Bach, J. S.: Kantate Nr. 79 „Gott der Herr ist Sonn und Schild“
Diese Kantate komponierte Bach für das Reformationsfest, den 31. Oktober 1725, also in seinem dritten Leipziger Amtsjahr. Sie steht vielleicht ein wenig im Schatten der recht bekannten Choralkantate „Ein feste Burg ist unser Gott“ BWV 80 zum selben Festtag, deren grandioser Eingangschor überwältigend ist. BWV 79 ist aber gleichwohl in den Chorsätzen von großer Festlichkeit. Das Instrumentarium mit Hörnern und Pauken unterstreicht den besonderen liturgischen Rang des Tages.
Als Evangelium wurde am Reformationstag in Leipzig seinerzeit eine Stelle aus der Offenbarung gelesen: „Und ich sah einen andern Engel fliegen mitten durch den Himmel, der hatte ein ewiges Evangelium zu verkündigen denen, die auf Erden wohnen, allen Nationen und Stämmen und Sprachen und Völkern. Und er sprach mit großer Stimme: Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre; denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen! Und betet an den, der gemacht hat Himmel und Erde und Meer und die Wasserquellen! Und ein zweiter Engel folgte, der sprach: Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon, die große Stadt; denn sie hat mit dem Zorneswein ihrer Hurerei getränkt alle Völker.“ (Offb 14, 6-8) – Welche Lesart von „Babylon“ bei der Leipziger Gemeinde ausgerechnet am Reformationstag im Hinterkopf mitgeschwungen haben mag, lässt sich nur vermuten. Leipzig war eine evangelische Hochburg im katholischen Sachsen.
Auf diese Lesung nahm der unbekannte Dichter des Kantatentextes kaum Bezug. Sein Anliegen ist zunächst Dank für die Bewahrung vor Feinden und für das Wissen um den rechten Weg zur Seligkeit; dann aber auch Fürbitte für die, die diesen Weg noch nicht kennen.
Dem Eingangschor liegt der zwölfte Vers aus Psalm 84 zugrunde:
Nr. 1 Chor
Gott der Herr ist Sonn und Schild. Der Herr gibt Gnade und Ehre, er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.
Die erste Arie knüpft an den Psalmvers an, dankt für Bewahrung vor Feinden und leitet so zum nächsten Choral über.
Nr. 2 Arie
Gott ist unsre Sonn und Schild!
Darum rühmet dessen Güte
Unser dankbares Gemüte,
Die er für sein Häuflein hegt.
Denn er will uns ferner schützen,
Ob die Feinde Pfeile schnitzen
Und ein Lästerhund gleich billt.
„Nun danket alle Gott“ – es folgt die erste Strophe des Liedes von Martin Rinckart (1586-1649) nach Jesus Sirach 50, 22-24.
Nr. 3 Arie
Nun danket alle Gott
Mit Herzen, Mund und Händen,
Der große Dinge tut
An uns und allen Enden,
Der uns von Mutterleib
Und Kindesbeinen an
Unzählig viel zugut
Und noch itzund getan.
Nach diesem Dank für Hege und Schutz wendet sich der Blick auf das Wissen um den rechten Weg, der durch das Wort gewiesen wird – ein reformatorischer Kerngedanke: sola scriptura. Das Besondere daran ist, dass die Katholische Kirche sich selbst in der Vermittlungsrolle zwischen Bibelwort und Gläubigen sah und die Deutungshoheit über die Heilige Schrift beanspruchte. Nach lutherischer Lehre hingegen ist die Bibel eine Schrift, die sich selbst auslegt, ist „norma normans“, die alle Grundsätze in sich selbst trägt, einschließlich der Grundsätze ihrer Auslegung. Deswegen und weil die evangelischen Kirchen die Heilsvermittlung durch Kirche und besondere Menschen (vulgo „Heilige“) ablehnen, enthält die letzte Zeile „und dich bloß (= alleine) ihren Mittler nennen“ theologischen Sprengstoff.
Nr. 4 Rezitativ
Gottlob, wir wissen
Den rechten Weg zur Seligkeit;
Denn, Jesu, du hast ihn uns durch dein Wort gewiesen,
Drum bleibt dein Name jederzeit gepriesen.
Weil aber viele noch
Zu dieser Zeit
An fremdem Joch
Aus Blindheit ziehen müssen,
Ach! so erbarme dich
Auch ihrer gnädiglich,
Dass sie den rechten Weg erkennen
Und dich bloß ihren Mittler nennen.
Das Duett fasst beide Themen nochmals zusammen: die Bitte um Bewahrung und die Bitte um das rechte Wort.
Nr. 5 Duett
Gott, ach Gott, verlass die Deinen
Nimmermehr!
Lass dein Wort uns helle scheinen;
Obgleich sehr
Wider uns die Feinde toben,
So soll unser Mund dich loben.
Der Schlusschoral ist die letzte Strophe des Liedes „Nun lasst uns Gott, dem Herren, Dank sagen und ihn ehren“ von Ludwig Hembold (1532-1598).
Nr. 6 Choral
Erhalt uns in der Wahrheit,
Gib ewigliche Freiheit,
Zu preisen deinen Namen
Durch Jesum Christum. Amen.
Hier die sechs Sätze von BWV 79 samt ihrer Besetzung im Überblick:
1. Chor „Gott der Herr ist Sonn und Schild“ – Sopran, Alt, Tenor, Bass, Horn I/II, Pauken, (spätere Fassung: zusätzlich Flauto traverso I/II), Oboe /II, Violine I/II, Viola, B. c.
2. Arie „Gott ist unser Sonn und Schild“ – Alt, Oboe I (spätere Fassung: stattdessen Flauto traverso I), B. c.
3. Choral „Nun danket alle Gott“ – Sopran, Alt, Tenor, Bass, Horn I/II, (spätere Fassung: zusätzlich Flauto traverso I/II), Oboe /II, Violine I/II, Viola, B. c.
4. Rezitativ „Gottlob, wir wissen den rechten Weg zur Seligkeit“ – Bass, B. c.
5. Duett „Gott, ach Gott, verlass die Deinen nimmermehr!“ – Sopran, Bass, Violine I/II, B. c.
6. Choral „Erhalt uns in der Wahrheit“ – Sopran, Alt, Tenor, Bass, Horn I/II, (spätere Fassung: zusätzlich Flauto traverso I/II), Oboe /II, Violine I/II, Viola, B. c.