Was ist, was will und was kann das Musical?

  • Was ist, was will und was kann das Musical?

    Wenn sich in einer Kunstform eine neue Entwicklung anbahnte, galt diese den wertkonservativen Vertretern des Wahren, Schönen, Guten fast immer als minderwertig. Das war schon zu Zeiten von Glucks Reformopern so, wobei diejenigen, denen es, wie auch Wagner, um eine Veredelung der Gattung zu tun war, und die dafür gleich runde Konzepte vorlegten, sogar noch relativ gut dran waren. Wer aber „nur“ das Publikum unterhalten wollte, durfte sich unweigerlich einer nachhaltigen Geringschätzung sicher sein. Das galt für die Buffoeinlagen eines Pergolesi nicht anders als für die, von diesem selbst gering geschätzten, Komödien Donizettis und seit Wagner sowieso für alles, was nicht gleich nach dem Höchsten strebte.

    So traf nach Dittersdorf oder Lortzing auch Größen wie Offenbach, Sullivan, Suppé oder Strauß der immer gleiche Vorwurf der bloßen Unterhaltung, den sie sich oftmals sogar zu eigen machten, wenn sie ihre Operetten entweder gleich als Opern ausgaben, wie William Balfe sein THE BOHEMIAN GIRL, oder indem sie sich immer wieder an anspruchsvolleren Werken versuchten. Bezeichnenderweise gehörten die meist zu ihren weniger gelungenen Werken. Bei vielen Anhängern der klassischen Musik wiederholt sich diese Erfahrung, wenn sie über Musicals sprechen oder sie als geringwertigen Zweig der Unterhaltungsindustrie ignorieren. Meist ist – neben einem vorgeprägten ästhetischen Kanon - eine fundierte Unkenntnis des Neuen die bröcklige Basis solcher Urteile. Die Verächter von Musicals kennen meist nur eine Handvoll der gängigsten Werke, die bekanntlich nicht immer die besten Vertreter ihrer neuen Gattung sein müssen.


    Wer aus der bloßen Kenntnis von Werken wie, sagen wir, MY FAIR LADY, WEST SIDE STORY und HAIR ein Urteil über das Musical allgemein fällt, hat zwar nicht die schlechtesten Beispiele erwischt, verhält sich aber, wenn er sie als Grundlage einer Verurteilung heran zieht, ähnlich wie derjenige, der eine komplette Verurteilung der Oper als anspruchsvolle Musik auf die Basis eines einmaligen Erlebnisses von, sagen wir, THE PHANTOM OF THE OPERA und BLACK RIDER stützt, weil er nicht nur von Monteverdi nie etwas gehört hat, sondern nicht einmal von Verdi. Ich finde es deshalb überfällig, eine Lanze für diese noch weitgehend verkannte Gattung des Musiktheaters zu brechen. Da ein Großteil der (Vor-)Urteile ersichtlich auf Unkenntnis beruht, fange ich mit ein paar grundlegenden Thesen und Informationen an.

    1. Das Musical ist keine fünfzig Jahre jünger als die Operette und ereichte seine erste Blüte, als der Niedergang der Operette begann. Man kann es also ohne Weiteres als deren legitimen Erben bezeichnen.

    2. Das Musical hat mindestens so viele große Komponisten, Werke und Glanznummern hervor gebracht wie die Operette, und das sage ich als jemand, der die Operette einigermaßen kennt und durchaus schätzt.

    3. Das Musical ist die heute lebendigste Form des Musiktheaters.

    4. Zu allen Zeiten gab es erfolgreiche Werke, für die die Nachwelt bestenfalls ein mildes Lächeln übrig hat, weil sie außer der einen oder anderen eingängigen Melodie nichts Besonderes beinhalten. Die Mehrzahl der neueren Musicals, auf die sich das Negativurteil Vieler stützt, gehört in diese Gattung. Es gibt aber auch andere Musicals, die viel höhere Ansprüche haben und einlösen. Naturgemäß sind die relativ neueren Datums, aber deswegen sollte man die reichen Musicals der ersten Jahrzehnte nicht gering schätzen. Auf ihnen basiert das, was wir heute bewundern können.

    5. Das Musical steht nicht zuletzt deshalb bei uns in Misskredit, weil die meisten deutschen Theater und ihre Ensembles den besonderen Anforderungen der Gattung nicht gewachsen sind, während die Spezialtheater sich auf ein Repertoire stützen, das mit Musik vie weniger als mit dem Showbusiness zu tun hat.

    Ich werde diese Thesen im weiteren Verlauf des Threads noch eingehend begründen, fange aber hier zunächst einmal an mit der

    Nr. 1: Wie alt ist das Musical eigentlich und wie entstand es?

    Das Musical, eine Kurzform des ursprünglichen Begriffs „Musical Comedy“, d. h. musikalische Komödie, entstand um die vorletzte Jahrhundertwende als Protest gegen die Dominanz der europäischen Operette auf den renommierten Theaterbühnen Amerikas. Diese waren nämlich den Schlagerfabrikanten der sogenannten Tin Pan Alley, von der aus die Musikverleger New Yorks die Stars der damaligen Unterhaltungsmusik belieferten, verschlossen geblieben. Angeführt von dem geschäftstüchtigen George M. Cohan, forderten sie deshalb spezifisch amerikanische Themen und Kompositionen. Das Resultat waren zahlreiche patriotische Revuen, die in eigens entlang dem New Yorker Broadway dafür geschaffenen Theatern gegeben wurden. In dezidiertem Gegensatz zu den weiterhin beliebten Operetten, ersetzten sie oft die Handlung durch Conférenciers und Nummerngirls, präsentierten aber um so mehr aktuelle Schlager.

