DIE ARTISTIK BLEIBT IMMER MUSIK
Vier Abschluss-Klavierkonzerte hintereinander, Hochschule für Musik und Theater München, Großer Konzertsaal Arcisstraße, 22.6.2018
Die vier jeweils ca. einstündigen Konzerte mit vielfach anspruchsvollst schweren Werken, teilweise bereits in Klassenabenden öffentlich erprobt, zeigen vor allem einmal den immens hohen Standard der Musikhochschulausbildung – technisch brillant und gleichzeitig hochmusikalisch.
Man hört keine Exzentriker. Geboten werden die Werke als große kompositorische Blöcke, in sich abgerundet. Der Bogen spannt sich von Bach bis Messiaen, also vom Barock bis zum 20. Jahrhundert, wobei der Schwerpunkt auf hochvirtuoser Romantik liegt.
Den Anfang macht um 16:30 Uhr die 1994 in Henau (China) geborene vor ihrer Zeit in München in Essen ausgebildete Guilin Yang (Klasse Prof. Michael Schäfer) mit ihrem Prüfungskonzert Zertifikat Meisterklasse Klavier, und das geht gleich mit einem echten Kracher los, führt sofort in pianistisch schwindelerregende Höhen, mit Igor Strawinskys Trois Mouvements de Petrouchka (1. »Danse russe«, 2. »Chez Petrouchka« und 3. »La semaine grasse«) – vom russischen Tanz bis zum slawischen Fest wird da eine Holzpuppe aber sowas von lebendig, furios gespielt, atemberaubend!
Beeindruckend, wie Guilin Yang danach die 12 Etüden op. 10 von Frédéric Chopin nicht als reinen Leistungssport, sondern als große Musik erstehen lässt, im Technischen sowieso souverän, dazu sorgfältig phrasierend und schattierend, jeder Etüde ihren eigenen Charakter gebend, vom C-Dur Portal op.10/1 bis zur berühmten c-Moll-Revolutionsetüde op.10/12.
Um 18:00 Uhr ist Keiichiro Ikebe (Klasse Prof. Michael Schäfer) dran, mit seinem Prüfungskonzert Master Klavier. Das Abgerundete bei genauer Beachtung alles Empfindsamen und gekonnt herausragender Einbettung punktueller Höhepunkte ins fließende Geschehen kommt bei Ludwig van Beethovens Klaviersonate Nr. 30 E-Dur op. 109 gleich wieder zum Tragen. Zumal in den gesangvollen Ausbreitungen des 3. Satzes kann man mit dieser Interpretation „ganz drin“ sein im Fließen der Musik.
In die Virtuosenzeit nach Liszt fühlt man sich mit Ignaz Friedman (1882–1948) versetzt, dessen Thème Varié vollgriffig brillante Variationen bieten. Frédéric Chopins Barcarolle op. 60 hingegen, sich auch ins Brillante steigernde Salonmusik, vermag die Bewegung auf dem Wasser großartig zu imaginieren. Auch bei Ikebe besticht die hohe Musikalität bei wie selbstverständlich wirkender technischer Perfektion.
Maurice Ravels »Gaspard de la nuit« hat man von ihm gespielt schon neulich in einem Klassenabend gehört. Diese drei Stücke gehören ja zum Schwersten überhaupt, was die Klavierliteratur zu bieten hat. Wie aus einem Guss, in sich abgerundet, atemberaubend souverän, pianistisch auf Hochglanz poliert, ohne die musikimmanente Spannung zu vernachlässigen (unheimlich am Galgen im zweiten Stück durchgehalten!) – so ist man wieder mittendrin, mit der Wassernixe, eben am Galgen und dann mit dem listigen Kobold.
