SCHUMANN, Robert: Symphonie Nr. 2 C-Dur op. 61
Eigentlich ist dies ja Schumanns bereits 3. Symphonie. Denn nach der Ersten hat er 1841 eine weitere komponiert, die aber erst 1851 veröffentlicht wurde (als Vierte). Die Symphonie Nr. 2 C-Dur op. 61 entstand 1845/46 (Revision 1846/47) nach einer gesundheitlich schwierigen Zeit für Robert Schumann. Im Herbst 1844 zog er mit seiner Familie von Leipzig nach Dresden, doch er war erschöpft und krankheitsanfällig, er litt an Depressionen, Schlaflosigkeit und Ängsten. Genau in dieser Phase begann er, sich intensiv mit Bachs Polyphonie zu befassen, was dann auch in das neue Werk einfließen sollte.
Ich höre den ersten Satz (Sostenuto assai – Allegro ma non troppo) als ein das Gerüst des Sonatensatzes (Einleitung, Exposition mit Wiederholung, Durchführung, Reprise und Coda) aufbrechendes bzw. vielfach sogar bewusst verstörendes Gebilde, als wäre da jemand gar nicht wirklich da, als bewegte er sich verunsichert bis unkontrolliert über dem Formgefüge. Da ist das fanfarenartige Motiv mit der Quint in der Einleitung, das wie ein Leitmotiv später wiederkehren wird, auch in den Sätzen 2 und 4, das signalartig aufgefasst werden kann oder mahnend, vielleicht sogar bedrohlich. Da ersteht der Hauptsatz nicht strahlend oder zurückgenommen aus der Einleitung, sondern wie ein „Plopp“, mehr eine Implosion als eine Explosion, kein selbstbewusster Neustart, sondern die Fortsetzung einer Reise ins Ungewisse. Da verstören abrupte Stillstände in der ersten Exposition, und die Fanfare meldet sich das erste Mal wieder. Da gilt es in dem Teil, den man als Durchführung wahrnehmen könnte, einen Schmerz zu beklagen, oder ist es nur Wehmut, die Erinnerung an einen Schmerz, oder ein Wehklagen über jemand anderes Schmerz? Auch in der Reprise klingt dieses vielleicht unentschiedene Changieren zwischen Klage und Wehmut durch, Passagen, die besonders wehtun können oder besonders schön sind, je nach Interpretation. In der Coda betont das Fanfarenmotiv seine zentrale Bedeutung erneut.
Das Scherzo (Allegro vivace) mit seinen zwei Trios (Scherzo an zweiter Stelle, auch das ist an sich ungewöhnlich!) kann einen Getriebenen, Rastlosen, Atemlosen schildern, die Trios mögen dann auch brüchig und fiebrig wirken, es kann eine Demonstration von Orchestervirtuosität darstellen oder es kann eine Art Elfentanz suggerieren, wie bei Mendelssohn-Bartholdy. Der Satzschluss, der wieder die Fanfare zitiert, mag als reines Orchesterfurioso oder als Apotheose eines besonders intensiven Fieberschubs daherkommen.
Der große langsame Satz (Adagio espressivo) kann bei entsprechender Interpretation so ein „Zentrum der Welt“ Satz werden, ein Höhepunkt der romantischen Musik schlechthin, eine expressive Seelenentblößung, oder auch dieser Satz bleibt fiebrig, er zieht sich dann quasi noch extremer in Fieberphantasien zurück. Das Hauptthema ist wohl von Bach inspiriert (Largo aus dem „Musikalischen Opfer“), und auch im Mittelteil gemahnt die schreitende Bewegung an Bachs Strenge. Wenn sich aus dieser Strenge die hochromantische Motivik zu emanzipieren beginnt, ergibt das einen faszinierenden, möglicherweise manche „verstörenden“ Aufeinanderprall musikalischer Welten.
Als würde jemand ins Zimmer platzen und die Fenster aufreißen, das Fieber ist weg, es ist Zeit durchzulüften, mit neuer Kraft heißt es hinaus in die Welt, so verheißungsvoll setzt das Finale (Allegro molto vivace) ein. Das fiebrige Motiv des dritten Satzes ist Erinnerung geworden, man kann damit gedanklich spielen, es auch umkehren, aber da meldet sich die Fanfare erneut, muss man doch weiter vorsichtig sein, ist man noch immer nicht ganz gesund? Anhalten, Stillstand. Findet sich der Einzelne mit seinem Schicksal ab? „Nimm sie hin denn, meine Lieder“, Zitat aus Beethovens Zyklus „An die ferne Geliebte“, ein Motiv, mit dem man Boden unter den Füßen gewinnen mag. Es „durchblutet“ die zweite Satzhälfte. Beethoven war wohl auch als Vorbild für das Ende der Symphonie, es ist kräftig, quasi die Apotheose des Fanfarenmotivs.
Eine „ganz normale, vielleicht etwas eigenwillige Symphonie“, oder ein vehement „psychologisches Werk“, gar die Aufarbeitung einer Krankheitsphase mit den musikalischen Möglichkeiten einer Symphonie? Reclams Konzertführer (Ausgabe 2001) meint, klassisches Sinfoniemodell und Kontrapunkt im Tonsatz kollidieren reizvoll bis „störend“ die „poetische Idee“.
Im Beiheft zu seiner Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern (CD DGG 410 863-2) veröffentlicht der Dirigent, Psychiater, Komponist und Archäologe Giuseppe Sinopoli (1946-2001) „Einige Bemerkungen über Gesundheit und Krankheit in Schumanns Erfindungskraft, betreffend die 2. Symphonie“. Sinopoli schreibt von der „Verhaftung des Subjekts mit seinen Ausdrucksmitteln“, der Klang entstehe intuitiv, das Komponieren werde „zur Leuchtspur einer haltlosen Raserei“. Die Psychologie der Musik verwerfe die Schulmäßigkeit. Auch den dritten Satz nennt Sinopoli „krankhaft“, seine Verzweiflung schildere die „drückende Atmosphäre der schwülen Nacht“. Im vierten Satz, der „gesund“ beginnt, kehrt der dritte als Erinnerung zurück.
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Giuseppe Sinopolis Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern (CD schon genannt, DGG 410 863-2, Musikverein Wien, Juni 1983) erfüllt so wie ich es höre kongenial bis wirklich faszinierend verstörend Sinopolis textliche „Vorgaben“. Das Werk gibt sich hier zwingend nervös, bis zu wahnhafter Besessenheit, eine Abfolge von Fieberphantasien, von Fieberschüben, eingebettet aber sehr wohl in die Wiener Philharmonische Klangpracht, alle vier Sätze durch. Der erste Satz erscheint als eine Abfolge von Fieberschüben, der zweite Satz getrieben, der dritte auch wieder fiebrig, das Finale euphorisch bis trotzig. Alle Virtuosität des Orchesterspiels erscheint in dieser Aufnahme vehement psychologisiert.
Fehlt etwas, wenn Interpretationen diese fiebernde Nervosität ausblenden, wenn sie stattdessen aus einer selbstbewussten Stabilität heraus ein großes romantisches Seelengemälde entwerfen? Ich meine: Es fehlt dann etwas, wenn man Sinopolis Deutung als überzeugend ansieht und sie zutiefst bewegend empfindet. Zumindest hört man dann die ganze „fiebrige Dimension“ auch dort mit, wo sie interpretatorisch nicht intendiert scheint, aber dort eben nur mehr als nicht mit angebotene „Möglichkeit“.
Persönliche Gedanken zu einigen weiteren Aufnahmen folgen in Kürze.