Wie programmatisch ist französische instrumentale Barockmusik?

  • Ich habe den Artikel auch angeschaut, aber wikipedia ist nunmal eine problematische Quelle, vor allem, wenn es darum geht, Begriffsbedeutungen genauer zu nehmen. Ich habe dort auch gelesen, dass der Begriff aus dem 1800 genannten symphonie à programme abgeleitet wurde, es steht aber nicht, wann das geschehen ist und wann daraus ein Terminus wurde (muss wohl nach 1800 gewesen sein). Ich habe auch im Netz einen anderen Lexikonbeitrag gesehen, der zuerst so definiert hat, dass einige Barockstücke dazugehören müssten, dann aber auf die sinfonischen Gattungen beschränkt hat und Berlioz als Begründer nennt. Aber das läuft mit allen Termini so, wir sind ja nicht in der Mathematik hier.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Das von mir genannte Maraisstück und der Don Quichotte von Telemann ist jedenfalls mehr Programmmusik im narrativen Sinne als das meiste von Liszt.

    Das glaube ich gerne, ich nehme aber an, dass solche Stücke dann doch eher Ausnahmeerscheinungen sind. So wie diese Trompe-l'oeil-Bilder, die vortäuschen, man hätte einen Schrank vor sich, de facto ist's aber eine Leinwand mit Ölfarbe.

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  • Das glaube ich gerne, ich nehme aber an, dass solche Stücke dann doch eher Ausnahmeerscheinungen sind. So wie diese Trompe-l'oeil-Bilder, die vortäuschen, man hätte einen Schrank vor sich, de facto ist's aber eine Leinwand mit Ölfarbe.


    Der Witz ist ja, dass das für die Romantik ebenso gilt. Nicht einmal Raff oder Wagner haben im striktesten Sinn Programmmusik geschrieben. Grieg entfällt dann auch. Bleiben vor allem Strauss, Berlioz, Rimsky Korsakow, Smetana und Dvorák. Bei Dvorák und Smetana ist die Programmmusik dazu noch nur ein kleiner Teil des Gesamtwerks.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Ich habe jetzt die wenigsten von den Stücken parat, aber Tambourin ist mMn definitiv Programmmusik, da es einen Trommler darstellt.


    Tambourin bezeichnet ganz simpel einen Tanz aus der Provence, hat mit "Programm" nichts zu tun. Tambourins gibt es als Tanzsätze von zig Komponisten, auch als Balletteinlagen usw.

    Um sich am Beispiel Couperin klar zu machen, was die Titel sollten, empfehle ich folgende Lektüre:

    Vom Verlag aber wesentlich preiswerter zu bekommen: "http://www.keyword-press.co.uk/mirrordetail.htm"

  • Ich dachte der Link auf die Seiten des Verlags würde das beantworten ... bei beiden Autoren haben sich die Mühe gemacht, zu jedem Titel eine Erklärung zu suchen. Das fängt bei vergleichsweise einfachen Titeln, die einfach das zugrundeliegende Tanzmodell bezeichnen, an, geht über die Namen von Personen, denen gehuldigt wird, oder die vielleicht charakterisiert werden, zu Titeln, die eine Handlung ergeben könnten, wie die Satire auf die Mxnxstrxndxurs.
    So etwas als "Programm" zu bezeichnen, überdehnt den Begriff doch ziemlich. Mit der Verwendung später eingeführter Begriffe auf Musik aus früheren Zeiten sollte man sowieso vorsichtig sein, weil z.B. ein Begriff wie "Sonate" einem erheblichen Bedeutungswandel unterlag. Auch wenn die Musikwissenschaftler es seit dem späten 19. Jahrhundert so machen, es bringt nicht viel.

    Titel programmatisch interpretierbaren Charakters sind so alt wie die Musik selbst: Was ist mit den entsprechenden Titeln aus Frobergers Clavier-Suiten oder Kuhnaus Biblischen Sonaten? Ob die das von Franzosen hatten?
    Hier helfen nur Fakten, nicht Meinungen.

  • Kuhnaus Biblischen Sonaten?

    Kuhnaus biblische Sonaten haben aber nicht nur Titel, sondern einen langen, genauen Begleittext, der das "Programm" angibt. Die Stücke dürften auch einer strengen, dem 19.Jh. entnommenen Definition von Programmusik entsprechen.

    Bei Petrucci reinschauen lohnt sich!