Den größten „Fanclub“ hat Kathrin Isabelle Klein (Klasse Prof. Markus Bellheim) ab 19:15 Uhr bei ihrem Abschlusskonzert Master Klavier dabei, das ist das bei weitem bestbesuchte Konzert dieses Tages an diesem Ort, und Kathrin Isabelle Klein ist es auch, die das älteste und das jüngste Werk des Tages zueinander spannt. Ich höre Johann Sebastian Bach gerne am Konzertflügel gespielt, die Klang- und Ausdrucksmöglichkeiten der Partita Nr. 6 e-Moll BWV 830 (1. Toccata, 2. Allemanda, 3. Corrente, 4. Air, 5. Sarabande, 6. Tempo di Gavotta und 7. Gigue) schaffen am Steinway Raum für differenzierte Charakterunterschiede von Stück zu Stück, die auch wieder fein schattiert ausgelotet werden. Und mit der Sarabande baut sich eine ganz eigene Welt auf, da bleibt die Zeit stehen. Es ist keine Frage historischer Aufführungspraxis die sich bei alldem stellt, die Pianistin macht einfach Musik, mit Herz und Seele, und technisch – wie alle – grandios souverän.
Von Olivier Messiaen gibt es mit ihr aus »Catalogue d’oiseaux« die Nr. 8. L’Alouette Calandrelle mit den beteiligten Vögeln und Insekten Alouette Calandrelle (Kurzzehenlerche), Choeur des Cigales (Chor der Zikaden), Faucon Crécerelle (Turmfalke), Caille (Wachtel), Cochevis huppé (Haubenlerche) und Alouette des champs (Feldlerche), kurzweilige und auch zeitlich kurze Naturkunde am Klavier zwischendurch, eine sehr originelle Abwechslung am vielfach hochvirtuos auftrumpfenden Konzerttag der Hochschule.
Robert Schumanns weit ausschwingende große romantische Sonate Nr. 1 fis-Moll op. 11 (1. Introduzione. Un poco adagio – Allegro vivace, 2. Aria, 3. Scherzo e Intermezzo. Allegrissimo – Lento und 4. Finale. Allegro un poco maestoso) gelingt der Pianistin (neulich am Klassenabend noch ohne Finale gespielt, jetzt auch dieses kompakt durchziehend) pianistisch genauso wie poetisch beeindruckend reif, auch wie aus einem Guss.
Den Abschluss macht nach 20:30 Uhr das Prüfungskonzert Master Klavier von Sangwon Lee (Klasse Prof. Adrian Oetiker), und da geht es gleich weiter mit Robert Schumann. Zwischen Poesie, Geheimnis und Klavierrausch ziehen die Stücke der Humoreske op. 20 (1. Einfach, 2. Hastig, 3. Einfach und zart, 4. Sehr lebhaft und 5. Zum Beschluss) vorbei. Wieder besticht der große abgerundete Bogen, der sich da bei pianistisch fast noch fulminanterer Darbietung als sie bisher schon zu hören war spannt, und einige Male meint man aus diesem schillernden romantischen Kaleidoskop das sich Humoreske betitelt einen traurigen Clown zu erblicken.
Franz Schuberts Klaviersonate Nr. 13 A-Dur D 664 (1. Allegro moderato, 2. Andante und 3. Allegro) lächelt freundlich, es gibt andere Sonaten, die in Abgründe führen, diese hält sich was das betrifft zurück, zumindest in Lees wieder alles fein abrundender, gesanglich rund fließender, erneut sorgfältig schattierender und abtönender und dort wo es abgebracht ist durchaus auch dramatisch zuspitzender Interpretation. Die Exposition im 1. Satz wird wiederholt.
Das Finale trumpft noch einmal hochvirtuos auf, als fulminanter Walzer(alp)traum, mit Maurice Ravels La Valse, bei dem Sangwon Lee ein pianistisches Feuerwerk sondergleichen abbrennt, das erneut das schwindelerregend hohe Niveau heutigen Spitzenklavierspiels an Hochschulen vor Ohren führt.
Insgesamt kann man aber nach vier Stunden grandioser pianistischer Meisterschaft konstatieren, dass die technische Perfektion zwar offenbar der kleinste gemeinsame Nenner sein mag, aber immer die musikalische Substanz im Vordergrund stand, man die Werke selbst neu mitleben konnte, keine rein artistischen Höhenflüge. Es mag allgemein etwas an ganz persönlicher Aura jedes einzelnen gefehlt haben, an herausragendem „gewissen Etwas“, andererseits ist es doch ein Qualitätsmerkmal sondergleichen, alle Werke in ihrer Substanz und nicht Selbstdarsteller die sich äußerlich darüber erheben gehört zu haben.