minister ist gekommen, um die Fälle zu prüfen und ggf. zu revidieren. Er ist nicht gekommen, alle Gefangenen zu befreien, wer zu Recht im Gefängnis ist, wird auch da bleiben. Eine solche Revision muss Pizarro offensichtlich nicht fürchten. Justizirrtümer kommen vor, und es ist eben mal wieder Zeit, dass geprüft wird, ob so etwas vorliegt, damit denen, die zu Unrecht inhaftiert sind, Gerechtigkeit widerfährt. Problematisch ist lediglich die Tatsache, dass Florestan im Keller ist, denn da hat Pizarro offensichtlich eigenmächtig gehandelt. Wäre das bei anderen auch der Fall, müsste er auch die verschwinden lassen, davon ist aber nicht die Rede, was bedeutet, dass es nicht der Fall ist.

    Wie ergibt sich nun daraus, dass Florestan und Leonore für das Glück Marzellines und Jaquinos kämpfen? Ja, dass sie sich für deren Glück überhaupt interessieren? Ich will nicht abstreiten, dass das so ist. Vielleicht bin ich ja geblendet und sehe die Stelle nicht. Darum wäre ich sehr dankbar, wenn sie mir jemand zeigen würde. Die Verse des Ministers sind es nicht. Und sowohl der Schluss-Chor als auch Leonores eigene Aussage über den Antrieb ihres Handelns sagen nichts dergleichen. Wo also steht das?

  • Wie ergibt sich nun daraus, dass Florestan und Leonore für das Glück Marzellines und Jaquinos kämpfen? Ja, dass sie sich für deren Glück überhaupt interessieren?

    aber das wurde doch nun hinreichend erklärt. Es ist richtig, daß die konkreten Interessen von J., M. und L.+F. sogar kollidieren. Dennoch kann man sagen, daß L.+F. für J. und M. kämpfen, insofern als der Kampf von L+F. kein privater, sondern ein politischer, gegen ein Regime gerichtet, dessen Unrechtscharakter vielleicht nicht klar ausgesprochen, aber mehrfach nahegelegt ist[1]. Und da J. + M. nun nicht Pizarro-Anhänger sind, ist dieser Kampf auch in deren höherem Interesse. Ein Unrechtsregieme wäre auch eine Gefährdung des privaten Glücks von J. + M. Trotz ihrer persönlichen Blamage stimmt daher Marzelline am Schluß in den Jubel ein.

    Um als Beispiel dieses Schema etwas "runter zu brechen": der Gewerkschaftler, der sich für eine Lohnerhöhung einsetzt, kämpft auch für den Nichtgerwerkschaftler mit, auch wenn er diesen gar nicht kennt oder womöglich sogar sein Nachbar ist, mit dem er in Streit liegt.

    [1]
    dazu noch ein Zitat aus dem Dahlhausbuch:

    Zitat

    Ins Pradoxe verstrickt man sich auch, wenn man zu erklären versucht, in welchem Sinne Fidelio eine politische Oper ist. Nimmt man - was ästhetisch unerlaubt ist - den Librettotext für sich, getrennt von der Musik, beim Wort, so ist die Rache, die Pizzarro an Florestan verübt, nichts als eine Privatsache [...] Die triviale Folgerung aber, daß es demnach offen bleibe, ob die anderen Gefangenen schuldig oder unschuldig seien, scheitert an der Musik des Gefangenenchors und des zweiten Finales. Niemand kann sich dem Gefühl entziehen, daß denen, die so durch Töne reden, Unrecht geschehen ist. [...] [So] zeichnen sich hinter Pizarro, der sein Amt zu bloßer Privatrache mißbraucht, die Umrisse eine Unrechtsstaates ab.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • aber das wurde doch nun hinreichend erklärt.

    Keineswegs. Und Dein erneuter Erklärungsversuch ist auch nicht erfolgreich:

    Es ist richtig, daß die konkreten Interessen von J., M. und L.+F. sogar kollidieren.

    Das weiß ich gar nicht so genau. Eigentlich haben sie gar nichts miteinander zu tun.