    Nur allmählich erkannten die Produzenten dieser Revuen den Wert guter Autoren, die sie in Ermangelung erfahrener Librettisten aus England importierten. Da diese ihr Metier im Gefolge der „Savoy Operas“ - eigentlich Operetten - von Gilbert und Sullivan gelernt hatten und die Komponisten häufig oder als deutschsprachige Emigranten waren, die von den gängigen Stücken der Bühnen von Wien und Berlin geprägt waren, blieben ihre „neuen“ Stücke den zeitgenössischen Operetten zum Verwechseln ähnlich, so dass sich ihre "Musicals" fast nur noch in ihrer amerikanischen Thematik von diesen unterschieden. Während musiktechnisch ausgebildete Komponisten früher Musicals wie etwa Jerome Kern im wesentlichen der Operette treu blieben, entwickelten einstige Schlagerkomponisten wie George Gershwin, Irving Berlin, Cole Porter und Harold Arlen erst allmählich eine eigene Musiksprache, die aber auf populäre Entertainer zugeschnitten blieb, welche die zunehmend ambitionierten Texte und Tanzelemente des Musicals über die Rampe bringen konnten.

    So kennzeichnet es den Unterschied zwischen Operette und Musical, dass Letzteres am besten von sängerisch begabten Schauspielern und Tänzern dargeboten werden kann, während die Operette ausgebildete Stimmen verlangt, die auch in komplexeren musikalischen Ensembles bestehen können. Nicht zuletzt deshalb misslingen viele Aufführungen von Musicals mit Opernsängern, da diese den spezifischen Spielcharakter des Musicals oft mit einer unidiomatischen, primär der Produktion glanzvoller Töne verpflichteten, Interpretation verfälschen und in der Regel nur in Musicals bestehen können, die eigentlich Operetten sind, wie etwa MY FAIR LADY, CANDIDE oder THE PHANTOM OF THE OPERA.

    In diesen und nicht wenig anderen sogenannten Musicals, die nur deshalb so genannt werden, weil sie aus Amerika kommen oder in Musicaltheatern aufgeführt werden, hat sich die Operette als Spielart des Musicals erhalten und ist keineswegs so tot, wie man gerne unterstellt.

    Zur Unterscheidung zwischen Operette und Musical, womöglich sogar zu der zwischen neuem Musical und der Oper wird es aber einen eigenen Thread geben müssen, der vielleicht der in diesem Zusammenhang interessanteste wird.

    :wink: Rideamus

    Anmerkung: Der Artikel basiert auf einem Artikel, den ich für ein geplantes Lexikon schrieb, und der in einer früheren Fassung bereits publiziert, von mir aber für dieses Forum überarbeitet und erweitert wurde.

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Was ist, was will, und was kann das Musical Teil II

    Bevor ich zur Vorstellung einzelner Besonderheiten, Komponisten und Werke der Gattung Musical komme, hier erst einmal der zweite Teil meiner allgemeinen Einführung, die wie der erste auf einem Lexikonartikel von mir beruht und für die jetzige Veröffentlichung noch einmal überarbeitet wurde:

    2. Wann und wo spielt das Werk?

    Wie hoffentlich noch erinnerlich ist, entstand das Musical als Gegenbewegung zu der Operette mit ihren erfundenen und ironisch stilisierten europäischen Fürstenhäusern und allgemein einer Traumwelt jenseits der Realität (die zeitnahe Operette war ja selbst in Frankreich immer eine Ausnahme). Nicht, dass die Themen und das Personal amerikanischen Ursprungs im Musical realitätsnäher abgehandelt worden wären, aber sie waren weitaus gegenwartsnäher. Dies blieben sie im Wesentlichen auch in der weiteren Entwicklung des Musicals, wobei sich die Geschichten des Musicals vorwiegend unter der Jeunesse Dorée abspielten, die auch ein Großteil des damaligen Publikums der Gattung stellte.

    Es war auch die Welt, in der sich die Komponisten der Musicals am besten zurecht fanden, und in der ihre Melodien heimisch waren. Die konnten sich gerne mal im Ausland oder, wie ANYTHING GOES, auf hoher See aufhalten, wie besonders bei dem weltgewandten Cole Porter (z. B. 50 MILLION FRENCHMEN). Es sollte aber bis Ende der 30er Jahre dauern, bis sich das Musical mit - nahe an der Operette segelnden - Werken wie Richard Rodgers' THE BOYS FROM SYRACUSE und Porters DUBARRY WAS A LADY in den Bereich der historischen Satire traute, der bis dato der Operette vorbehalten war, und das mit einer dezidiert amerikanischen, fast jazzigen Musiksprache. Die (fast?) singuläre Ausnahme war Rodgers' A CONNECTICUT YANKEE von 1927, und dieser Stoff war schon in dem Original von Mark Twain eine kaum verhüllte Zeitsatire auf das Amerika seiner Gegenwart. Rodgers und Porter wagten sich damit auf ein Terrain, das seit Offenbachs Operetten schon sehr gut bestellt war. Wahrscheinlich gibt es mehr Ausnahmen als hier konzediert, aber ich beschränke mich hier bewusst auf die Komponisten und Werke, welche die Zeit uberdauert haben. Es geschah wohl nicht von ungefähr, dass das den übrigen Ausnahmen nicht gelang.

    Etwas anders sieht die Sache bei europäischen Musicals aus, die im Film, der den amerikanischen Musikfilm kopierte, schon in den 30er Jahren aufkamen, und erst langsam im, sehr stark von der amerikanischen Präsenz beeinflussten, europäischen Theater der Nachkriegszeit überhand nahmen. Diese waren zwangsläufig unbefangener in ihrer Themenwahl. Deshalb lässt sich vor allem in den deutschen Filmmusicals (DIE DREI VON DER TANKSTELLE, VIKTOR UND VIKTORIA, GLÜCKSKINDER), die sich hörbar von Filmoperetten wie ICH UND DIE KAISERIN, AMPHYTRION und natürlich DER KONGRESS TANZT abhoben, ein Trend zu gegenwartsnahen Themen und an Musiknummern erkennen, die sich am zeitgenössischen Schlager orientierten. Diese Entwicklung fand in Werken wie etwa Lothar Olias' für den Schlagersänger Freddy Quinn geschriebenem Musical HEIMWEH NACH ST. PAULI auch in Deutschland einen Kulminationspunkt, der nichts mehr mit der Operette zu tun hatte, aber auch schon fast ein Endpunkt war, denn spätestens ab den 80er Jahren dominierte die Klangwelt der amerikanischen Musicals auch die der europäischen.

