BEETHOVEN: Fidelio – Oper als Freiheitsapotheose

  • das klingt nicht so, als müßte er mit Pizarros Sturz um sich selbst Befürchtungen hegen.

    Das lässt sich ergänzen durch mehrere Zitate, die zeigen, welche Angst Rocco und seine Familie vor dem offenbar cholerischen Gouverneur haben. "Ihr wisst ja, wie er tobet, und kennet seine Wut" singt Marzelline. Den dreien wird es ohne Pizarro auch besser gehen...
    Zumal sich ohenhin schwer bestreiten lässt, dass Don Pizarro von den Textautoren als Antagonist und klassicher Bösewicht gezeichnet ist. In dem Sinn ist er die deutlich weniger runde Figur als vor allem Rocco.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Ich finde das sehr überzeugend!

    Finde ich auch, genauso wir Dahlhaus Überlegungen zur Musik des Gefangenenchors. Letzteres ist ein ganz subjektives Empfinden bei mir, aber ich hatte nie das Gefühl, dass dort ganz 'normale' Kriminelle singen. Warum hätte sich Leonore auch für diese einsetzen sollen, wenn es ihr nur um die Befreiung ihres Ehemannes gehen würde?

    Überzeugend finde ich eben auch, dass nun laut Textbuch ausdrücklich eben das 'Volk' singt und nicht die 'Gefangenen', auch nicht Gefangene plus jeweilige Ehefrauen. Wenn die Gefangenen Kriminelle wären, wenn Florestan aufgrund einer Privatfehde inhaftiert wurde (was ja schon auf Unrecht hindeutet), könnte es dem Volk ganz egal sein, im Gegenteil, würde es bei einer Amnestie für Verbrecher sicherlich nicht jubeln. Wie kommt das Volk dazu, von der Hoffnung angesichts des eigenen Grabes zu singen? Doch nur, wenn in diesem Landesteil eine unrechtmäßige, sie alle berührende Unterdrückung herrscht. Und die kann nur politische Gründe haben.

    Wenn die Gattenliebe Leonorens dann besonders hervorgehoben wird, habe ich das immer so verstanden, dass das Volk dies als ein erstes Zeichen gegen die Unterdrückung empfindet, als eine erste Tat, die als Folge die gesamte Befreiung hat. Dass das nicht in Leonorens Absicht lag, mag angehen, wird aus dem Text im Finale des II. Aktes auch nicht deutlich. Aber, wie gesagt, warum ihr Einsetzen für die Gefangenen im I. Akt? Doch sicherlich nicht nur aus Mitleid. Wenn sie nur die Befreiung ihres Gatten vorhat, wird sie sich dann so vehement für einen 'Haufen von Kriminellen' einsetzen?

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Finde ich auch, genauso wir Dahlhaus Überlegungen zur Musik des Gefangenenchors. Letzteres ist ein ganz subjektives Empfinden bei mir, aber ich hatte nie das Gefühl, dass dort ganz 'normale' Kriminelle singen. Warum hätte sich Leonore auch für diese einsetzen sollen, wenn es ihr nur um die Befreiung ihres Ehemannes gehen würde?

    Einerseits ja, andererseits nein: Einerseits ja, auch ich hatte nie das Gefühl, dass da "ganz normale Kriminelle" singen, sondern politische Gefangene. Andererseits nein, Leonore hat durchaus einen ganz eigennützigen Grund, sich im ersten Akt für diese einzusetzen: Sie hat Florestan ja noch nicht im Gefängnis gesehen, sie ist immer noch dabei, ihn zu finden. Will sie nicht deshalb alle Gefangenen auf dem Hof sehen, in der Hoffnung, Florestan unter ihnen zu finden?

    Beim Rest: Volle Zustimmung, das Finale weitet das Einzelschicksal auf eine allgemeine Ebene und transportiert damit in fast oratorienhafter Art politische Ideale seiner Entstehungszeit.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Sie hat Florestan ja noch nicht im Gefängnis gesehen, sie ist immer noch dabei, ihn zu finden. Will sie nicht deshlab alle Gefangenen auf dem Hof sehen, in der Hoffnung, Florestan unter ihnen zu finden?

    Ja, ok, d'accord. Das wirft dann aber wieder ein anderes Licht auf ihre gesamte Intention. Ist sie dann wirklich noch die große Kämpferin gegen Unterdrückung oder will sie 'einfach' nur ihren Ehemann wiederhaben?

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Schließt sich das denn aus?

