Claude Debussy - Einzelgänger oder die Farbe in der Musik

  • Claude Debussy - Einzelgänger oder die Farbe in der Musik

    Hallo,

    ich bin erstmal erstaunt, das es keinen Thread zu Debussy im Forum gibt.

    Vielleicht bin ich nicht gerade der Berufene um über Debussy zu schreiben, aber Anlass ist, das Buch von Ingo Metzmacher
    "Keine Angst vor neuen Tönen", das ich gerade lese. Hier porträtiert er einige (relativ) moderne Komponisten, unter anderem
    Debussy.
    Debussy ist mir schon früh begegnet, so mit 20 oder 23 hörte ich ihn hin und wieder und dann immer mal wieder, ohne das bei mir Begeisterung entstand.
    Um es kurz zu sagen mir fehlte die Struktur in seiner Musik. Klangfarbe war mir noch kein Begriff, seit gestern, bedingt durch Metzmachers Buch, ist mir das ein Begriff, aber ohne den Begriff zu begreifen, ich habe eine Ahnung bekommen.
    Mir fehlt immer noch die Struktur in seiner Musik, aber das ist Programm, die Gleichberechtigung der Stimmen, das kannte man
    vorher nicht. Also las ich gestern das Porträt von Debussy und hörte die gepriesenen Orchesterstücke, immer und immer wieder,
    und auch hier bekam ich eine Ahnung, wie innovativ das zu seiner Zeit gewesen sein muss.

    Ich hoffe es gibt Mitglieder die diesen Thread bereichern werden, auch in kritischer Hinsicht, denn noch bin ich mir nicht sicher, ob sich da eine Liebe entwickelt, oder ob ich ein distanzierter Betrachter seiner Musik bleiben werde.

    Gruß, HollaD

  • die Gleichberechtigung der Stimmen, das kannte man
    vorher nicht.

    Was meinst Du denn damit?
    "Gleichberechtigung der Stimmen" gehört jetzt nicht zu den Dingen, die ich explizit Debussy zuordnen würde...

    Schon garnicht in den weit über den vierstimmigen Satz hinausgehenden Akkordgebilden, wo für mein Verständnis die Gesamtfarbe zählt, aber die Einzelstimme?

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Zitat von »HollaD«



    die Gleichberechtigung der Stimmen, das kannte man
    vorher nicht.
    Was meinst Du denn damit?
    "Gleichberechtigung der Stimmen" gehört jetzt nicht zu den Dingen, die ich explizit Debussy zuordnen würde...

    Schon garnicht in den weit über den vierstimmigen Satz hinausgehenden Akkordgebilden, wo für mein Verständnis die Gesamtfarbe zählt, aber die Einzelstimme?


    Ich zitiere mal Metzmacher

    ...Und wenn man sich ganz in sie versenkt, erkennt man das alle Instrumente sich gleichberechtigt am Fortgang der Musik beteiligen: Dort gibt es keine Haupt- und Nebenstimmen.
    Er spricht in dem Absatz von dem Orchesterstück "Jeux".

    Gruß, HollaD

  • Ich würde bei Debussy eher von einer Emanzipation von Klanggestalten gegenüber den damals herrschenden Regeln der Stimmführung und der harmonischen Fortschreitung sprechen. Es gibt da eine Anekdote, nach der sich der junge Debussy beim Improvisieren auf dem Klavier im Konservatorium den Unwillen eines Lehrers zugezogen haben, der die Akkordverbindungen, die er da hören mußte, als nicht regelgerecht kritisierte. Debussy habe schlicht geantwortet: "Warum denn nicht, es klingt ja schön so!" Klänge zu verbinden, einfach weil das schön klingt, darin hat er eine Meisterschaft entwickelt, die für die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts bedeutend wurde. Man könnte von einer radikalen Umdeutung musikalischer Logik sprechen.

    Was die Orchestermusik angeht, dürfte in dieser Hinsicht Jeux (1913) den Höhepunkt darstellen. Das Buch von Metzmacher kenne ich nicht, aber vielleicht hat er dieses Werk ebenfalls gepriesen?

