Bach, J. S.: Kantate Nr. 56 „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“
Diese Kantate komponierte Bach für den neunzehnten Sonntag nach Trinitatis, den 27. Oktober 1726, also in seinem vierten Leipziger Amtsjahr. Sie gehört zu den bekannteren Gattungsbeiträgen des Thomaskantors. Das mag teilweise an der Besetzung liegen, denn sie ist ein Repertoirestück für alle Baritöne und Bässe, die sich überhaupt Bach widmen. Noch viel mehr sind wohl der bildhafte Text und die herrliche, eindringlich nachzeichnende Vertonung ursächlich für ihre Beliebtheit, denn hier liegt der nicht unbedingt häufige Fall einer in Musik und Text überzeugenden Kantate vor.
Das Evangelium zu diesem Sonntag stand damals bei Matthäus im neunten Kapitel (heute liest man an diesem Tag die Parallelstelle bei Markus, Mk 2, 1-12): Da stieg er in ein Boot und fuhr hinüber und kam in seine Stadt. Und siehe, da brachten sie zu ihm einen Gelähmten, der lag auf einem Bett. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Und siehe, einige unter den Schriftgelehrten sprachen bei sich selbst: Dieser lästert Gott. Als aber Jesus ihre Gedanken sah, sprach er: Warum denkt ihr so Böses in euren Herzen? Welches ist leichter, zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf und geh umher? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden die Sünden zu vergeben, sprach er zu dem Gelähmten: Stehe auf, hebe dein Bett auf und geh heim! Und er stand auf und ging heim. Als das Volk das sah, fürchtete es sich und pries Gott, der solche Macht den Menschen gegeben hat. (Mt 9, 1-7)
Auf diese Lesung nahm der unbekannte Dichter des Kantatentextes nur punktuell Bezug, die Perikope war ihm vor allem Anlass für eine Meditation über die Erlösung von irdischem Leid durch den Tod und die dann verheißenen Seligkeiten. „Kreuz“ ist in dieser Kantate allgemein das Bild für Leiden und Not, der „Kreuzstab“ ist darüber hinaus auch der Pilgerstab, der bei der Wanderung durch diese Welt begleitet und trägt und schließlich in die andere Welt hinüberführt.
Mit diesen Bildern mag sich der Text der einleitenden Arie besser erschließen. Die letzte Zeile könnte einer bekannten Stelle aus dem Buch der Offenbarung abgelauscht sein: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen“ (Offb 7, 17b).
Nr. 1 Arie
Ich will den Kreuzstab gerne tragen,
Er kömmt von Gottes lieber Hand,
Der führet mich nach meinen Plagen
Zu Gott, in das gelobte Land.
Da leg ich den Kummer auf einmal ins Grab,
Da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab.
Rezitativ Nr. 2 knüpft andeutungsweise bei der Rahmenerzählung des Evangeliums des Sonntags an: Jesus kam mit einem Boot in „seine Stadt“, wo er den Gelähmten heilte. Der Erzähler der Kantate vergleicht sein eigenes Leben mit einer Schifffahrt, ein seinerzeit beliebtes Bild, und sieht sich selbst als denjenigen, der in „Jesu Stadt“, dem Himmelreich ankommt.
Nr. 2 Rezitativ
Mein Wandel auf der Welt
Ist einer Schifffahrt gleich:
Betrübnis, Kreuz und Not
Sind Wellen, welche mich bedecken
Und auf den Tod
Mich täglich schrecken;
Mein Anker aber, der mich hält,
Ist die Barmherzigkeit,
Womit mein Gott mich oft erfreut.
Der rufet so zu mir:
Ich bin bei dir,
Ich will dich nicht verlassen noch versäumen!
Und wenn das wütenvolle Schäumen
Sein Ende hat,
So tret ich aus dem Schiff in meine Stadt,
Die ist das Himmelreich,
Wohin ich mit den Frommen
Aus vielem Trübsal werde kommen.
Die nächste Arie malt die Erlösung von den Leiden der Erde im Himmel aus. Die „Kraft“, des „Adlers Eigenschaft“, findet sich bei Deuterojesaja: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler“ (Jes 40, 31).
Nr. 3 Arie
Endlich, endlich wird mein Joch
Wieder von mir weichen müssen.
Da krieg ich in dem Herren Kraft,
Da hab ich Adlers Eigenschaft,
Da fahr ich auf von dieser Erden
Und laufe sonder matt zu werden.
O gescheh es heute noch!
Der Todeswunsch „O gescheh es heute noch“ findet im letzten Rezitativ seine weitere Entfaltung. Mit dem „Port der Ruhe“ wird nochmals das Bild von der Schifffahrt bemüht. Aus der ersten Arie werden die letzten beiden Textzeilen wieder aufgenommen.
Nr. 4 Rezitativ
Ich stehe fertig und bereit,
Das Erbe meiner Seligkeit
Mit Sehnen und Verlangen
Von Jesus Händen zu empfangen.
Wie wohl wird mir geschehn,
Wenn ich den Port der Ruhe werde sehn.
Da leg ich den Kummer auf einmal ins Grab,
Da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab.
Der Schlusschoral ist die sechste Strophe des Liedes „Du, o schönes Weltgebäude“ von Johann Franck (1618-1677). In dieser Kantate ist der Anschluss des Chorals an die übrige Dichtung besonders schlüssig und bruchlos gelungen.
Nr. 5 Choral
Komm, o Tod, du Schlafes Bruder,
Komm und führe mich nur fort;
Löse meines Schiffleins Ruder,
Bringe mich an sichern Port!
Es mag, wer da will, dich scheuen,
Du kannst mich vielmehr erfreuen;
Denn durch dich komm ich herein
Zu dem schönsten Jesulein.
Hier die fünf Sätze von BWV 56 samt ihrer Besetzung im Überblick:
1. Arie „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ – Bass, Oboe I/II, Taille, Violine I/II, Viola, B. c.
2. Rezitativ „Mein Wandel auf der Welt ist einer Schifffahrt gleich“ – Bass, Violoncello, B. c.
3. Arie „Endlich, endlich wird mein Joch wieder von mir weichen müssen“ – Bass, Oboe I solo, B. c.
4. Rezitativ „Ich stehe fertig und bereit“ – Bass, Violine I/II, Viola, B. c.
5. Choral „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder“ – Sopran, Alt, Tenor, Bass, Oboe I/II, Taille, Violine I/II, Viola, B. c.