• Mit großer Freude und ebensolchem Interesse habe ich über die Feiertage den Band „Der Fall von Gondolin“ verschlungen, den mir meine Gattin dankenswerterweise zum Fest verehrt hat.

    Es handelt sich hierbei um eine von Christopher Tolkien zusammengestellte im Jahr 2018 veröffentliche Sammlung von Texten, die um die Geschichte von Tuor (dem Sohn Huors) und dem Fall der im Tal von Tumladen gelegenen, von dem Gebirgszug Echoriat von der Außenwelt abgeschirmten (Elben-) Stadt Gondolin kreisen. Wir befinden uns im ersten Zeitalter und Melkor/Morgoth ist der große Erzfeind aller.

    Zwei der hier enthaltenen Texte wurden schon im „Buch der Verschollenen Geschichten“ („Der Fall von Gondolin“) und in „Nachrichten aus Mittelerde („Von Tuor und seiner Ankunft in Gondolin“) veröffentlicht. Ähnlich wie schon in den gesonderten Ausgaben der Geschichten um „Die Kinder Húrins“ und „Beren und Lúthien“ ist es auch hier Christopher Tolkiens Ansinnen, über die bisherigen Veröffentlichungen hinaus, weitere Vorstufen dieses „Sagenkreises“ vorzustellen, die unterschiedlichen Versionen und Fragmente zu vergleichen und zu kommentieren. Sein Ziel ist es zum einen, bestimmte Geschichten des Ersten Zeitalters besser verständlich zu machen, zum anderen will er den allzeit kräftig sprudelnden kreativen Quell seines Vaters darstellen. Beides gelingt. Eine starke Motivation für Christopher Tolkien war, dass es für ihn „vielleicht der schmerzlichste Fall von vielen [ist], in denen er [= J.R.R. Tolkien] Geschichten nicht zu Ende geführt hat.“ (S. 229)

    Und so nimmt er Leserinnen und Leser mit auf eine Reise, die mit der "Ursprünglichen Geschichte", die im Jahr 1916 (u.a. belegt durch ein Schreiben an W. H. Auden) verfasst wurde, beginnt und über das Typoskript des „Quenta Noldorinwa“ aus dem Jahre 1930 bis hin zu „Von Tuor und seiner Ankunft in Gondolin“ aus dem Jahr 1951 reicht. Flankiert werden diese Texte durch Notizen, Skizzen und Textvarianten (z.B. die 1926 entstandene „Skizze zur Mythologie“).

    Für mich war es höchst spannend, anhand des Bandes die Metsmorphosen der Geschichte um Tuor einmal komprimiert nachvollziehen zu können – und man darf mir glauben, wenn ich sage, es veränderte sich über die Jahrzehnte nicht eben wenig. Orts-, Flur- und Völkernamen (die Noldor, eine Sippe von Elben, firmieren streckenweise als Gnome!), Personennamen, ganze Charaktere und Elemente der Handlung befanden sich offenkundig seit 1916 in einem ständigen Flux und es mag eben das sein, dass dies Tolkien daran hinderte, sich mit sich selbst auf eine endgültige Version der Geschichte zu einigen. Ein anderer Grund hierfür mag mit dem erzählerischen Fokus der "Ursprünglichen Geschichte" zusammenhängen. Tolkien hatte diese 1916 während eines Krankenurlaubs verfasst, nachdem er - in seinen Worten -
    die "Schlacht an der Somme überlebt hatte." (S. 22) Selten hat Tolkien - und hier möge man jetzt einmal die ins kollektive Bewusstsein zunächst eingesickerten und dann eingebrannten Schlachtexzesse der Verfilmung von Peter Jackson ausblenden - so ausführlich, detailliert und schonungslos über ein Schlachtgeschehen geschrieben wie hier. Man mag beispielsweise mutmaßen, dass er sich Erlebtes sublimierend "von der Seele schrieb" und später damit nicht (mehr) zufrieden war, aber Schwierigkeiten damit hatte, die Geschichte des Falls von Gondolin anders aufzusetzen und einzubinden.

    Das Ganze ist jedenfalls – wenn man sich für das Erste Zeitalter interessiert und schon am „Silmarillion“ Freude hatte (von der Freude, die Christopher Tolkiens in 12 Bänden erschienene, historisch-kritische „The History of Middle Earth“ machen kann einmal ganz abgesehen) – im Grunde ein wunderbarer philologischer Spaß. Ich kann’s nur empfehlen.

    :wink: Agravain

    P.S. Weil ich es oben angesprchen habe: Zum Thema Tolkien und der Erste Weltkrieg gibt es seit einiger ein herausragendes Buch von John Garth. Vielleicht verliere ich bei Gelegenheit auch dazu einmal ein paar dilettierende Worte.

     

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!