    Dennoch kann man sagen, daß L.+F. für J. und M. kämpfen, insofern als der Kampf von L+F. kein privater, sondern ein politischer, gegen ein Regime gerichtet…

    Langsam, langsam. Wo steht, dass sie einen politischen Kampf gegen ein Regime führen? Das habe ich bisher nicht gefunden. Auch scheint mir die Tatsache, dass der oberste Repräsentant dieses Regimes als gütiger und gerechter Herrscher agiert, nicht eben für ein Unrechtsregime zu sprechen.

    Wenn Deine Schlussfolgerungen Überzeugungskraft gewinnen sollen, müsstest Du erst mal sicherstellen, dass die Voraussetzung stimmt. Das ist aber keineswegs sicher. Demzufolge schweben die Schlussfolgerungen vorläufig in der Luft und bringen nicht viel. Woraus also geht hervor, dass Leonore und Florestan gegen ein Unrechtsregime kämpfen? Welches ist das? Warum ist der König nichtsdestoweniger die Güte und Gerechtigkeit selbst? Zusammengefasst: Wo im Stück findet sich die Basis für Deine Konstruktion?

  • Das weiß ich gar nicht so genau. Eigentlich haben sie gar nichts miteinander zu tun.


    nun, ich finde deine Ausführungen:

    Und Leonore hat gegenüber Marzelline ein schlechtes Gewissen, weil sie sie belügen muss. Dass sie sich irgendwie für ihr oder Jaquinos Glück interessiert, ist reine Phantasie, für die es im Stück keine Basis gibt. Und schon gar nicht dafür, dass das Glück Marzellines und Jaquinos (oder der Menschen ihrer Klasse) das Ziel ihres Handelns ist. Ihr Ziel ist die Rettung ihres Mannes. Und die ist ihr so wichtig, dass sie dafür in Kauf nimmt, Marzelline einen großen Schmerz zuzufügen und auch Rocco sehr zu enttäuschen.

    nach wie vor durchaus richtig und (für mich jedenfalls) hilfreich für eine vertieftes Verständnis des Fidelio.

    Zitat

    Langsam, langsam. Wo steht, dass sie einen politischen Kampf gegen ein Regime führen? Das habe ich bisher nicht gefunden. Auch scheint mir die Tatsache, dass der oberste Repräsentant dieses Regimes als gütiger und gerechter Herrscher agiert, nicht eben für ein Unrechtsregime zu sprechen.

    Wenn Deine Schlussfolgerungen Überzeugungskraft gewinnen sollen, müsstest Du erst mal sicherstellen, dass die Voraussetzung stimmt. Das ist aber keineswegs sicher. Demzufolge schweben die Schlussfolgerungen vorläufig in der Luft und bringen nicht viel. Woraus also geht hervor, dass Leonore und Florestan gegen ein Unrechtsregime kämpfen? Welches ist das? Warum ist der König nichtsdestoweniger die Güte und Gerechtigkeit selbst? Zusammengefasst: Wo im Stück findet sich die Basis für Deine Konstruktion?


    das Unrechtsregime ist das des Pizarro. Ob man diese mehr als eine (vielleicht nach Art der Mafia) Enklave in einem übergeordneten Rechtsstaat ansieht, oder den Minister mehr als "Märchenfigur" (so Dahlhaus), das ändert m.E. nicht gar so sehr viel.

    Daß der Kampf von Florestan (und daher auch der von Leonore) keine Privatfehde ist, sondern ein politischer Kampf, geht aus Florestans meine Pflicht hab ich getan hervor (wenn wir nicht unterstellen, daß Florestan hier sich und uns etwas vormacht).

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • das Unrechtsregime ist das des Pizarro.

    Ob das ein Unrechtsregime ist, wissen wir nicht. Wir können vermuten, dass er irgendwelche unsauberen Sachen getan hat (ganz sicher ist das aber nicht), und dass Florestan ihn deswegen angeschwärzt hat, wofür er wiederum sich nun rächen will. Ob er ansonsten Unrecht tut, wissen wir nicht. Dass er der Revision ganz gelassen entgegensieht, und nur den einen Punkt, nämlich Florestans Entdeckung, fürchtet, deutet eher nicht darauf hin. Ganz und gar nichts hören wir darüber, dass Leonore gegen das Regime Pizarros (wenn von einem solchen überhaupt die Rede sein kann) kämpft. Sie sucht ihren Mann und schleicht sich in das Gefängnis ein. Dass sie ein über die Rettung ihres Mannes hinausgehendes Interesse hat, wird nicht gesagt. Im Gegenteil: Ihre eigene Darstellung der Motivation ihres Handelns beschränkt sich vollständig auf diesen Punkt, und das Lob, das ihr am Ende gezollt wird, ebenfalls. Sollte ich die anderen Punkte übersehen haben, wo es anders dargestellt wird, würde es mich freuen, darauf hingewiesen zu werden.