    Wenn man diese jahrzehntelange Tradition fortschreibt, lässt sich das Axiom ableiten, dass ein historisches oder besonders exotisches Setting in einem Musical ein Fremdkörper ist. Das muss nicht zwangsläufig die Zugehörigkeit eines Werkes zum Musical ausschließen, wie die genannten Beispiele belegen. Es bedarf also noch mindestens eines weiteren Kriteriums für die Zuordnung des Werkes, und das ist, wie eben angedeutet, das musikalische Vokabluar, dessen es sich bedient.

    Damit kommen wir zur dritten Frage.

    3. Wie sind das musikalische Vokabular und die Syntax des Werkes beschaffen?

    Hier können die Gegner des Musicals fraglos den meisten Honig für ihre Argumente saugen, obwohl dies keinen Anlass zur Arroganz geben sollte. Eher im Gegenteil.

    Zur Erinnerung: die frühen Musicals wurden sämtlich von Songschreibern verfasst, die zum großen Teil keine formale Musikausbildung hatten. Selbst der in eine vermögende Familie hinein geborene Cole Porter, der (mit Hilfe seiner Mutter) schon im Alter von zehn Jahren eine Operette schrieb, aber auch Irving Berlin und George Gershwin, die sich in jungen Jahren als "Songplugger" also Straßenverkäufer von Schlagernoten, durchschlagen mussten, entwickelten ihr musikalische Vokabular erst mit der Zeit und weitgehend als Autodidakten in der Praxis. Irving Berlin schrieb zeitlebens in einer bestimmten Tonart, die er ggf. später transponieren ließ, und ein erfolgreicher Musicalschreiber wie Richard Adler (THE PAJAMA GAME, DAMN YANKEES) suchte seine Erfolgsmelodien zeitlebens auf einem Xylophon zusammen, das er stets mit sich führte und virtuos beherrschte. So wurde die ursprüngliche Ausnahme, dass die Instrumentierung fast aller Musicals von technisch versierten Fachleuten besorgt wurde, bald zur Regel, die vom hektischen Produktionsdruck der frühen Musicals noch zusätzlich befördert, wenn nicht gar erzwungen wurde. Dies war ein Luxus, den selbst ein Bernstein noch gerne akzeptierte, obwohl er diese Orchestrierungen natürlich bis ins letzte Detail überwachte und ggf. nach seinen Vorstellungen korrigierte.

    Erinnern wir uns weiter: da die ausgebildeten Sänger sämtlich bei der Oper und Operette beschäftigt waren, schrieben die ersten Musicalkomponisten primär für sich selbst und befreundete Kollegen, die nur selten professionelle Sänger, aber höchst charismatische, singende und tanzende Schauspieler mit hörbar begrenztem Stimmumfang waren. Daher war es erforderlich, die Bandbreite der Anforderungen auf eher schmale Stimmen auszurichten und dieses Defizit geschickt durch zündende melodische Einfälle, eine Betonung des Rhythmus, textliche Attraktivität und im weiteren Vrlauf auch eine zunehmende Integration des tänzerischen Elements zu kompensieren. Bevor Musicals nur noch in Mikrophone gesungen und verstärkt wurden, war auch eine besondere Orchestrierung gefragt, welche die unausgebildeten Stimmen der Protagonisten nicht überlagerte, aber doch große Präsenz zeigte. Die besonderer Qualität dieser Orchestrierungen war lange Zeit durch "Modernisierungen" in Vergessenheit geraten, aber zum Glück wiessen wir heute aus zahlreichen Rekonstruktionen der originalen Partituren, wie diese Musikstücke damals wirklich geklungen haben und sind nicht mehr auf deren Verfälschungen in Film und Schallplatte angewiesen, die eigentlich nur die Melodien der Originale erhalten haben.

    So entwickelte sich in der Tat eine neue Kunstform, die mit der Operette nur noch verwandt, aber nicht mehr zu verwechseln war. Es ist also kein Zufall, dass nur die musikalisch ausgebildeten Komponisten wie Jerome Kern, Richard Rodgers oder später der europäisch geschulte Frederick Loewe immer wieder stark zur Operette drängten und deren Einfluss nie ganz verleugnen konnten. Zum Glück waren sie einfallsreich und geschickt genug, beide Gattungen zu verschmelzen, was eine Zuordnung nicht gerade einfacher macht. Gerade bei den Werken, die auch hohe Ansprüche an die musikalische Realisierung stellten (und - zufällig? - meist auch historische bzw. exotische Themen hatten), ist der Operettenverdacht jedoch mehr als begründet. Dies gilt etwa für so bekannte "Musicals" wie SHOW BOAT, KISS ME KATE, BRIGADOON, MY FAIR LADY, THE MAN OF LA MANCHA, THE KING AND I und sowieso für THE SOUND OF MUSIC, die allesamt wohl als Operetten lanciert worden wären, wenn diese Gattung zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Werke nicht völlig aus der Mode, wenn nicht gar in Verruf gekommen wäre. Aus diesem Grund wäre auch CANDIDE selbst dann eine Operette, wenn Bernstein dieses Werk später nicht selbst, und nur halb im Scherz, als solche bezeichnet hätte.

    Daher meine These, dass die Operette keineswegs ausgestorben ist, sondern in der Camouflage des Musicals überwintert (hat) und von Zeit zu Zeit durchaus interessante Werke hervor brachte, vielleicht auch noch bringt, auch wenn das Musical neuerdings zunehmend zur Oper drängt, ohne deren Anforderungen - bislang zumindest - wirklich gerecht werden zu können.

