Anton Bruckner - Klavierwerke
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Kürzlich beim Stöbern im EROICA-Klassikforum wurde ich auf zwei dort eingestellte CDs mit Klavierwerken Anton Bruckners aufmerksam.
Da ich mich mit einem der Stücke schon eingehender beschäftigt hatte, dachte ich, daß in Capriccio wohl auch ein Fädchen für Bruckners Klavierwerke eingerichtet werden könnte.
Dies sind die beiden CDs:
CD (1) wird von Wolfgang Brunner auf einem historischen Flügel gespielt, CD (2) ist von Fumiko Shiraga.
Bruckners zweihändiges Klavierwerk ist nicht umfangreich und spielt im Gesamtwerk des Komponisten eine viertrangige Rolle. Abgesehen von einigen Studienwerken liegt es in einem Heft der Bruckner-Gesamtausgabe vor (Bd. XII/2, hrsg. von Walburga Litschauer, verb. Aufl. 1988/2000). Neben früher Gebrauchsmusik umfaßt es ein Klavierstück Es-Dur (1850) - ganz mendelssohnisch, eine Komposition mit dem Titel "Stille Betrachtung an einem Herbstabend" (1863), auch recht nach Mendelssohn und etwas nach Schumann klingend, eine Fantasie (1868) und ein "Erinnerung" genanntes Stück (1868). Schließlich bringt das Heft als Erstveröffentlichung eine Studienarbeit Bruckners, den Sonatensatz g-Moll (1863). Diese Werke sind auf den beiden CDs enthalten, die CD von Brunner enthält überdies drei vierhändige Klavierstücke von Bruckner, die CD von Shiraga eine Klaviertranskription des Adagios der 7. Sinfonie. Beide CDs sind auch über die Naxos Music Library zugänglich.
Im Folgenden beschränke ich mich vorläufig auf Bemerkungen zum Sonatensatz g-Moll (aber das Fädchen soll natürlich allem einschlägigen offenstehen).
Dieser Sonatensatz wurde 1863 im Rahmen von Bruckners Studien bei Otto Kitzler (Kapellmeister in Linz) komponiert. Bruckner hatte ja nach seinen langjährigen Harmonie- und Kontrapunktstudien bei Simon Sechter weiteren Kompositionsunterricht bei dem 10 Jahre jüngeren Kitzler genommen - vor allem Formenlehre und Instrumentation. Der Unterricht ist gut dokumentiert in dem sog. "Kitzler-Studienbuch", in welchem Bruckner die angefertigten Kompositionsübungen bis hin zu vollständigen aufführbaren Stücken niederschrieb. Zu diesen gehört neben schon einigermaßen bekannten Werken wie die Ouvertüre g-Moll, das Streichquartett c-Moll und die Studiensinfonie f-Moll auch der genannte Sonatensatz. Eine Faksimile-Ausgabe des gesamten Studienbuches ist jüngst veröffentlicht worden, ebenfalls im Rahmen der Bruckner-Gesamtausgabe (Achtung 336.-- EUR).
Zur Ausgabe
Es ist natürlich hoch erfreulich, daß es o.g. Ausgabe überhaupt gibt, insbesondere auch, daß sie nach Art einer wissenschaftlichen Ausgabe mit kritischem Bericht erstellt wurde, aber es müssen auch einige kritische Anmerkungen gemacht werden.
Der Sonatensatz trägt im Studienbuch den Titel "Sonate in G moll, I. Satz" - Bruckner hat also wohl weitere Sätze geplant, und die Klaviersonate muß als unvollendet gelten. In der Gesamtausgabe hat allerdings die Hrsg. den Satz als "Entwurf" bezeichnet, was den Eindruck erweckt, der Notentexte des Satzes selber sei unvollständig, was auch von der Hrsg. angenommen wird. Es gibt nämlich zwei Stellen (in der Exposition und Parallelstelle in der Reprise), an der Bruckner einige Takte lang nur einen Part für die rechte Hand komponiert hat. Pausenzeichen in der l.Hd. sind nicht notiert. Die Hrsg. nimmt an, daß Bruckner einen Part für die l.Hd. beabsichtigt, aber nicht ausgeführt hat. Sie macht auch einen Ergänzungsvorschlag. M.E. ist aber der Notentext vollständig, und Bruckner hat sich nur die Pausenzeichen erspart. Der Part der r. Hd. besteht aus Sechzehntelfiguren, die sich zunächst empor- dann wieder hinabhangeln. Wenn auch anders im Habitus, erinnern sie deutlich an die sequenzierenden aus- und überleitenden Passagen in Sinfoniesätzen, die geringstimmig, vorwiegend von Holzbläsern ausgeführt und ohne tiefe Instrumente, langsam aus der Höhe herabsteigen. Für mich klingen die Stellen ohne linke Hand voll befriedigend, der "dünne" Klang bildet einen guten Kontrast zum akkordisch einsetzenden Seitensatz (mit ergänzter l.Hd. klänge der Seitensatz dünner als seine Vorbereitung). Bei den Einspielungen verzichtet Fumiko Shigara auch auf eine Ergänzung, Wolfgang Brunner deutet eine Ergänzung an. - Einige weitere kleinere Ergänzungen der Hrsg. (Vorzeichen, Bindebögen) halte ich ebenfalls für irrig, bestenfalls "gehen sie auch".