    (Nebenbei: Wenn Loronore und Florestan gegen das Regime Pizarros kämpfen, kämpfen sie sehr wahrscheinlich nicht für das Glück Marzellines und Jaquinos, weil es durchaus wahrscheinlich ist, dass Rocco und damit auch die beiden jungen Leute in den Strudel hineingezogen werden und wenigstens ihre wirtschaftliche Existenz verlieren. Wohingegen nichts darüber bekannt ist, dass die drei unter Pizarro besonders stark leiden.)

    Daß der Kampf von Florestan (und daher auch der von Leonore) keine Privatfehde ist, sondern ein politischer Kampf, geht aus Florestans meine Pflicht hab ich getan hervor (wenn wir nicht unterstellen, daß Florestan hier sich und uns etwas vormacht).

    Zum einen wissen wir das nicht, zum anderen geht daraus lediglich hervor, dass er meint, seine Pflicht getan zu haben. Diese Pflicht war, die Wahrheit zu sagen. Das bedeutet nun keineswegs, dass es sich nicht um eine Privatfehde handelte. Aber selbst wenn wir annehmen wollen, dass es mehr als das war, tut jemand seine Pflicht, der meinetwegen eine Bestechungsaffäre aufdeckt. Damit ist keineswegs gesagt, dass er für das Glück aller Menschen kämpft. Es kann einer gegen Amthor Material sammeln und weitergeben, ohne deshalb der Meinung zu sein, dass Assange menschenwürdig behandelt werden muss. Da gibt es keinen Zusammenhang. Jedenfalls keinen zwingen, den man einfach annehmen muss, ohne dass ausdrücklich darauf hingewiesen wird. Es gibt aber, soweit ich weiß, keinen Hinweis darauf, dass Florestan und Leonore für irgendetwas kämpfen. Wenn ich mich irre, wäre ich, wie ich schon mehrfach sagte, dankbar, wenn wir jemand die Stelle zeigen würde, an der das steht.

  • Wenn ich mich irre, wäre ich, wie ich schon mehrfach sagte, dankbar, wenn wir jemand die Stelle zeigen würde, an der das steht.

    Historisch scheint mir die Stelle, an der der Fidelio erscheint, davon geprägt, dass es für Beethoven als abstrakter Sympatisant der bürgerlichen Emanzipation und gleichzeitig Liebling eines Teils des Wiener Adels nicht besonders angeraten gewesen sein dürfte, hier deutlicher zu werden. Hältst Du es auch für "Unsinn", dass die Oper trotzdem gerne im Kontext der bürgerlichen Revolution gesehen wird?

    Auch scheint mir die Tatsache, dass der oberste Repräsentant dieses Regimes als gütiger und gerechter Herrscher agiert, nicht eben für ein Unrechtsregime zu sprechen.

    Hm, der "weise Herrscher" als Topos des aufgeklärten Absolutismus könnte auch so ein Kompromiss mit Wiener Verhältnissen sein, oder auf Beethovens Sympathie mit dem britischen Regierungssystem zurückgehen - die aber meines Wissens erst aus der Metternich-Zeit belegt ist. Um mal auf den Ausgangspunkt Eurer Fehde ums gestörte Idyll zurückzukommen: die Formulierung, Leonore und Florestan kämpften ihren Kampf auch für das andre Paar, kann man schon als sozialistisch überhöhte Interpretation verstehen, die u.U. verkennt, in welchem Maße die bürgerliche Emanzipation womöglich tatsächlich im bürgerlichen Idyll der zufrieden und von feudalen Autoritäten ungestört wirtschaftenden Kleinfamilie aufgeht.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Historisch scheint mir die Stelle, an der der Fidelio erscheint, davon geprägt, dass es für Beethoven als abstrakter Sympatisant der bürgerlichen Emanzipation und gleichzeitig Liebling eines Teils des Wiener Adels nicht besonders angeraten gewesen sein dürfte, hier deutlicher zu werden. Hältst Du es auch für "Unsinn", dass die Oper trotzdem gerne im Kontext der bürgerlichen Revolution gesehen wird?