    Damit zur letzten und etwas anders gearteten Frage:

    4. Sind Rockmusicals wirklich Musicals?

    Auch hier gilt es, die Genese und den musikalischen Anspruch (weniger die sehr freie Themenwahl, die schon früh an die der Oper gemahnt) zu berücksichtigen. Sie bestätigen den Anspruch dieser Zugehörigkeit, obwohl sie sich in ihren Ambitionen und Stilmitteln erheblich von den bis dahin gängigen Musicals unterscheiden.

    Der Übergang war zwar ebenfalls fließend, aber man kann die Geburt des Rockmusicals dennoch ziemlich genau auf das Jahr 1967 und den Welterfolg von HAIR datieren. Mit diesem Werk drang nicht nur das Lebensgefühl, sondern auch die Musik der jungen Generation, die mit den bis dahin gängigen Musicals wenig zu tun hatte, mit Macht auf die Theaterbühne, wobei sie sich bezeichnenderweise nicht lange mit dem Musical beschied. Schon Steven Schwartz, der sehr bald dominierende Komponist dieser Generation, der Komponistensohn Andrew Lloyd Webber und nicht zuletzt die Popgruppe The Who bezeichneten ihre Zwitter GODSPELL, JESUS CHRIST SUPERSTAR und TOMMY nicht etwa als Musicals, sondern, trotz überambitioniertem Anspruch nicht ganz grundlos, als Rock Operas. Wenn auch Schwartz selbst mit PIPPIN, THE MAGIC SHOW und zuletzt WICKED den Traditionen des Musicals verhaftet blieb, so war der Trend zu durchkomponierten Werken um große Themen, die sich deutlich von den leichten Sujets der gewöhnlichen Musicals absetzten, allgemein unübersehbar. Der herausragende Repräsentant dieser Richtung war auch ihr erfolgreichster, nämlich der Fließbandmelodienproduzent Andrew Lloyd Webber, dessen CATS, EVITA und THE PHANTOM OF THE OPERA kaum Musik- wohl aber Theatergeschichte schrieben.

    Claude Michel Schoenberg, der mit LA REVOLUTION FRANCAISE die erste französische Rockoper schrieb, setzte diesen Weg zur Verschmelzung fast aller Musikgattungen (primär auf der Textebene) mit LES MISERABLES und vor allem SAIGON, mit seinen Einflüssen von MADAMA BUTTERFLY, SOUTH PACIFIC, TOMMY und EVITA konsequent und mit großem Erfolg fort, und der verrohte und verrockte BOHÈME-Abklatsch RENT von Jonathan Larson schloss sich diesem Trend nahtlos an. Leider stehen die Ambitionen und die musikalischen Mittel dieser Werke, die nicht immer, aber - jedenfalls nach meinem Geschmack - viel zu oft gesangliche Qualität dank mikrophonisierter Musik durch eintönigen Lärm ersetzen, in keinem gesunden Verhältnis zueinander. Immerhin: einen viel versprechenden Ausblick in die Zukunft boten dann ausgerechnet die beiden ABBAS Benny Andersson und Björn Ulvaeus, allerdings nicht mit dem zusammengestoppelten Pastiche MAMMA MIA, sondern mit dem unterschätzten CHESS und vor allem ihrem schwedischen "Musical" KRISTINA FRAN DUVEMALA, die einer hochachtbaren Oper näher kommen als irgend ein anderes Werk dieses Subgenres.

    Auf dieser Welle schwimmen spätestens seit Birger Heymanns LINIE 1 und Sylvester Levays ELISABETH auch die deutschen Erfolgsmusicals, auch wenn sie nicht über das Niveau der bereits genannten Werke hinaus kommen. Sie sind es vor allem, die anscheinend das gegenwärtige Bild des Musicals prägen, obwohl es sich eher um eine Sonderform der Gattung handelt. Mit den intelligenten und auch kompositorisch weit anspüruchsvolleren Stücken eines Stephen Sondheim (PASSION), Maury Yeston (NINE, PHANTOM - das viel Bessere -, TITANIC), Mark Hollman (URINETOWN-PINKELSTADT) oder Marvin Hamlisch (THE GOODBYE GIRL) oder Stephen Flaherty (RAGTIME) haben sie nur noch wenig zu tun, obwohl sich natürlich auch diese der hinzu gewonnenen Freiheit zu härterer Rhythmisierung und Orchestrierung bedienten.

    Auf einem musikalisch sehr eng verwandten, thematisch aber ganz anderen und nicht weniger interessanten Blatt stehen die für den Disney-Konzern geschriebenen Kindermusicals von Alan Menken (THE LITTLE MERMAID, BEAUTY AND THE BEAST etc.) und später die Erfolgsfilme der PIXAR-Factory, die sich vor allem der bei Kindern und Jugendlichen beliebten Popmusik bedienen um ganz traditionelle Geschichten zu erzählen. Diese waren in allen Altersschichten derart populär, dass sie bald auch die Musicalbühne eroberten, wo sie aber dem genannten "Rockmusical" näher stehen als dem "traditionellen". Auch wenn sie derzeit zu den populärsten Werken der Gattung zählen, sei hier aber nicht weiter darauf eingegangen.

    Schlussfolgerungen

    Dieser Schweinsgalopp durch die Geschichte des Musicals kann natürlich nicht alle Fragen und Eventualitäten einer Diskussion darüber abdecken, die ich damit erst in Gang bringen möchte. Dennoch hoffe ich, bestimmte Trends und Gründe identifiziert zu haben, die mich zu meinen Urteilen und Zuordnungen veranlassen. Verkürzt gesagt:

    Wenn mindestens zwei der Antworten auf die drei ersten Fragen die Möglichkeit einer Operette zulassen, handelt es sich wahrscheinlich um eine solche, vor allem dann, wenn die musikalischen Anforderungen an die Ausführenden hohe sind. Die Ambitionen der Geschichten und Bücher sind dagegen weniger aussagekräftig. Ein ambitioniertes Buch kann sowohl einer Operette (SOUTH PACIFIC; THE MAN OF LA MANCHA; FIDDLER ON THE ROOF/ANATEVKA) als einem Musical (WEST SIDE STORY; PAL JOEY; SWEENEY TODD) zugrunde liegen. Gershwins vielleicht bestes Musical, OF THEE I SING, eine beißende Satire auf den amerikanischen Politikbetrieb, wurde sogar mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Auch dessen Fortsetzung LET 'EM EAT CAKE steht dahinter kaum zurück, und beide wurden von Michael Tilson Thomas nicht weniger vorbildlich eingespielt als Bernsteins ON THE TOWN und WONDERFUL TOWN von Simon Rattle. Ebenso vorbildlich sind die Einspielungen der restaurierten Klassiker Gershwins (GILR CRAZY u.a.), Jerome Kerns (SHOW BOAT), Cole Porters (KISS ME KATE, ANYTHING GOES) oder Richard Rodgers' durch John McGlinn, John Mauceri, Eric Stern und andere. Sie alle lassen die Frage gar nicht est aufkommen, ob wir hier Operetten oder Musicals hören, denn wir hören einfach sehr gute Musik in maßstäblichen Interpretationen.

    Es gibt sie also durchaus und in weit größerer Zahl als allgemein vermutet, die auch musikalisch anspruchsvollen und in hohem Maße lohnenden Musicals. Viele von ihnen wurden bereits genannt. Zu ihren herausragenden Komponisten gehören natürlich vor allem die "Klassiker" Kern (in seinen früheren Musicals), Gershwin, der frühe Rodgers, Kurt Weill, Harold Arlen (THE WIZARD OF OZ), sowie die Spezialisten Frank Loesser (GUYS AND DOLLS), Fred Kander (CABARAET, CHICAGO, THE KISS OF THE SPIDER WOMAN), Jule Styne (GYPSY, FUNNY GIRL), Stephen Sondheim (COMPANY; FOLLIES; A LITTLE NIGHT MUSIC, INTO THE WOODS), der spätere Cy Coleman (ON THE TWENTIETH CENTURY, SWEET CHARITY, CITY OF ANGELS), Maury Yeston und natürlich der omnipräsente Leonard Bernstein, der schon fast eine Kategorie für sich selbst ist. Trotz dieser stattlichen Reihe ist die Liste der in Frage Kommenden bei weitem nicht erschöpft.


    :wink: Rideamus

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  • Jetzt zwei Musicalaufnahmen, die ich besonders schätze:

    1. Leonard Bernstein - West Side Story mit José Carreras, Dame Kiri te Kanawa u.a.

    und

    2. My fair Lady - ebenfalls mit Dame Kiri te Kanawa für das Blumenmädchen etwas zu fein, Jerry Hadley als Henry Higgins einfach perfekt und der umwerfend gute Warren Hitchell als Alfred P. Doolittle.

    Liebe Grüße Euer Peter. :wink: :wink:

  • Lieber Peter,

    diese beiden Aufnahme habe ich auch. Bei der "West Side Story" klingen te Kanawa und Carreras eigentlich zu opernhaft und somit nicht so ganz ideal als Maria und Tony. Trotzdem gefallen sie mir und Leonard Bernstein damals anscheinend auch.

    So ähnlich ist es mit Kiri te Kanawa als Eliza Doolittle, das Blumenmädchen aus dem Londoner Gossenviertel bringt sie nicht so ganz überzeugend rüber, aber was soll's, sie sang prächtig. Aber Jeremy Irons und Warren Mitchell sind um so prächtiger, da fallen mir ganze Lobeshymnen ein. Bei der konzertalen Aufführung in der Royal Albert Hall 1984 oder 1985 hat Mitchell's Doolitle das Publikum regelrecht "aufgemischt", großartig.


    Liebe Grüße von der Kristin, die momentan in der Wohnung ihrer Tochter den Kater hütet, damit der keine Depressionen kriegt, wo die Familie in Urlaub ist :wink: :wink: :wink:

    Vom Ernst des Lebens halb verschont ist der schon der in München wohnt (Eugen Roth)

  • daß Christopher Lee wirklich singen konnte.

    Sagen wir, er macht's ganz ordentlich.
    Immerhin wird auf dieser Aufnahme - im Gegensatz zum Film-Soundtrack - die "richtige" Ouvertüre gegeben.

    "...es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen." - Johannes Brahms

  • Bei der "West Side Story" klingen te Kanawa und Carreras eigentlich zu opernhaft

    In den Kritiken einschlägiger Musical-Zeitschriften ist oft zu lesen die Sänger interpretierten zu "opern- oder operettenhaft". Es ist dies jedoch nur eine Konzession an den heute propagierten, vom klassischen Gesang abrückenden Musical-Gesang, welcher vermeintlich den mit der Pop-Musik aufgewachsenen Generationen näher steht als der klassische Operngesang.


    Hört man nun allerdings die Uraufführungsbesetzungen etwa der Musicals von Richard Rodgers, so stellt man leicht fest, daß es sich oftmals um klassisch ausgebildete Stimmen handelt, die auch auf der Opernbühne bestehen würden. In vielen Fällen, etwa South Pacific, wurden sogar bewußt ausgesprochene Opernsänger, im Falle South Pacific Ezio Pinza eingesetzt, um den nicht unerheblichen Anforderungen der Partituren entsprechen zu können.


    In den Werken eines Bernstein oder Rodgers sind Opernsänger meine absolute Preferenz.

  • In den Werken eines Bernstein oder Rodgers sind Opernsänger meine absolute Preferenz.

    Lieber Daniel,

    Dein Geschmack ist Dein Geschmack, nix zu sagen. Bei Bernstein kenne ich zumindest Thomas Hampson und Jerry Hadley als Opernsänger, die wohlgelungen in Werken von ihm mitgewirkt haben und natürlich auch Jose Carreras in der West Side Story.