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Ich weiß jetzt nicht, ob das ein Fakt oder eine auf Gerüchten beruhende Meinung ist: Von Haydn wird die Aussage zu irgendeiner seiner betitelten Sinfonien überliefert, ich glaube es war die "Maria Theresia", das habe gar nichts zu bedeuten, mit dem Titel verkaufe sich der Notendruck aber besser.

    Es könnte sein, dass auch die Franzosen mit ihren schönen Titeln erkannt haben, dass eine klangvolle Bezeichnung eben doch mehr hermacht, als die ewig gleiche Wiederholung der altbekannten Bezeichnungen für Tanzsätze, oder auch nur Tempobezeichnungen. Die Erkenntnis hat sich bis zu heutigen CD-Ausgaben gehalten, die auch bisweilen mit fantasievollen Assoziationen und nicht mit den drögen Bezeichnungen der Werke von Komponisten auf den Markt gebracht werden. Das Label ECM z.B. steht da Rameau oder Couperin in nichts nach.

    Selbst bei der "echten" Programmmusik will ich nicht ganz ausschließen, dass da auch Marketinggesichtspunkte ein Rolle gespielt haben mögen. Man stelle sich vor, Smetana hätte seinen Zyklus nicht "Mein Vaterland" genannt, sondern "Sechs sinfonische Dichtungen für großes Orchester" und die einzelnne Stücke von 1 bis 6 durchnummeriert. Zumindest in der Stadt Prag wäre die Geschichte von Konzertaufführungen und im Fall der Nummer 2 auch die der Schallplattenproduktion etwas anders verlaufen als wir es jetzt kennen. An der Musik hätte das gar nichts ändern müssen.

    Kurioserweise hat Scarlatti keine einzige seiner Sonaten betitelt, obwohl man in einigen eine Menge Programm hören kann, wenn man will und man bei über 500 schon den einen oder anderen Titel erwarten könnte. Es ist allerdings auch keine zu seinen Lebzeiten gedruckt und verlegt worden.

  • Mit der Verwendung später eingeführter Begriffe auf Musik aus früheren Zeiten sollte man sowieso vorsichtig sein

    So ist es. Also im Zweifelsfall den Begriff nicht verwenden.

    Ich habe in 3 schmalen Musikgeschichten nachgeschlagen, in den Kapiteln über Barockmusik taucht der Begriff "Programmmusik" nicht auf, in denen über Romantik natürlich schon. Eines der Bücher war übrigens in englischer Sprache, und zwei wurden in musikwissenschaftlichen/musiktheoretischen Vorlesungen an Unis empfohlen.

    Man kann sich behelfen, indem man Begriffe wählt, die ähnlich sind wie der Terminus, also "Musikstücke mit programmatischem Titel" z.B. - aber das Tambourin-Beispiel zeigt ja schön, wie man sich irren kann auch dabei.
    :wink:

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  • So ist es. Also im Zweifelsfall den Begriff nicht verwenden.


    Reden wir hier über äusserliche Definitionen oder um intrinsische Qualitäten? Meiner Ansicht nach ist ein suibstantieller Teil der Musik des Barock nicht weniger programmatisch als viele Werke der Romantik, die man salopp als "Programmmusik" bezeichnet. Die "Programmmusik" ist daher keine Errungenschaft der Romantik sondern besteht schon lange vorher. Wir sollten nicht vergessen, dass dieser Thread ein spin-off des "Was ist Romantik"-Threads ist und die hier diskutierte Thematik in diesem Zusammenhang aufgekommen ist. Ohnehin ist die Diskussion rein akademisch, denn "Programmmusik" im Sinne von Oper gibt es ja bereits seit 1600. Die Beschränkung auf das rein Instrumentale bei der Vertonung von Programmen ist eigentlich eine Randerscheinung und oft (unfreiwillig) komisch.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Es gibt ja auch noch den Ausdruck "charakteristisch". "Charakterstück" scheint zwar auch ziemlich romantisch belegt, aber Beethoven nannte seine Pastorale in Skizzen "Sinfonia caracteristica". Wieweit der Gebrauch des Ausdrucks zurückreicht, weiß ich nicht, aber ganz unpassend scheint er mir für die beigebrachten französischen Stücke nicht zu sein.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Ohnehin ist die Diskussion rein akademisch, denn "Programmmusik" im Sinne von Oper gibt es ja bereits seit 1600. Die Beschränkung auf das rein Instrumentale bei der Vertonung von Programmen ist eigentlich eine Randerscheinung und oft (unfreiwillig) komisch.