    Ich habe mich zu dieser Frage bisher nicht geäußert. Weder bejahend noch verneinend. Ob das Unsinn ist, oder nicht, ist zweifellos eine interessante Frage, aber im Moment steht sie nicht zur Debatte. Immerhin kann man vorläufig und ohne großen Analyseaufwand sagen, dass das Stück wohl in diesem Kontext gesehen werden sollte, nicht nur weil es in unmittelbarer Nachbarschaft der Französischen Revolution entstand, sondern auch, weil der Stoff direkt aus dieser Revolution herstammt. Allerdings sollte man dabei nicht übersehen und nicht übergehen, dass der Stoff und seine anderen Gestaltungen (Beethoven ist ja keineswegs der erste, der ihn verarbeitet hat) antirevolutionäre Züge hat: Ihm liegt eine wahre Geschichte zugrunde, in der das Vorbild für Pizarro ein Jakobiner, die Vorbilder für Leonore und Florestan zwei Aristokraten sind. Stofflich haben wir es also mit einer Geschichte zu tun, die die Schrecken der Revolution (denen die Adligen ausgesetzt sind) beklagt und die Wiederherstellung der vorrevolutionären Schrecken (für die unteren Klassen) als erstrebenswert erscheinen lässt. Ganz so einfach ist die Sache also nicht.

    Hm, der "weise Herrscher" als Topos des aufgeklärten Absolutismus könnte auch so ein Kompromiss mit Wiener Verhältnissen sein, oder auf Beethovens Sympathie mit dem britischen Regierungssystem zurückgehen - die aber meines Wissens erst aus der Metternich-Zeit belegt ist.

    Das kann so sein. Oder auch nicht. Wie immer man sich hier entscheidet, es hat keine Bedeutung für die Deutung der Stückfabel, sondern bewegt sich auf einer Metaebene. Auf die sollte man sich aber nicht begeben, bevor nicht geklärt ist, worauf sie sich erhebt. Wie es nicht empfehlenswert ist, in die zweite Etage eines Hauses zu steigen, bevor die erste vorhanden ist.

    Ich sehe weniger das Problem, dass die Behauptung, Leonore und Florestan kämpften auch für das andere Paar, eine sozialistische Überhöhung oder eine historische Verkennung ist, als dass sie durch den Stücktext nicht gedeckt ist. Das Stück enthält schlicht und einfach nichts, was eine solche Deutung zulässt. Wenn man im Stück eine Basis dafür findet, kann man darauf jedes Gebäude errichten, wenn man darauf achtet, dass die Konstruktion stabil ist. Wenn man aber ein Gebäude ohne Fundament errichtet, wird es zusammenbrechen, ehe es halb fertig ist. Und auch dabei sollte man Schritt für Schritt vorgehen. Wenn die Basis, also die Fabel geklärt ist, kann man man die höheren Stockwerke konzipieren.Aber nicht vorher. Ich kann das zweite Stockwerk nicht nur nicht betreten, bevor das erste da ist, ich kann es nicht einmal bauen.

    Das Hauptproblem an solchen Interpretationen (die nicht selten sind und auch bei hochgerühmten Denkern vorkommen): Sie laden der Stückfabel und den Figuren auf, was eine Interpretation des Stücks sein könnte. Damit überlasten sie die Fabel und übertragen den Figuren Aufgaben, die sie nicht leisten können. In diesem Falle: Weil man - aus welchen Gründen auch immer - davon überzeugt ist, dass »Fidelio« ein Stück ist, in dem es um die Befreiung der Menschheit geht, werden Leonore und Florestan beauftragt, für die Befreiung der Menschheit zu kämpfen. Das tun sie aber allem Anschein nach nicht, denn diese Motivation wird an keiner Stelle auch nur andeutungsweise genannt, dafür aber eine andere, die wesentlich kürzer greift. Die Folge solcher Überlastungen ist, dass statt lebendiger Figuren blassen, ideologisch generierte Allegorien entstehen, und auf der Bühne dann (weil der Darsteller nicht spielen kann, was seine Figur tut, aber spielen soll, was sie nicht tut, was unmöglich ist) pathetisches Augenrollen und ausgiebiges Rumstehen geboten wird, das dann als Menschheitsbefreiungspathos genommen werden soll.