    Aber bei Rodgers & Hammerstein gab es immerhin Alfred Drake und Howard Keel, :klatsch: :klatsch: die ich als ausgesprochene Musicalsänger einschätzen würde und auch John Raitt. Da bin ich jetzt bei "Oklahoma" und hier kann ich nur wärmstens den Allrounder (Schauspieler, Sänger und auch Tänzer) Hugh Jackman :juhu: :juhu: :juhu: :juhu: :juhu: empfehlen, der den Curly unvergleichlich darstellte und sang. Gerade der Curly, der am besten im Westernslang klingt, ob das ein Opernsänger (Bariton) so will und kann, weiß nicht. Irgendwie ist es doch ein anderes Genre. Mir ist es trotzdem egal, Hauptsache es gefällt mir.

    Ich stelle mir gerade Thomas Allen als Prof. Higgins vor, der hätte es vielleicht gekonnt, wenn ich an seinen unvergleichlichen Petrucchio denke. :juhu: :juhu:


    Liebe Grüße

    Kristin :wink: :wink: :wink:

    P.S. Ich bin ja schon zufrieden, wenn ich es wenigstens nicht auf Deutsch anhören muß. Auf meiner Aufnahme aus der Wiener Volksoper von anno dazumal sang der arme Adolf Dallapozza in der West Side Story "Heut Nacht, heut Nacht", zum Abträumekriegen. :boese: :boese: :boese: Und wenn möglich sind Sänger mit englischer Muttersprache auch nicht zu verachten, man gönnt sich ja sonst nichts.

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  • In den Kritiken einschlägiger Musical-Zeitschriften ist oft zu lesen die Sänger interpretierten zu "opern- oder operettenhaft". Es ist dies jedoch nur eine Konzession an den heute propagierten, vom klassischen Gesang abrückenden Musical-Gesang, welcher vermeintlich den mit der Pop-Musik aufgewachsenen Generationen näher steht als der klassische Operngesang.

    Hört man nun allerdings die Uraufführungsbesetzungen etwa der Musicals von Richard Rodgers, so stellt man leicht fest, daß es sich oftmals um klassisch ausgebildete Stimmen handelt, die auch auf der Opernbühne bestehen würden. In vielen Fällen, etwa South Pacific, wurden sogar bewußt ausgesprochene Opernsänger, im Falle South Pacific Ezio Pinza eingesetzt, um den nicht unerheblichen Anforderungen der Partituren entsprechen zu können.

    In den Werken eines Bernstein oder Rodgers sind Opernsänger meine absolute Preferenz.

    Ich wäre extrem vorsichtig mit solchen Generalisierungen. Natürlich hat Richard Rodgers in manchen (keineswegs vielen) Werken exzeptionell Opernsänger eingesetzt, etwa Ezio Pinza in SOUTH PACIFIC. Ebenso Frank Loesser, der für seinen THE MOST HAPPY FELLA den Opernsänger Robert Weede verpflichtet hat. Beides waren jedoch Besetzungen, deren opernhafter Charakter schon anlässlich ihrer Uraufführung in den Kritiken besonders kommentiert wurde. Sämtliche Musicals bis hin zu PAL JOEY, die Rodgers zusammen mit Lorewnz Hart geschrieben hat, würden jedoch durch all zu trainierte Opernstimmen kaputt gemacht, aber auch für, zugegeben näher an der Operette liegende Werke wie THE KING AND I oder THE SOUND OF MUSIC, ganz zu schweigen von FLOWER DRUM SONG oder ME AND JULIET, würde ich voll ausgebildete Opernstimmen schwereren Kalibers für unangemessen halten.

    Für Bernstein gilt dasselbe: CANDIDE und, in Grenzen, WEST SIDE STORY mögen voll ausgebildete Opernstimmen vertragen, wenn diese gleichzeitig ein Gefühl für den Musicalgesang mitbringen. Schon bei PENNSYLVANIA AVENUE bzw. deren Umarbeitung zur WHITE HOUSE CANTATA stoßen Opernstimmen auf Grenzen der Angemessenheit, und bei seinen frühen Musicals ON THE TOWN und WONDERFUL TOWN wären sie allenfalls dann keine Katastrophe, wenn man sie parodistisch einsetzen würde. Die weibliche Hauptrolle von WONDERFUL TOWN wurde schließlich für eine Rosalind Russell geschrieben, deren Stimmumfang kaum mehr als vier Töne betrug.

    Tatsächlich besteht ziemliche Einigkeit in der Musikkritik dahingehend, dass die opernhafte Besetzung seiner WEST SIDE STORY der größte Schwachpunkt seiner Einspielung ist. Was nicht heißt, dass vor allem amerikanische, d. h. mit dem Musical aufgewachsene Sänger wie Barbara Bonney, Marilyn Horne, Jerry Haldey oder Thomas Hampson nicht trotzdem hervorragende Musicalsänger sein können. Das aber mindestens ebenso trotz wie wegen ihrer operngeeigneten Stimmen.

    :wink: Rideamus

    PS an die Moderation: eigentlich gehört diese Diskussion mindestens schon seit dem Beitrag vom 7. März in diesen Thread: https://www.capriccio-kulturforum.de/operette-music…nn-das-musical/

    Könnte man sie bitte dorthin verschieben? M_O

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Man sollte mal zusammenstellen, welche Opern-(vor allem MET-)Stars Musicaluraufführungen gesungen haben – neben Pinza und dem genannten Weede wäre noch Eileen Farrell zu nennen (die allerdings, anders als zumindest Pinza) ihre Opernstimme – wie auch für ihre Jazzplatten und -konzerte – in der MET gelassen hat. Viel mehr fallen mir da spontan nicht ein. Bei der Besetzung mit den jeweiligen Stars dürfte ihr Status dazu geführt haben, dass sie die Rolle spielten (ähnlich wie Alpar, Bohnen oder Schützendorf in den Berliner Operettenproduktionen der zwanziger Jahre).

    Generell stehe ich Opernstimmen im Musical (und teils in der Operette) sehr skeptisch gegenüber – natürlich hat Pinza die Rolle in der Uraufführung von SOUTH PACIFIC nachprüfbar überzeugend agiert, Carreras in einer Aufnahme vom Ende der achtziger Jahre ist eher gruselig. Woran liegt das, da er ja kein schlechter Sänger ist? Viele Opernsänger, die im unterhaltenden Bereich singen, sind nicht in der Lage, ihre stimmlichen Mittel dem Genre und dem jeweiligen Stück angemessen zu nutzen.