    :wink:

    PS: Ich sehe, meine Vermutung stimmt. :)

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • "Gleichberechtigung der Stimmen" ist so ein Ausdruck, der auch oft im Zusammenhang mit Polyphonie verwendet wird. In der Vokalpolyphonie der Renaissance beispielsweise ist die Gleichberechtigung der einzelnen Stimmen ja geradezu stilprägend. Dort bedeutet "Gleichberechtigung" gleichzeitig Unabhängigkeit von den anderen Stimmen. Jede Stimme nimmt einen individuellen melodischen Verlauf. Wenn Debussy irgendwelche Akkordmixturen aufwärts oder abwärts schiebt, ist die Einzelstimme natürlich kein bisschen unabhängig. Damit der Akkordklang erhalten bleibt, müssen die Stimmen geradezu ein Kollektiv bilden, in dem die Einzelstimme keinen Eigencharakter mehr aufweist. Wahrscheinlich ist das der Grund für Philmus´ Irritation gewesen.

    Dennoch kann man überlegen, ob die Gleichberechtigung der Einzelstimme bei Debussy nicht doch irgendwie vorhanden ist. Der große Gegner der Stimmgleichberechtigung ist ja die Homophonie. Chef ist die Melodie, zweitwichtigster Kandidat ist der Bass, die anderen sind lediglich dazu da, um die Akkorde vollständig zu machen (arme Bratschen...). Das allerdings gibt es zumindest bei den fortschrittlicheren Debussy-Stücken (Jeux z. B.) auch wieder nicht. Die Einzelstimme ist hier an eine Klanggruppe gebunden, die Klanggruppen werden aber nicht hierarchisch in Haupt- und Nebenklänge eingeteilt.

    Schönberg notiert noch Jahre später immer wieder penibel sein H und N für Haupt- und Nebenstimme in den Partituren. Da hat Debussy doch eine ganz eigene Emanzipation durchgezogen: Statt Emanzipation der Dissonanz, ist es bei ihm die Emanzipation der Nebenstimmen.

    (Nur mal so als These... keine Ahnung, ob sie einer gewissenhaften Prüfung standhalten würde).

    Tharon.

  • Dort bedeutet "Gleichberechtigung" gleichzeitig Unabhängigkeit von den anderen Stimmen.

    Aber dialektisch verstanden. Gleichzeitig sind ja die Stimmen in höchstem Maße voneinander abhängig (durch die strengen Regeln des Kontrapunkts). In dem Sinne haben sich die Stimmen eigentlich bei Schönberg emanzipiert: jede Stimme folgt ihren eigenen melodisch-harmonischen "Gesetzen" und ist in diesem Sinne nicht auf die übrigen Stimmen angewiesen. (Natürlich könnte man kritisieren, dass Schönberg in dem Punkt inkonsequent ist, denn er behält im wesentlichen das Prinzip komplementärer Rhythmik bei, die Stimmen sind also rhythmisch-metrisch doch noch voneinander abhängig).

    Die Idee von der Unabhängigkeit der Stimmen ist bei genauerem Hinsehen unglaublich schwer zu fassen...

  • Die Idee von der Unabhängigkeit der Stimmen ist bei genauerem Hinsehen unglaublich schwer zu fassen...

    In der Tat. Deswegen fiel es mir auch eher schwer, darin ein Alleinstellungsmerkmal (oder auch nur eine Errungenschaft speziell) von Debussy zu erkennen...

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Zitat von ralphb

    Aber dialektisch verstanden. Gleichzeitig sind ja die Stimmen in höchstem Maße voneinander abhängig (durch die strengen Regeln des Kontrapunkts).

    Ja, das stimmt natürlich. Mir ging es nur darum darzustellen, dass es unterschiedliche Arten von Gleichberechtigung gibt. Die von "Jeux" ist eine andere als die der Renaissancemusik.

    Tharon.

  • In dem Sinne haben sich die Stimmen eigentlich bei Schönberg emanzipiert: jede Stimme folgt ihren eigenen melodisch-harmonischen "Gesetzen" und ist in diesem Sinne nicht auf die übrigen Stimmen angewiesen. (Natürlich könnte man kritisieren, dass Schönberg in dem Punkt inkonsequent ist, denn er behält im wesentlichen das Prinzip komplementärer Rhythmik bei, die Stimmen sind also rhythmisch-metrisch doch noch voneinander abhängig).