    Übrigens ist es überhaupt nicht nötig, dass auf der Bühne geschieht, was als gedanklicher Zielpunkt intendiert ist. Man kann hier quasi umgekehrt die wesentliche Lehre aus der Debatte zwischen Friedrich Wolf und Brecht über die »Courage« zur Anwendung bringen. Wolf beklagte, dass die Courage nichts lernt, und am Ende ebenso unbelehrt weiter in den Krieg zieht wie am Anfang. Er meinte, sie müsse am Ende den Krieg verfluchen, damit der Zuschauer etwas lernt. Brecht meinte, der Zuschauer lernt gerade daraus, dass die Courage nichts lernt. Er braucht das, was er erzielen will, nicht auf der Bühne. Wenn wir also (als bislang ganz unbewiesene, sehr kühne, ganz in der Luft hängende Hypothese) annehmen wollen, mit dem Stück sei der Wunsch der Autoren verbunden, in den Zuchauern den Wunsch nach einer menschheitsbefreienden Veränderung der Welt zu wecken, ist dazu keineswegs erforderlich, dass auf der Bühne Figuren erscheinen, die mit ihrem Handeln dieses Ziel verfolgen (was im »Fidelio« ganz offensichtlich nicht der Fall ist). Eine Interpretation muss den Figuren das auch nicht aufladen. Wenn man also meint, eine solche Absicht im Stück gefunden zu haben, oder wenn man wünscht, eine solche Absicht mit diesem Stück zu verfolgen, muss man sie in dem auffinden, oder am dem befestigen, was vorhanden ist. Nicht an Seilen, die man in der freien Luft gespannt hat, und die nicht einmal sich selbst halten können.

    Ich hoffe, es macht sich bemerkbar, dass ich eine Aussage darüber, welche Ideen dem Stück zugrunde liegen könnten, durchgehend verzichte. Das werde ich so lange tun, bis der Boden einer gründlichen Analyse erreicht ist und damit alle Gedanken, deren Vater der Wunsch ist, zumindest vorläufig suspendiert sind. Denn erst wenn Baufreiheit geschaffen ist, ist es sinnvoll zu bauen.

  • Ich hoffe, es macht sich bemerkbar, dass ich eine Aussage darüber, welche Ideen dem Stück zugrunde liegen könnten, durchgehend verzichte.

    Es ist nicht unbemerkt geblieben, dass Du Dich mit eigenen Aussagen zurückhältst und darauf beschränkst, Aussagen anderer, die nicht ganz so vorsichtig sind, zu zerpflücken (sicherlich mit Sachkenntnis und berechtigten Fragen). "Wir wissen das" (Janosch).

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Übrigens ist es überhaupt nicht nötig, dass auf der Bühne geschieht, was als gedanklicher Zielpunkt intendiert ist.
    ...
    Wenn wir also (als bislang ganz unbewiesene, sehr kühne, ganz in der Luft hängende Hypothese) annehmen wollen, mit dem Stück sei der Wunsch der Autoren verbunden, in den Zuchauern den Wunsch nach einer menschheitsbefreienden Veränderung der Welt zu wecken, ist dazu keineswegs erforderlich, dass auf der Bühne Figuren erscheinen, die mit ihrem Handeln dieses Ziel verfolgen (was im »Fidelio« ganz offensichtlich nicht der Fall ist).

    Das ist sicher ein guter Einwand, aber unterstellt man dem guten Beethoven nicht ein bißchen viel theatertheoretische Überlegungen, wenn man das so auf den Fidelio anwendet?

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Ich bin nicht arrogant genug um zu glauben, dass ich mehr vom Opernkomponieren verstehe als Beethoven. Im übrigen sind das keine theatertheoretischen, sondern theaterpraktische Fragen. Und von denen haben jedenfalls die Librettisten eine ganze Menge verstanden, wie man ihrem Libretto ja deutlich genug ansieht.