    Ich möchte dies an meinem Lieblingsbeispiel Kiri te Kanawa deutlich machen. Wenn auch in der West Side Story nicht so deutlich fehlbesetzt wie Carreras ist sie doch weiter von der jungen Puerto-Ricanerin entfernt, als sämtliche anderen Rollenvertreterinnen (lediglich Frau Hallstein im deutschen Querschnitt kann da mithalten). Neben der Tatsache, dass sie auch in der Oper extrem eindimensional gestaltet (wirklich überzeugend scheint sie mir nur als FIGARO-Gräfin) und dies bruchlos ins Musical überträgt – der reine Schöngesang reicht hier eben auch nicht – ist sie auch einigen Techniken des Musicalgesangs nicht wirklich gewachsen. Um den Grad ihrer Fehlbesetzung deutlich zu machen: Stellt sie euch als Maria auf der Bühne vor! Ich erwate von jedem Sänger, der etwas im Studio einsingt mehr als nur eine schön gesungene Fleißarbeit – er soll die Rolle verkörpern können – und eben auch auf der Bühne (ähnliche Probleme ergeben sich auch bei der Beurteilung von neueren Wagner-Studio-Produktionen). Was habe ich davon, wenn jemand virtuell eine tolle Maria ist (und noch mal: sie ist es noch nicht einmal ansatzweise)? Bei Kiris Eliza ist man geneigt, freundlicher zu urteilen – auch weil die Aufnahme insgesamt als deutlich gelungener anzusehen ist, als sämtliche ihrer anderen Musical-Ausflüge. Sie ist nicht eine Sekunde das Blumenmädchen, die Lady glaubt man ihr natürlich. Aber welch ein Unterschied zu Karin Hübner – die lebt ihre Rolle (von Julie Andrews ganz zu schweigen). Ein interessanter Vergleich ist hier „Just you wait“ mit Hübners „Wart’s nur ab“. Letztere wird hier zur Furie, mit extrem gebelteter Stimmführung in der „König“-Strophe, Kiri singt nur nett.

    Auch Hampsons Musicalausflüge sind im Vergleich mit Drake (KISS ME KATE) oder Bostwick (ANNIE GET YOUR GUN) nicht wirklich konkurrenzfähig. Natürlich singt er gut, für meinen Geschmack aber viel zu brav und konturlos. Die ansonsten hervorragende Gesamtaufnahme der ANNIE … macht er für mich im Alleingang zur zweiten Wahl, Kaye und Bostwick sind das überzeugender Paar,die in der Stilistik viel eher zu Hause sind als Hampson – besonders bedauerlich, da mit Kim Criswell die beste Annie auf Platten vorliegt. KISS ME KATE ist auch im fall Barstow nicht gelungen – gerade für die McGlinn Aufnahmen gilt leider: berechtigt hohe Ambitionen (Vollständigkeit, gestrichene Nummern, Originalinstrumentierung etc.) durch teilweise Fehlbesetzungen nicht erste Wahl (was ausdrücklich nicht für sein BRIGADOON gilt – so gelungen musiziert hört man Musical viel zu selten).

    Warum also singen Opernsänger Musical?

    Entweder wurden bestimmet Rollen speziell für sie konzipiert oder sie sind in der Lage, ihren Gesangsstil den nötigen Anforderungen anzupassen – oder (und das ist in den genannten Fällen eher zutreffend) ein Label setzt auf Crossover-Zugkraft – „Opernhörer kaufen sich doch bestimmt diese CD, wenn Carrera und ta Kanawa das machen…“.

  • Ich danke der Moderation für die Verschiebung dieser Diskussion hierher.

    Ganz so umfassend würde ich Opernsänger in Musicals dann aber auch wieder nicht kritisieren wollen, denn es gibt schon eine ganze Reihe gelungener Beispiele. Zwar stimme ich zu, dass Hampson in ANNIE GET YOUR GUN eine Fehlbesetzung ist, weil er viel zu kultiviert singt und so überhaupt nicht zu Kim Criswell passt, die wie eine Wiedergängerin der großartigen Ethel Merman überzeugt. Andererseits finde ich, dass die Besetzung der Hauptrollen in KISS ME KATE mit Hampson und Barstow gerade als Kontrast zu den musicalversierten Criswell und George Dvorsky mindestens bei einer Audioaufnahme sehr gut funktioniert.

    In dem Lob für die grandiose, allerdings mit Judy Kaye, Rebecca Luker und Brent Barrett überhaupt nicht opernmäßig besetzten, BRIGADOON-Aufnahme werden wir uns ganz leicht einig, und da schließen wir sicher beide den herrlichen John Mark Ainsley ein, dessen "Come to me, bend to me" gerade wegen seiner HIPen Opernhaftigkeit genau jene Fantasiewelt evoziert, welche die Rolle hier erfordert.

    Aber auch andere Opernsänger haben sich m. E. im Musical bewähren können. So machen Frederica von Stade, Teresa Stratas und Jerry Hadley in McGlinns SHOW BOAT ihre Sache in meinen Ohren ganz vorzüglich, ist Tatjana Troyanos bei Bernstein eine ganz vorzügliche Anita und Dawn Upshaw in Eric Sterns Aufnahme von Gershwins OH KAY eine hinreißende Sängerin der Titelrolle. Barbara Bonneys Maria und Marilyn Hornes "Somewhere" in Bernsteins WEST SIDE STORY hatte ich ja schon erwähnt.

