Bach, J. S.: Kantate Nr. 131 „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir“
Genau datieren kann man diese Kantate nicht, doch das erhaltene Autograph enthält folgende Zeilen in Bachs Handschrift: Auff begehren Tit: Herrn D: Georg Christ: Eilmars in die Music gebracht von Joh. Seb. Bach Org. Molhusino. Damit kann man die Zeit der Erstaufführung eingrenzen auf Bachs Zeit als Organist zu Mühlhausen, vom 01. Juli 1707 bis zum 14. Juli 1708.
Der Text der Kantate besteht aus dem um zwei Liedstrophen ergänzten 130. Psalm; dies ist der sechste der sogenannten Bußpsalmen. Die Bachforscher haben nach einem Anlass für einen Gottesdienst gesucht, in dem ein solches Werk hätte aufgeführt werden können. Fündig wurde man bei einem Großfeuer, das im Mai 1707 weite Teile Mühlhausens vernichtet hat. Möglicherweise, so die Vermutung, hat man die Kantate in einem darauf bezogenen Buß- oder Gedenkgottesdienst im Juli gesungen und gespielt. Tadashi Isoyama stellt in Beiheft der Suzuki-Einspielung diesen Gottesdienst als Tatsache hin, Wikipedia behauptet hingegen, dass ein solcher Gottesdienst in den zeitgenössischen Quellen nicht belegt sei. Falls die Vermutung zuträfe, so wäre BWV 131 die erste Kantate in Bachs Mühlhäuser Zeit, ein eventuelles Bewerbungsstück nicht mitgezählt.
Die Chronologie der frühen Kantaten ist nicht gut gesichert. BWV 150 („Nach dir, Herr, verlanget mich“) gilt als wahrscheinlichster Kandidat für die älteste erhaltene Kantate Bachs und wurde vielleicht sogar noch in Arnstadt aufgeführt. BWV 4 („Christ lag in Todes Banden“) könnte für die Bewerbung in Mühlhausen entstanden sein, also Ostern 1707, dann käme BWV 131. In die Zeit bis Bachs Umzug nach Weimar im Juli 1708 gehören noch die Begräbnismusik BWV 106 (Actus tragicus, „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“), die Hochzeitskantate BWV 196 („Der Herr denket an uns“), die Ratswechselkantate BWV 71 („Gott ist mein König“, UA 04. Februar 1708) sowie das nur fragmentarisch überlieferte Werk BWV 223 („Meine Seele soll Gott loben“).
Jedenfalls reicht die Bemerkung auf dem Autograph aus, um diese Kantate in die zeitliche Nachbarschaft der Ratswechselkantate BWV 71 zu stellen.
Bereits ihr Text aus Psalm und Choral zeigt, dass die Kantate Vorbildern folgt, die selbst dem jungen Mühlhäuser Bach nicht gerade als avantgardistisch gelten konnte. Rezitative fehlen ebenso wie Arien nach italienischem Vorbild. Das Werk steht eher einer Motette mit ineinander übergehenden Abschnitten nahe, die nachfolgende Darstellung als Nummernkantate ist tendenziell irreführend. Die Besetzung mit Oboe, Fagott, einer Violinstimme, aber zwei Bratschenstimmen sowie B. c. muss zumindest individuell genannt werden – Bach setzte wohl ein, was man ihm zur Verfügung stellte.
Der Text des ersten Teiles ist Ps 130, 1+2:
1. Sinfonia und Chor
Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir.
Herr, höre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!
Teil 2 ist ein Arioso für Bass mit Choral im Sopran. Der dritte und vierte Psalmvers werden mit der zweiten Strophe des Liedes „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut“ von Bartholomäus Ringwaldt (1532-1599) kombiniert.
2. Arie und Choral
Psalm
So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen?
Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.
Choral
Erbarm dich mein in solcher Last,
Nimm sie aus meinem Herzen,
Dieweil du sie gebüßet hast
Am Holz mit Todesschmerzen,
Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.
Auf dass ich nicht mit großem Weh
In meinen Sünden untergeh,
Noch ewiglich verzage.
Zentral steht ein Chor über Vers 5:
Nr. 3 Chor
Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort.
Als Pendant zu Nr. 2 folgt nun abermals ein Arioso mit Choral - Vers 6 des Psalms und Strophe 5 des Liedes. Die genannten Könige David und Manasse stehen als Beispiele für Menschen, die Unrecht begangen hatten, gestraft worden waren und doch noch Vergebung erlangten. (David: 2. Sam 11, 1 – 12, 25 + Ps 51; Manasse: 2. Kön 21, 1-18 + 2. Chr 33, 1-13)
Nr. 4 Arie und Choral
Psalm:
Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zu der andern.
Choral:
Und weil ich denn in meinem Sinn,
Wie ich zuvor geklaget,
Auch ein betrübter Sünder bin,
Den sein Gewissen naget,
Und wollte gern im Blute dein
Von Sünden abgewaschen sein
Wie David und Manasse.
Als letzter Teil stehen die letzten beiden Verse des Psalms:
Nr. 5 Chor
Israel hoffe auf den Herrn; denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.
Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.
Die symmetrische Anlage (Sinfonia und Chor – Arie und Choral – Chor – Arie und Choral – Chor) ist unschwer zu erkennen.
Hier die fünf Teile von BWV 131 mit ihrer Besetzung im Überblick:
1. Sinfonia und Chor „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir“ – Sopran, Alt, Tenor, Bass, Oboe, Fagott, Violine, Viola I/II, B. c.
2. Arie und Choral „So du willst, Herr, Sünde zurechnen“/„Erbarm dich mein in solcher Last“ – Sopran, Bass, Oboe, B. c.
3. Chor „Ich harre des Herrn“ – Sopran, Alt, Tenor, Bass, Oboe, Fagott, Violine, Viola I/II, B. c.
4. Arie und Choral „Meine Seele wartet auf den Herrn“/„Und weil ich denn in meinem Sinn“ – Alt, Tenor, B. c.
5. Chor „Israel hoffe auf den Herrn“ – Sopran, Alt, Tenor, Bass, Oboe, Fagott, Violine, Viola I/II, B. c.