    Im übrigen ist das Stück nun mal so,. wie es ist, egal, ob Beethoven ein Genie oder ein Stümper war. Und wenn es um das Stück geht, kann es nur um das Stück gehen, wie es nun einmal ist. Die Frage, ob Beethoven von dem, was er da tat, etwas verstanden hat (was ich annehme) oder nicht (was Du annimmst), spielt dafür überhaupt keine Rolle. Übrigens schon deshalb nicht, weil das Prinzip der hermeneutischen Billigkeit, ohne das eine sinnvolle Auslegung eines Artefakts (welcher Art auch immer) nicht möglich ist, die letztere Annahme weitestgehend verbietet – nämlich bis hieb- und stichfest bewiesen ist, dass alle anderen zum Misserfolg verdammt sind,

  • Die Frage, ob Beethoven von dem, was er da tat, etwas verstanden hat (was ich annehme) oder nicht (was Du annimmst)

    Das ist eine Unterstellung, die ich nicht billigen kann. Ich habe lediglich Zweifel geäußert, ob es sinnvoll ist, Überlegungen, die DU mit einem Brecht-Beispiel verdeutlicht hast, Beethoven zu unterstellen.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Wie ergibt sich nun daraus, dass Florestan und Leonore für das Glück Marzellines und Jaquinos kämpfen? Ja, dass sie sich für deren Glück überhaupt interessieren? Ich will nicht abstreiten, dass das so ist. Vielleicht bin ich ja geblendet und sehe die Stelle nicht. Darum wäre ich sehr dankbar, wenn sie mir jemand zeigen würde. Die Verse des Ministers sind es nicht.


    Ok, dann ein weitere Blick darauf:

    „ VOLK

    Heil, Heil, heil sei dem Tag,
    Heil sei der Stunde,
    die lang ersehnt, doch unvermeint,
    Gerechtigkeit mit Huld im Bunde
    vor unsres Grabes Tor erscheint!

    FERNANDO
    Des besten Königs Wink
    und Wille führt mich zu euch,
    ihr Armen her,
    daß ich der Frevel
    Nacht enthülle,
    die all umfangen schwarz
    und schwer.
    Nicht, nicht länger
    kniet sklavisch nieder,
    Tyrannenstrenge sei mir fern.
    Es sucht der
    Bruder seine Brüder,
    und kann er hellen,
    Und kann er helfen
    hilft er gern“

    Warum spricht hier das Volk (auf einmal) ?
    Warum spricht das Volk von seinem Grab und nicht von Florestans?
    Warum spricht Fernando von Brüdern und nicht von einem Paar? Mit anderen Worten: würde man, wenn man nur Flo und Leo meinen würde, von Brüdern sprechen?
    Wer sind diese „all“ („ alle“), umfangen von der Nacht? Doch nicht nur einer?

    Also: Fernando spricht alle an.
    Und das Volk spricht von sich.

    Aus den Antworten ergibt sich, dass am Ende der Oper Florestans & Leonores Kampf auf das Volk projeziert wird. Warum spricht sonst das Volk von seinem eigenen Grab und warum antwortet Fernando an alle?
    Marzelline & Jaquino gehören zum Volk, wie auch alle anderen auf der Bühne.
    So einfach ist das.
    Wenn es nicht so bezweckt wäre, dann ständen diese Zeilen nicht da.

  • Das ist eine Unterstellung, die ich nicht billigen kann. Ich habe lediglich Zweifel geäußert, ob es sinnvoll ist, Überlegungen, die DU mit einem Brecht-Beispiel verdeutlicht hast, Beethoven zu unterstellen.

    Nun eben der Zweifel ist die Annahme. Das Brecht-Beispiel hast Du offensichtlich vollkommen falsch verstanden.


    Warum spricht hier das Volk (auf einmal) ?

    Warum spricht das Volk von seinem Grab und nicht von Florestans?

    Die da sprechen, sind die Gefangenen. Ihr Grab ist das Gefängnis (so haben sie es schon im ersten Finale genannt), das Tor ist das Gefängnistor, erschienen ist der Minister. Da gibt es kein Geheimnis.

    Und selbst wenn es anders wäre, bliebe die Frage, woraus sich ergibt, dass Florestan und Leonore für das Glück Marzellines und Jaquinos kämpfen, unbeantwortet. Vor allem auch, warum das an keiner Stelle gesagt oder auch nur angedeutet wird. Warum sagt denn Leonore nicht, dass ihr Handlungsimpuls das angestrebte Glück der Menschheit ist, sondern nennt die »Pflicht der treuen Gattenliebe«? Lügt sie sich oder den Zuhörern da was in die Tasche? Und wenn ja, warum tut sie das? Und warum wird am Ende nicht die tapfere Kämpferin für das Glück der Menschheit gespriesen, sondern die treue Frau, die ihren Gatten gerettet hat? Wenn das alles nicht gilt, warum wird es so laut und so oft gesagt? Und wenn etwas ganz anderes gilt, warum kommt es nicht vor?