    Ich denke, sie ist beides. Zunächst einmal will sie einfach nur ihren Ehemann wiederhaben. Aus Liebe zu ihm wächst sie über sich hinaus und wird zur Freiheitskämpferin gegen ein ungerechtes, verbrecherisches Regime. Denn Florestan zu befreien, heißt gleichzeitig, Pizarro für seine Taten zur Verantwortung zu ziehen und zu entmachten. Solange Pizarro nicht ausgeschaltet ist, bleibt Florestan ja in Lebensgefahr. Und Leonore ist bereit, für ihre Liebe und für die Freiheit ihres Ehemannes bis zum Äußersten zu gehen, sie würde Pizarro eigenhändig töten, wenn es nötig wäre.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Aus Liebe zu ihm wächst sie über sich hinaus und wird zur Freiheitskämpferin gegen ein ungerechtes, verbrecherisches Regime.

    Aber wird sie das wirklich oder ist das nur ein ungewolltes 'Nebenprodukt' ihrer Absicht. Wenn sie ihren Gatten befreien will und das nur funktioniert, wenn Pizarro ausgeschaltet wird, heißt das ja noch nicht, dass sie zu einer Freiheitskämpferin für alle wird.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Aber wird sie das wirklich oder ist das nur ein ungewolltes 'Nebenprodukt' ihrer Absicht. Wenn sie ihren Gatten befreien will und das nur funktioniert, wenn Pizarro ausgeschaltet wird, heißt das ja noch nicht, dass sie zu einer Freiheitskämpferin für alle wird.

    :wink: Wolfram

    Na ja - warum nicht? Auch wenn das "nur ein ungewolltes Nebenprodukt ihrer Absicht" ist, wird sie trotzdem zu einer Freiheitskämpferin für alle. Wenn sie sich mit ihrem Ehemann und seinen politischen Zielen identifiziert, wird sie trotzdem zu einer Kämpferin gegen ein unterdrückendes System.

    Wenn sie ihren Gatten befreien will und das nur funktioniert, wenn Pizarro ausgeschaltet wird, heißt das eben doch, dass sie zu einer Freiheitskämpferin für alle wird: Pizarros Ausschaltung bedeutet Freiheit für alle, die er unterdrückt und eingesperrt hat.

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Wenn sie ihren Gatten befreien will und das nur funktioniert, wenn Pizarro ausgeschaltet wird, heißt das eben doch, dass sie zu einer Freiheitskämpferin für alle wird: Pizarros Ausschaltung bedeutet Freiheit für alle, die er unterdrückt und eingesperrt hat.

    Naja, ich finde das mit dem 'Nebenprodukt' schon ganz wichtig. Also die Frage, ob jemand bewusst etwas herbeiführt, etwas beabsichtigt oder vielleicht gar nicht einmal bemerkt, dass eine Veränderung mit dem eigenen Tun nun in Gange kommt.

    Kämpft sie für die Freiheit ihres Gatten und des Volkes oder nur für erstere? Dann geht sie womöglich ohne jeglichen politischen Ansatz ins Gefängnis und will vielleicht nur eine 'häusliche Idylle' à la Marzelline wieder herstellen.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Kämpft sie für die Freiheit ihres Gatten und des Volkes oder nur für erstere? Dann geht sie womöglich ohne jeglichen politischen Ansatz ins Gefängnis und will vielleicht nur eine 'häusliche Idylle' à la Marzelline wieder herstellen.

    Ja, ich glaube, dass sie genau das tut, dass sie ohne jeglichen politischen Ansatz ins Gefängnis geht und ihr privates Glück wieder herstellen will. Aber sie lebt eben in einer Umbruchszeit, in der auch das Private Politisch wird - genau wie Beethoven und seine Librettisten und wie die Dichter und Denker, bei deren Ideen sie sich bedienen (Schiller, der große Idealist, schimmert da doch z.B. allenthalben durch).

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Aber sie lebt eben in einer Umbruchszeit, in der auch das Private Politisch wird

    Meinst du, dass sie das kapiert hat? Oder, um es mal schlicht zu sagen, bleibt sie 'Hausmütterchen'? Wenn sie das alles nicht reflektiert (und so gesehen, finde ich im Text keine Anhaltspunkte dafür), was bedeutet das hinsichtlich des 'Volkes'? Wieso bejubelt das Volk ihr Tun und empfindet es als Befreiung? Wird hier ein Mensch dann nicht von der Masse als eine Art Popanz aufgebaut, den man als Symbol braucht zur Verstärkung und Unterstützung des eigenen Handelns? Ach, irgendwie habe ich das Gefühl, das driftet jetzt ziemlich ab von dem, was Beethoven eigentlich beabsichtigte. ^^

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Die da sprechen, sind die Gefangenen. Ihr Grab ist das Gefängnis (so haben sie es schon im ersten Finale genannt), das Tor ist das Gefängnistor, erschienen ist der Minister. Da gibt es kein Geheimnis.