    Aber das Interessante ist doch gerade, wo und wie es (im weitesten Sinne) "programmatische" Instrumentalmusik gibt. Bei Vokalmusik ist ja ein Bezug auf einen fortlaufenden Text trivial.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Aber das Interessante ist doch gerade, wo und wie es (im weitesten Sinne) "programmatische" Instrumentalmusik gibt. Bei Vokalmusik ist ja ein Bezug auf einen fortlaufenden Text trivial.

    Ja allerdings. "Programmmusik im Sinne von Oper" ist wirklich Nonsense, was soll das bedeuten?

    Man muss die Begriffe nun mal so akzeptieren, wie sie daherkommen. Freilich kann man sich wünschen, dass sie was anderes bedeuten, aber so etwas kann man nicht einfach "für sich definieren". Da gibt's doch so eine Erzählung, wo jemand seinen Tisch Blume nennt usw. oder so. Das führt zu nichts.

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  • Ja allerdings. "Programmmusik im Sinne von Oper" ist wirklich Nonsense, was soll das bedeuten?


    Einfach nachdenken, dann kommst Du schon drauf! Libretto = Programm --> Programm wird vertont. Ein aussermusikalisches Programm zu vertonen ist daher eine steinalte Praktik. Und wenn wir über intrinsisch wichtige Neuerungen in der Romantik diskutieren, dann muss es um Dinge wie Harmonik, Rhytmik etc.. gehen. Das zum Klingen bringen von Aussermusikalischem taugt dafür nicht.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Oper ist aber nicht steinalt, sondern eine Gattung ab 1600, wie Du ja selbst schriebst. "Programmmusik im Sinne von Oper" müsste also was anderes bedeuten als "Programmmusik im Sinne von Madrigal" oder "Programmmusik im Sinne von Messe". Der korrekte Terminus wäre übrigens "Textausdeutung".

    Und dass Programmmusik kein wesentlicher Aspekt der Romantik wäre, ist natürlich auch falsch, aber das diskutieren wir nicht hier, bitte.

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  • m.E. gibt es im Barock einzelne Fälle, die ich als Programmmusik ähnlich wie die Moldau bezeichnen würde. Bibers "Sonata representativa" mit den Tierstimmen, Battaglia und Pauernkirchfahrt. Schon die Rosenkranzsonaten sind nur vereinzelt darstellend (Geißelung) und unterscheiden sich formal kaum von einer gewöhnlichen Sonate/Partita.
    Bei Vivaldi liegt der Anteil der Konzerte mit Titeln/Programmen m.E. im einstelligen Prozentbereich. Bei Bach gibt es unter hunderten von Instrumentalwerken ein einziges, das man hier nennen könnte, das frühe Capriccio auf die Abreise des Bruders, bei Händel einen einzigen Satz mit dem Kuckucksruf in dem bekannten Orgelkonzert.

    Couperins Suiten zu den "Nationen" gehören m.E. hier nur sehr bedingt dazu. Ebenso betreffen die pittoresken Beinamen einiger Telemann-Suiten oft nur einzelne Sätze, manchmal kann ich überhaupt keinen rechten Zusammenhang zwischen der Musik und den Titeln erkennen (zB. die Suite "Die Börse" (z Zt. der South sea und Mississippi "bubbles" um 1720 komponiert).

    Klar, es gibt einzelne bedeutende Werke von Biber, Rebel, Vivaldi u.a. (also auch nicht unbedingt dominierend in der französischen Musik), die man programmatisch, auch im Sinne des 19. Jhds. nennen kann. Aber ich sehe nicht, dass das ein zentraler und separierbarer Strang gewesen wäre, wie m.E. in der Tondichtung des 19. Jhds. Es fehlt ja auch weitgehend eine Opposition zu einer anderen Tradition. Stücke mit charakterisierenden Titeln, egal ob als vage Anspielung oder einem konkreten Programm folgend, stehen in keiner Weise in Konkurrenz zu "absoluter Musik".

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • So ist es. Naheliegender wäre es, Couperin mit Janequin zu vergleichen, also Lautmalerei mit Lautmalerei abseits von Programm, nur eben einmal instrumental und einmal vokal.

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  • Stücke mit charakterisierenden Titeln, egal ob als vage Anspielung oder einem konkreten Programm folgend, stehen in keiner Weise in Konkurrenz zu "absoluter Musik".


    Diese Konkurrenz ist ja auch im weitgehend konstruiert! Viele Komponisten haben sowohl Programmmusik als auch "absolute Musik" geschrieben. Reine "Programmmusiker" gibt es kaum, vielleicht Strauss und Berlioz.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

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