    Na ja, mal abgesehen von der Zwölfton-Technik: Schönberg selbst hat mal halb im Scherz "umgekehrte" Kontrapunktik in Anspruch genommen: Konsonanzen kommen nur im Durchgang und auf unbetonten Taktzeiten vor. Ist aber was dran, und da die Dissonanzen die Minderheit unter den Intervallen bilden (K : D = 7 : 5), ist diese Kontrapunktik sogar strenger als die traditionelle ...
    Gruß, zabki

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Na gut, in gewisser Hinsicht ist die atonale Musik natürlich auch immer von ihrem Hintergrund, der tonalen, abhängig, indem sie sie negiert.
    Aber so einfach ist das mit dem tonalen Kontrapunkt, v. a. dem des 16. Jahrhunderts, natürlich nicht. Es geht ja nicht nur um das Verhältnis von Konsonanz und Dissonanz, diese Polarität führt schon simplifizierend in die Irre (unterschlägt z. B. die Differenzierung von perfekten und imperfekten Konsonanzen, rhythmische Dissonanzen (durch Ligaturen), durch die Skala bedingte Dissonanzen usw.). Daher bleibe ich dabei: Die größte Abhängigkeit voneinander besitzen die Stimmen in der Renaissance-Polyphonie.

  • In der Ren.-Pol. sind die Stimmen ja nicht unabhängig sondern selbständig.
    Vielleicht wegen so einer Verwechslung eine Verwirrung hier.
    ;+)

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Die Einzelstimme ist hier an eine Klanggruppe gebunden, die Klanggruppen werden aber nicht hierarchisch in Haupt- und Nebenklänge eingeteilt.

    Konsequenterweise müßte man wohl sagen, daß auch nicht die Oberstimme als Melodie die Hauptsache ist, sondern der Akkord als Klangganzes. In dem Sinne kann ich Metzmachers Aussage verstehen und nachvollziehen.

    Schönberg selbst hat mal halb im Scherz "umgekehrte" Kontrapunktik in Anspruch genommen: Konsonanzen kommen nur im Durchgang und auf unbetonten Taktzeiten vor. Ist aber was dran, und da die Dissonanzen die Minderheit unter den Intervallen bilden (K : D = 7 : 5), ist diese Kontrapunktik sogar strenger als die traditionelle ...

    Interessanter Gedanke...

    die Differenzierung von perfekten und imperfekten Konsonanzen

    Denen allerdings, wo wir bei Debussy sind, die vielen Abstufungen in traditionellem Sinne "dissonanter" Klänge entsprechen - die man ja in dem Kontext nicht als dissonant empfindet, sondern als verschiedene Farben mit unterschiedlicher "Rauheit"... Nicht nur die Quintparallelen hat er vom Stigma des "häßlichen" befreit, sondern eine ganze Menge Klänge und Klangverbindungen so beleuchtet, daß eine ganze Welt neuer "Wohlklänge" hörbar wurde.

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  • In der Ren.-Pol. sind die Stimmen ja nicht unabhängig sondern selbständig.

    Die Selbständigkeit der Stimmen wird immer relativ sein zu einem Ganzen, auf das sie sich beziehen...

    Auch Mahler hat seinen Anteil in dem, was er "seine Polyphonie" nennt: das manchmal recht rücksichtslose Beieinander von Figuren aus völlig unterschiedlichen Sphären... Da funktionieren auch unerwartet Gleichzeitigkeiten, die jeder klassischen Kontrapunktregel widersprechen.

    Schon bei Beethoven kann man manche Härte feststellen im Kontrapunkt, die aber in der Praxis - funktioniert.

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  • In der Ren.-Pol. sind die Stimmen ja nicht unabhängig sondern selbständig.

    Ich würde höchstens sagen: gleichberechtigt, wobei auch das nicht stimmt, denn der Bass hat eine andere Funktion als der Tenor und dieser wiederum eine andere als der Sopran (satztechnisch). Selbstständig sind sie aber ja auch nicht: Dissonanzen entstehen erst durch zwei Stimmen, d. h. die eine ist abhängig von der anderen. Die Bassklausel ist abhängig von der Sopranklausel usw.