    Eines ist aber richtig: bezeichnenderweise hatten alle soeben genannten SängerInnen ihre Ausbildung in den USA erhalten und waren dort mit dem Musical parallel zur Oper vertraut geworden. Sie kannten also den Unterschied der Gattungen sehr gut und konnten wirklich Teile ihrer Opernausbildung "ausknipsen", wenn es darauf ankam (leider nicht immer, wie etwa Frederica von Stades zwiespältige Aufnahme mit Liedern von Rodgers und Hart zeigt). Europäische Opernsänger tun sich da erheblich schwerer, und wenn man von ausgesprochenen "Gastrollen" absieht, zu denen natürlich Ezio Pinzas Rolle in SOUTH PACIFIC oder Christa Ludwig und Nicolai Gedda in Bernsteins CANDIDE (ohnehin eher eine Operette) gehören, zu denen ich aber auch Placido Domingo in MAN OF LA MANCHA zählen würde, fühlen sich eurpäische Opernsänger in amerikanischen Musicals meist glücklicher als sie den Hörer machen. Man denke nur an die berüchtigten Abschlachtungen mancher Musicalnummern durch die drei Tenöre. Die wurden aber bekanntlich mit noch ganz anderen Kalibern fertig.

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • wirklich überzeugend scheint sie mir nur als FIGARO-Gräfin)

    Das stimmt nicht! Hast du schon ihre Donna Elvira in dem Joseph Losey Film gehört und gesehen? Für mich ist sie eine der besten Interpetinnen dieser Rolle und sie gibt ihr ein ganz neues Profil. Es gibt halt Sänger, die müssen gar nciht viel machen, um eine Rolle auszufüllen, sie tun es allein schon durch ihr So-Sein. Kiri te Kanawa hat eine solche Noblesse- sowohl vokal als auch im Auftreten, ein bisschen wie Lisa della Casa.

    Warum also singen Opernsänger Musical?

    Vielleicht ganz einfach, weil es ihnen Spass macht?
    Das heisst zwar noch lange nciht, dass das Ergebnis dann auch kommerziell verwertbar sein muss und einem grösseren Publikum zugeführt werden sollte, aber wenn Produznet XY einen Opernsänger auffordert, sich mal in diesem ganz anderen Repertoire zu versuchen und ihm dazu auch noch gut zuredet,kann ich mir allerbestens vorstellen, dass das dem Sänger grossen Spass macht. Warum solte er/sie sich freiwillig in ein Korsett pressen lassen, wenn er/sie die Möglichkeit bekommt, Neues zu versuchen und hin und wieder aus altbekannten Mustern auszubrechen? Was die Vermarktung dieser Versuche angeht, ist das ein ganz anderes Thema. Das Publikum kann ja letztlich selbst entscheiden was es anhören möchte , und durch sein Kaufverhalten ein entsprechendes Votum abgeben. Niemand ist gezwungen eine West Side Story mit Te Kanawa zu kaufen. Wenn ich mir aber überhaupt je eine kaufen sollte, wäre es wahrshcienlich diese....... :hide:

    F.Q.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Meine liebe Fairy! :fee: :fee: :fee: Guten Morgen aus Wien!

    Du hast völlig Recht, ich denke mir aber auch, dass die Magnolia im "Show Boat" besser ist, wen sie eine "Opernstimme" hat, da dieses Musical sich aber am Rand der Operette befindet, war es auch immer schon, denke ich, so dass bei ihr ein ausgebildeter Sopran und bei Ravenal ein Tenor oder Bariton singen sollte, das tut ja dem Musical keinen Abbruch.

    Bei Dame Kiri te Kanawa hast Du völlig Recht, sie ist als "Donna Elvira" genauso gut wie als "Elizza", nur da ist sie wirklich etwas zu damenhaft.

    Liebe Grüße und Handküsse sendet Dir Dein Streiferl. :wink: :wink:

  • Aber bei Rodgers & Hammerstein gab es immerhin Alfred Drake und Howard Keel, die ich als ausgesprochene Musicalsänger einschätzen würde

    Das ist es doch gerade was ich meinte. Vom stimmlichen Fundament hätte man die beiden genannten (und von mir sehr geschätzten) durchaus auch in der Oper einsetzen können, ihr Gesangsstil ist technisch noch sehr nah am klassischen Gesang, von dem sich ja heutige Musicalinterpreten (leider) gänzlich entfernt haben.


  • ihr Gesangsstil ist technisch noch sehr nah am klassischen Gesang, von dem sich ja heutige Musicalinterpreten (leider) gänzlich entfernt haben.

    Das "leider" verstehe ich nicht ganz. Wenn ein Musical jazzig ist, scheint mir doch "klassischer Gesang" inadäquat. Was meinen da die Experten?

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Das "leider" bezieht sich darauf, daß viele der heutigen, reinen Musical-Interpreten Bühnenwerke interpretieren als wären sie Pop-Songs, sowohl vom Stile der Interpretation als auch gesangstechnich. Auch mit klassisch ausgebildeter Stimme kann man wunderbar jazzige Musicals singen, sofern man sich eine gewissse Flexibilität wahrt. Wie toll das gelingen kann zeigen die kann man etwa in den zahlreichen Radio-Operetten des französischen Rundfunks nachhören, insbesondere dann, wenn es die Stücke von Yvain, Christiné oder Moretti betrifft.

  • Verschiedene Musicals, und auch einzelne Rollen innerhalb dieser Musicals, verlangen unterschiedliche Gesangsstile. Der klassisch-opernhafte Darbietungsansatz ist für die jeweils beabsichtigte dramatische Wirkung nicht immer adäquat.

    Um diesen Punkt zu illustrieren (und passend zum heutigen 85. Geburtstag Sondheims) möchte ich zwei verschiedene Interpretationen des bekannten »Send In The Clowns« aus »A Little Night Music« zur Diskussion stellen (es lohnt sich beide bis jeweils zum Ende anzuhören):

    • Patricia Petibon: "
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      "
    • Judi Dench: "
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      " (leider verzerrtes Bild und nicht ganz audio-synchron)

    So sehr ich Patricia Petibon schätze, aber, wie Ihr wohl ahnen könnt, in diesem Fall ist mein Favorit Dame Judi. Es ist nicht alles große Oper; manchmal ist weniger sehr viel mehr.

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