    Es wurde schon von anderen darauf eingegangen, aber ich wollte noch einmal ausdrücklich auf die Eindeutigkeit der Sache hinweisen:
    Im Finale des 1. Akts ist singen die Gefangenen. Im 2. Akt singt das Volk.

    Finale 1. Akt
    ".....
    PIZARRO
    So eile,
    ihm sein Grab zu graben,
    hier will ich stille Ruhe haben;
    schliess die Gefangene wieder ein,
    magst du nie mehr
    verwegen sein!

    GEFANGENEN
    Leb wohl,
    du warmes Sonnenlicht,
    schnell schwindest
    du uns wieder!
    Schon sinkt
    die Nacht hernieder,
    aus der so bald
    kein Morgen bricht.
    ..."

    Im Finale des 2. Aktes taucht plötzlich, wie aus dem nichts, das Volk auf.

    Nicht nur die Worte der von mir zitierten Textstelle im 2. Akt Finale ( Beitrag 164) sind wegweisend, sondern auch genau die Tatsache, dass der Chor sich von den Gefangenen zum Volk erweitert. Dem Rezipienten wird dadurch die Möglichkeit gegeben, von den Gefangenen auf das Volk zu projezieren. Man könnte sogar die These aufstellen, dass das Erweitern des Gefangenebegriffs hier ausdrücklich beabsichtigt ist. Das Volk sind die Gefangenen, sozusagen. Wir alle sind gefangen.

  • Ja, ich glaube, dass sie genau das tut, dass sie ohne jeglichen politischen Ansatz ins Gefängnis geht und ihr privates Glück wieder herstellen will. Aber sie lebt eben in einer Umbruchszeit, in der auch das Private Politisch wird - genau wie Beethoven und seine Librettisten und wie die Dichter und Denker, bei deren Ideen sie sich bedienen (Schiller, der große Idealist, schimmert da doch z.B. allenthalben durch).

    Das ist eine gute Frage.
    Ich glaube man findet Ansätze im Libretto, die zeigen, dass sie einen Zusammenhang von privat und allgemein herstellt. Ob sie das von vornherein tut, weiss ich nicht, aber die Gedanken sind da, während sie im Gefängnis arbeitet.

    zB hier im 1. Finale, als die Gefangenen wieder hinunter müssen:

    "LEONORE
    Ihr hört das Wort,
    drum zögert nicht,
    kehrt in den Kerker wieder!
    Angst rinnt durch meine Glieder,
    ereilt den Frevler,
    den Frevler kein Gericht."

    Hier bezieht sie sich mit ihrem Wunsch nach Gerechtigkeit ganz direkt und offensichtlich auf die Gefangenen im allgemeinen. Damit ist natürlich ihr Mann eingeschlossen, da auch Gefangener, aber er ist ja in dem Moment nicht auf der Bühne. Trotzdem will sie Gerechtigkeit für alle und denkt nicht nur an ihr eigenes häussliches Glück.

  • Weiterhin sieht man hier, dass Leonore auch eine Fremden retten würde. Sie sagt dieses unten im Kerker bevor sie mit Sicherheit weiss, dass der Gefangene ihr Mann ist.

    "LEONORE
    Laßt mich nur wieder Kräfte haben,
    wir werden bald zu Ende sein.
    Wer du auch seist,
    ich will dich retten,
    bei Gott, bei Gott,
    du sollst kein Opfer sein,=
    gewiß, gewiß,
    ich löse deine Ketten ich
    will du Armer, dich befrein! "