    Zitat

    Konsequenterweise müßte man wohl sagen, daß auch nicht die Oberstimme als Melodie die Hauptsache ist, sondern der Akkord als Klangganzes. In dem Sinne kann ich Metzmachers Aussage verstehen und nachvollziehen.

    Interessanterweise soll Debussy beim Klavierspielen ja vermieden haben, die Oberstimme hervorzuheben.

  • Interessanterweise soll Debussy beim Klavierspielen ja vermieden haben, die Oberstimme hervorzuheben.

    Nur konsequent. Wobei man ähnliches auch schon in früherer Musik finden kann: Akkorde, die als Akkorde gemeint sind und nicht nur als harmonisierte Melodie...

    Ich würde höchstens sagen: gleichberechtigt, wobei auch das nicht stimmt, denn der Bass hat eine andere Funktion als der Tenor und dieser wiederum eine andere als der Sopran (satztechnisch). Selbstständig sind sie aber ja auch nicht: Dissonanzen entstehen erst durch zwei Stimmen, d. h. die eine ist abhängig von der anderen. Die Bassklausel ist abhängig von der Sopranklausel usw.

    Die Kunst besteht ja gerade darin, dieses Geflecht von Abhängigkeiten quasi vergessen zu lassen: die Stimmen so zu führen, daß sie sich scheinbar (?) selbständig entwickeln, ihre "Melodie" aussingen, ohne in Konflikt mit den Anderen zu geraten. Eine wirkliche Selbständigkeit wäre free jazz mit Ohrenstöpseln, mindestens polytonal etc..
    das Bezugssystem ist in der RP natürlich ein anderes als bei Debussy... Ich kenne mich nicht so sehr gut aus, aber die Stimmen sind doch alle aus derselben diatonischen Leiter gebildet, oder? (bis auf kleine Abweichungen in den Schlußformeln...)

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  • Ich würde höchstens sagen: gleichberechtigt, wobei auch das nicht stimmt, denn der Bass hat eine andere Funktion als der Tenor und dieser wiederum eine andere als der Sopran (satztechnisch). Selbstständig sind sie aber ja auch nicht: Dissonanzen entstehen erst durch zwei Stimmen, d. h. die eine ist abhängig von der anderen. Die Bassklausel ist abhängig von der Sopranklausel usw.

    Ich sagte ja nicht unabhängig sondern selbständig - im wörtlichen Sinne: Die Stimme kann für sich selbst stehen. Singe Dir einmal eine Stimme aus der Missa Pape Marcelli vor, und Du wirst verstehen, was ich meine.

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  • Schon klar. Ich bezweifle aber, dass die Stimmen wirklich so selbstständig (im wörtlichen Sinne) sind. Die Stimmen implizieren vor allem mit ihren Klauseln und Ligaturen vielmehr immer mindestens eine weitere Stimme, auf die sie sich beziehen. Und wenn diese nicht erklingt (etwa, wenn man die Stimmen einzeln singt), sind sie trotzdem virtuell anwesend. Sonst ergäbe z. B. die Syncopatio der Sopranklausel keinen Sinn (sie impliziert mindestens die Sekunde darüber bzw. Septe darunter, also die Tenorklausel). Aber was man natürlich jeder Stimme attestieren kann: einen melodischen Reichtum, der keine Stimme weniger beseelt macht als eine andere. Oder anders gesagt: Keine Stimme ist absolut "Dienerin" der anderen, sondern die Hierarchie ist jederzeit flexibel.

  • Na gut, in gewisser Hinsicht ist die atonale Musik natürlich auch immer von ihrem Hintergrund, der tonalen, abhängig, indem sie sie negiert.
    Aber so einfach ist das mit dem tonalen Kontrapunkt, v. a. dem des 16. Jahrhunderts, natürlich nicht.