  • die Formulierung, Leonore und Florestan kämpften ihren Kampf auch für das andre Paar, kann man schon als sozialistisch überhöhte Interpretation verstehen

    wenn ich da angesprochen bin ... eine sehr unerwartete Ausstellung, die mich durchaus amüsiert ... ;)

    Zitat

    ... die u.U. verkennt, in welchem Maße die bürgerliche Emanzipation womöglich tatsächlich im bürgerlichen Idyll der zufrieden und von feudalen Autoritäten ungestört wirtschaftenden Kleinfamilie aufgeht.


    das geht, wenn ich recht sehe, in Richtung der von Wolfram geäußerten Einwände. Wobei ich bei der "sozialistisch überhöhten Interpretation" bleiben würde - es mag so sein, aber auch eine sich im Idyll bescheidende "bürgerliche Emanzipaton" bleibt eine solche, die aus der bürgerlichen Selbstbestimmung erwächst und so grundsätzlich in Opposition zu vorbürgerllichen Ordnungen steht.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • (Nebenbei: Wenn Loronore und Florestan gegen das Regime Pizarros kämpfen, kämpfen sie sehr wahrscheinlich nicht für das Glück Marzellines und Jaquinos, weil es durchaus wahrscheinlich ist, dass Rocco und damit auch die beiden jungen Leute in den Strudel hineingezogen werden und wenigstens ihre wirtschaftliche Existenz verlieren. Wohingegen nichts darüber bekannt ist, dass die drei unter Pizarro besonders stark leiden.)

    nun, Rocco zumindest ist tief erleichtert, als der Minister angekündigt wird:

    Gelobt sei Gott!
    Wir kommen, ja wir
    kommen augenblicklich.
    Und diese Leute mit Fackeln
    sollen heruntersteigen und
    den Herrn Gouverneur hinaufbegleiten.

    das klingt nicht so, als müßte er mit Pizarros Sturz um sich selbst Befürchtungen hegen.

    Zitat

    Zum einen wissen wir das nicht, zum anderen geht daraus lediglich hervor, dass er meint, seine Pflicht getan zu haben. Diese Pflicht war, die Wahrheit zu sagen. Das bedeutet nun keineswegs, dass es sich nicht um eine Privatfehde handelte.


    dann würde Florestan sowas meinen wie, daß er versucht war, Pizarro falsch zu beschuldigen, das aber dann doch nicht getan hat, sondern bei der Wahrheit geblieben ist, was ihm jetzt ein gutes Gewissen verschafft. Das ist völlig abwegig.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Aus den Antworten ergibt sich, dass am Ende der Oper Florestans & Leonores Kampf auf das Volk projeziert wird. Warum spricht sonst das Volk von seinem eigenen Grab und warum antwortet Fernando an alle?

    Ich finde das sehr überzeugend! Es ist ja in der Tat auffällig, wie stark im Text das "alle" betont wird. Gut finde ich die Formulierung, dass der Kampf der einzelnen auf das Volk "projiziert" wird, sie zeigt nämlich, wie deutlich das Finale den Blick erweitert im Vergleich zu dem, was vorher geschah. Der Einzelfall wird durch den alle umfassenden Jubel ins Allgemeine geweitet, der Kampf des einzelnen Paares auf das Volk projiziert.
    Die Parallelen zum Finale der neunten Symphonie sind da offensichtlich, sowohl im Text als auch in der Musik.

    Die da sprechen, sind die Gefangenen. Ihr Grab ist das Gefängnis (so haben sie es schon im ersten Finale genannt), das Tor ist das Gefängnistor, erschienen ist der Minister. Da gibt es kein Geheimnis.

    Das ist offensichtlich Unsinn, um mal deine eigenen Worte zu benutzen. Im ersten Finale ist der Gefangenenchor ein reiner Männerchor, offensichtlich handelt es sich also um ein Männer-Gefängnis. Im Finale singt dagegen ein gemischter Chor. Es ist also unbestreitbar völlig offensichtlich, dass es sich nicht um die gleichen Personen handeln kann.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

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