    Und noch ein Letztes.
    Bevor Leonore & Florestan mit Sicherheit wissen, dass sie vom Minister "gerettet" werden, sich aber in grosser Hoffnung gefunden haben, wird szenisch plötzlich auf das Volk umgeblendet (dessen Stimme wir ja vorher noch nie gehört hatten). Das Volk singt aber nun mit Gewissheit von Rettung. Für mich wird genau in diesem Moment die Geschichte einfach weitererzählt, als ob es immer schon um die Allgemeinheit gegangen wäre. Die Hoffnung eines einzelnen Paares wird im Fortschritt der Handlung zur Gewissheit der Freiheit für das Volk. Es ist ein logisch unmittlebarer Fortschritt der Handlung, aber sehr klug vom Paar auf das Volk erweitert, ohne weitere Erklärung. Dass diese Erklärung fehlt, heisst für mich, dass man es als gegeben ansehen soll, dass das Paar für die Allgemeinheit spricht. Für mich ist das ein starkes Indiz für die gewollte Projektion der gesamten Handlung von Einzelschicksal auf Allgemeinheit. Diesen Schritt macht man gedanklich erst zum Beginn des Finales. Es ist bezeichnend, dass das Finale mit dieser Verallgemeinerung begonnen wird.

  • Für mich wird genau in diesem Moment die Geschichte einfach weitererzählt, als ob es immer schon um die Allgemeinheit gegangen wäre

    finde ich gut formuliert!

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Im Finale des 2. Aktes taucht plötzlich, wie aus dem nichts, das Volk auf.

    Kann man so sehen, denn das Volk war vorher tatsächlich nicht präsent. Allerdings geht dem Finale, in dem das Volk plötzlich auftaucht, eine Verwandlung der Bühne voraus: Statt im "unterirdische[n] dunkle[n] Kerker" befinden wir uns jetzt ein paar Meilen woanders, nämlich auf dem "Paradeplatz des Schlosses mit der Statue des Königs", also nicht mehr im Gefängnis. Auf dem Platz setzt dann sofort der "Chor der Gefangenen und des Volkes" ein: "Heil sei dem Tag" usw. Beide Gruppen werden unterschieden, vereinigen sich aber schnell, als Ergebnis der Befreiung der Gefangenen aus der Dunkelheit, die jetzt im Tageslicht das als erfüllt erleben dürfen, was ihnen im 1. Aufzug nur als vorübergehende Erleichterung zuteil wurde.

    Übrigens finde ich in diesem Zusammenhang bemerkenswert, was Carl Dahlhaus dazu schreibt (von zabki in # 166 zitiert): Um den Sinn der beiden Szenen (Gefangenenchor im 1. Aufzug, Finale des 2. Aufzugs) zu verstehen, ist es wichtig, die musikalischen Aspekte heranzuziehen. Daß es "ästhetisch unerlaubt ist[,] den Librettotext für sich, getrennt von der Musik, beim Wort" zu nehmen, würde ich nachdrücklich unterstreichen.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ja, ich glaube, dass sie genau das tut, dass sie ohne jeglichen politischen Ansatz ins Gefängnis geht und ihr privates Glück wieder herstellen will. Aber sie lebt eben in einer Umbruchszeit, in der auch das Private Politisch wird - genau wie Beethoven und seine Librettisten und wie die Dichter und Denker, bei deren Ideen sie sich bedienen (Schiller, der große Idealist, schimmert da doch z.B. allenthalben durch).

    Meinst du, dass sie das kapiert hat? Oder, um es mal schlicht zu sagen, bleibt sie 'Hausmütterchen'? Wenn sie das alles nicht reflektiert (und so gesehen, finde ich im Text keine Anhaltspunkte dafür), was bedeutet das hinsichtlich des 'Volkes'? Wieso bejubelt das Volk ihr Tun und empfindet es als Befreiung? Wird hier ein Mensch dann nicht von der Masse als eine Art Popanz aufgebaut, den man als Symbol braucht zur Verstärkung und Unterstützung des eigenen Handelns?

    wenn man diesen Maßstab anlegt, ist Leonore natürlich keine "Freiheitskämpferin". Das wäre eher sogar der opportunistische Rocco, der immerhin sich der direkten Konfrontation mit Pizarro stellt ohne selbstbezogene Motivation!

    Aber diese Trennlinie, die auf das bekannte fortschrittlich = gut, konservativ = mindestens nicht so gut hinausläuft, fände ich gar nicht so interessant.

    Für das Verständnis insbesondere der inzwischen gebührend herausgestellten Schlußszene mit ihrer eigenartigen Koppelung von allgemeiner Befreiung und Fokus auf der "Gattenliebe" scheint es mir sinnvoller, sich die gemeinsame Basis der Akteure außer Pizarro (ohne wiederum deren Unterschiede zu verkleistern) klar zu machen.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Muss man eine Revolution wollen um Revolutionär zu sein? Also kommt es auf die Gesinnung an oder auf das Ergebnis?