    Bestimmt nicht, mir ging es nur darum, diesen Satz aus #7:

    Zitat

    jede Stimme folgt [bei Schönberg] ihren eigenen melodisch-harmonischen "Gesetzen" und ist in diesem Sinne nicht auf die übrigen Stimmen angewiesen.

    so nicht stehen zu lassen.

    ---
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    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • Klangfarbe und Simultanität der Ereignisse

    Die Diktion "Gleichberechtigung der Stimmen" ist etwas unglücklich gewählt (obwohl es in einem weiteren, die Metaebene betreffenden Sinne wieder zutrifft) -
    besser wäre der Begriff des simultanen Ereignisses.

    Mit einer strengen imitatorischen Polyphonie vorbach'scher Zeit hat das Ganze nichts zu tun, und Bach selbst wendet seine geniale Fugentechnik schon im tonalen Bewusstsein der erweiterten Funktionalität und enharmonischen - darin fast grenzenlos - Selbstverständnisses an.
    Die danach kommenden Generationen reduzierten bewusst die musikalische Architektur auf das Wesentliche (Welt der Harmonien, ihrer Umkehrungen und Erweiterungen), um der Idee, dem Thema Gestalt, Raum und Ausdruck zu geben. Und niemand käme auf den Gedanken, einem Mozart oder einem Beethoven die Beherrschung und In-Szene-Setzung eines polyphones Geflechts abzusprechen.

    Debussy selbst bezieht sich immer wieder auf den klassisch-romantischen Satzbau, auch wenn viele seiner Zeitgenossen seine Schreibweise als zu komplex empfanden und ihm besserwisserisch dazu rieten, zu vereinfachen und zu reduzieren.

    Aber was ist neu und epochal an Claude Debussy?

    Nun, es ist auf der einen Seite die Einführung der Klangfarbe und zum anderen - wie ich es nenne - das simultane Ereignis, das sich unter Debussys gestalterischem Genius fast notgedrungen aus dem ersten ergibt (das Feld der Polyrhythmik und des freien Taktmaßes lasse ich hier einmal außen vor).
    Ein Cis über D-Dur ist nun einmal etwas anderes wie ein Cis über E-Dur, eine ganze melodische Phrase aber zwingt die Harmoniewendungen zu neuen tonalen Zuordnungen und damit zu vollkommen anderen Resultaten.
    Genau aber das ist es, was zu jenen simultanen Ereignissen führt, zu quasi metamorph sich unentwegt neu bildenden, gleichzeitig ablaufenden, melodischen Wendungen. (Aber Debussy wäre nicht der Meister, wenn er das neu Gestaltete, das Herausgehörte nicht aufnehmen und es bis zur Hauptstimme korrespondierend wachsen lassen würde - Stichwort Organik.)

    Exemplarisch steht dafür 'Prélude à L'après-midi d'un faune' - ein zehnminütiges Werk, an dem Debussy zwei Jahre schrieb - zu revolutionär und zu unerhört war die Arbeit!
    Und man kann hier anhand der Partitur schon in den ersten 35 Takten wunderbar verfolgen, wie das genial herausgehörte, zwischen Cis-Moll und E-Dur schwebende, chromatisierende Thema, sich über den harmonisch-kühnen, sich stetig verändernden Harmonisierungen in neuem Licht und neuer Bewegung zeigt, während sich innerhalb der zuerst untergeordneten akkordischen Linien neue selbstständige Motive bilden (Takt 11 über D-Dur, 2. Umkehrung G-Dur mit Septime F und None A nach 3. Umkehrung Fis-Moll mit Sexte Dis und fortlaufend; Takt 21 über E-Dur mit Sexte Cis, C-Dur nach 1. Umkehrung Cis-Moll mit Sexte Ais über deren Erscheinen, in Bratschen und Celli oktavierend vorgetragen, ein eigenständiges, später autark behandeltes Thema erklingt, usw...).

    - Aber das Alles wäre einen eigenen musiktheoretischen Bericht wert -

    Anzuführen wäre noch, dass diese Verfahrensweise der herausgehörten Simultanität der musikalischen Ereignisse - im Gegensatz zur freien imitatorischen Polyphonie eines Schönberg - erst wieder bei Alban Berg auftauchen sollte...

    Euer Scaramouche

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