    Gute Frage. Aber macht es nicht einen Unterschied, ob man nun das Ergebnis auch angestrebt hat oder ob es sich rein zufällig ergibt. Und zwar nicht nur für den Regisseur. ;)

    scheint es mir sinnvoller, sich die gemeinsame Basis der Akteure außer Pizarro (ohne wiederum deren Unterschiede zu verkleistern) klar zu machen.

    Denn wenn Leonore das Ergebnis mit trägt, ohne die entsprechende Gesinnung zu haben, dann sehe es doch recht arm um die gemeinsame Basis der Akteure aus.

    "LEONORE
    Ihr hört das Wort,
    drum zögert nicht,
    kehrt in den Kerker wieder!
    Angst rinnt durch meine Glieder,
    ereilt den Frevler,
    den Frevler kein Gericht.
    "

    gibt dann vielleicht einen Hinweis darauf, dass sie durchaus eine entsprechende Gesinnung hatte. Es kann aber auch aus reinem Mitleid gesprochen worden sein, wobei sie als Freiheitskämpferin nicht so überzeugend dastehen würde.

    Aber wir reden immer nur über den Text. Wie sieht es denn musikalisch bei den entsprechenden Stellen aus? Ich bin da überhaupt nicht qualifiziert, aber es sollte hier doch genügend Fachleute geben. ;)

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Allerdings geht dem Finale, in dem das Volk plötzlich auftaucht, eine Verwandlung der Bühne voraus: Statt im "unterirdische[n] dunkle[n] Kerker" befinden wir uns jetzt ein paar Meilen woanders, nämlich auf dem "Paradeplatz des Schlosses mit der Statue des Königs", also nicht mehr im Gefängnis. Auf dem Platz setzt dann sofort der "Chor der Gefangenen und des Volkes" ein:

    Es liegen zwischen der letzten Note der Nummer mit Leonore und Florestan nur etwa 1 Minute Musik bis der Chor einsetzt.
    Es kommt also auf den Szenewechsel an, wie "plötzlich" das Volk erscheint und singt.
    Bei Kratzer gab es keine Umbauerei, und das Volk sass den ganzen 2. Akt auf der Bühne.

  • Ich möchte nochmal von einem anderen Winkel an die Sache herangehen.

    Wenn man sich fragt, welchen Typ des literarischen Drama-Genres Fidelio eigentlich angehört, dann stellt man gleich fest, das es keine Tragödie ist, aber auch keine Komödie und selbstverständlich auch keine tragische Komödie. Es bleibt also eigentlich nur das Melodram übrig, wenn überhaupt, und siehe da, Fidelio zeigt mehrere melodramatische Aspekte auf (melodramatisch hier gemeint im Sinne der Klassifikation von literarischen Dramen). Dies könnte aber nun Auswirkungen auf das Verständnis der Oper haben.

    Man kann die folgende Seite als Denkanstoss nehmen.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Melodram_(Theater)

    „Das Melodram ......ist seit dem späteren 18. Jahrhundert das populäre Gegenstück zur aristokratischen Tragödie.

    Unter Geschichte und Entstehung dann weiter:

    “.....Das gemeinsame Entsetzen über die Allgegenwart von Betrug, Gewalt und Korruption, die im Melodram zelebriert wird, einigt sein Publikum. In einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs trug es zu einer neuen Ordnung bei, in der Gesetz oder Polizei nicht als Mittel zur Unterdrückung durch die Obrigkeit, sondern als etwas Gemeinnütziges gelten sollten. Arbeitseifer, Mut und Redlichkeit als Ideale einer bürgerlichen Ethik wurden fortan ins Zentrum gestellt. So entwickelte sich das Melodram zu einer Kulturform des Bürgertums, in der die Adeligen und der Klerus, aber auch das Proletariat kritisiert wurden.“ (Sorry, ich konnte den blauen Font nicht wegkriegen)

    Ich glaube man kann hier Fidelio ganz gut wiederfinden.

    (Auf der englischen Seite wird Fidelio sogar erwähnt. „Other later, and better-known examples of the melodramatic style in operas are the grave-digging scene in Beethoven's Fidelio”)

    Ganz besonders interessant ist aber, dass im Melodram die Musik ganz bewusst eingesetzt wird, um zum Text starke Emotionen anzuregen. Man sollte also bei Fidelio um so mehr nicht nur das Libretto, sondern die Stimmungen in der Musik zu (bzw nach) den jeweils gesungenen (gesprochenen) Worten zur Deutung des Inhalts heranziehen.

    Man kann dann noch mehr zu Themen und Charakterentwicklung usw finden.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!