Das Werk
Hätte ich eine Ranking unter den Klavierwerken Bruckners zu machen, würde ich dem Sonatensatz die erste Stelle zuweisen. Ein so schönes Klavierstück auch etwa die "Erinnerung" ist, sie ist ein Charakterstück ohne den Formanspruch der Sonate. Zudem ist der Sonatensatz m.E. "richtige" Klaviermusik - ebenso wie etwa die Klaviersonaten Schuberts, während man bei der "Erinnerung" ein wenig Vorahnungen der künftigen Sinfonik spürt. Die Form des Satzes zeigt deutlich das Konzept des späteren Bruckners mit drei ausgeprägten, charakterlich verschiedenen Themengruppen in der Exposition, noch gefolgt von einer Schlußbildung. Auch die relativ ausgedehnt "Senke" der Musik beim Übergang zur Durchführung gehört dazu. Dabei ist deutlich, daß Bruckner sich stark an dem ersten Satz der Sonate B-Dur DV 960 von Schubert orientiert, die ja bekanntlich auch schon mit drei Themengruppen arbeitet. Der Kopf des ersten Themas ist eine Modifikation des Typus des Schubertthemas (dort: Auftakt/vier kantable Viertel in engschrittiger Bewegung/punktierte Halbe - bei Bruckner ist der Auftakt mit folgendem verkürzten Viertel zu einer kleinen Attacke in Sechszehnteln umgebildet). Im Seitensatz tun bei Schubert und Bruckner punktierte Rhythmen ihr Werk; charakteristisch für die jeweiligen dritten Gruppen sind Achteltriolen, die einen gewissen sich-ausbreitenden Habitus bei einer absichtlich geringeren gestaltlichen Profilierung aufweisen (Schumann notierte bei den letzten drei Klaviersonaten Schuberts eine Tendenz zur "Ausspinnung von gewissen allgemeinen musikalischen Gedanken" - bei Bruckner wird dies zu einem festen Bestandteil seiner Sonatenkonzeption). In der harmonischen Disposition ist der Satz weniger chromatisiert als der Schuberts, der Seitensatz steht in der Dominate der Paralleltonart F-Dur (Schuberts Seitensatz bekanntlich in dem funktional nur gewaltsam deutbaren fis-Moll). In einzelnen Akkordbildungen und Harmoniegängen aber finden sich in Bruckners Komposition ausgesprochen kühne Bildungen, die auch schon mal an Paul Dukas erinnern können. Am Schluß der Durchführung kommt es zu besonders prachtvollen Dissonanzballungen, die der "verbotenen" Umkehrung des Nonakkordes, die noch Jahrzehnte später Schönberg Ärger eingehandelt hat, nahestehen. - An einer Stelle in der dritten Themengruppe zitiert Bruckner geradezu den Des-Dur-Höhepunkt der Durchführung bei Schubert, und man kann sehen, wie Bruckner durch bestimmte Modifikationen sowohl der Spielhand mehr entgegenkommt wie auch die Klangfülle steigert - ersteres erwartet man bei ihm wohl nicht unbedingt. - Bei aller offenbaren Orientierung Bruckners an Schubert muß man allerdings auch sagen, daß Schuberts Komposition mit nahezu der doppelten Länge des Bruckner-Satzes einen deutlich höheren Gestaltenreichtum aufweist; den berühmten Triller und seine Folgen berücksichtigt Bruckner nicht.
Die Einspielungen
Leider finde ich beide vorliegenden Einspielungen unbefriedigend (dies nur von diesem Satz gesagt - die Fantasie z.B. scheint mir bei Shiraga ganz zauberhaft geraten). Der Hauptgrund ist das für meine Ohren stark überzogene Tempo. Beide spielen sie ein veritables Beethovensches Allegro vivace, Brunner noch mehr angezogen als Shiraga. Bruckner selbst hat keine Tempovorschrift gegeben, mir scheint ein Allegro moderato vorzuliegen. Dafür spricht nicht zuletzt die besprochene Anlehnung an den ersten Satz von Schuberts DV 960 ("Molto moderato"). Das schnelle Tempo "bringt nichts" in meinen Ohren, die Formteile gewinnen gegenüber einem langsameren keine zusätzliche Deutlichkeit, die Sechzehntel kein "Feuer" - es sind andere Sechzehntel als die Beethovens. Vielleicht kann man das Tempo besonders gut am Schluß der Exposition bzw. in der Coda des Satzes abnehmen. Dort gibt es Achtelrepetitionen auf einem Ton, die offenbar "beruhigend", abklingend wirken sollen, und das tun sie in den eingespielten Tempi nicht. Man muß allerdings zugeben, daß Bruckners Komposition Stellen hat, die zu einem so schnellen Tempo verleiten könnten. Namentlich die dritte Themengruppe: sieht man die Noten zum ersten Mal, kann man fast einen Schreck bekommen, so primitiv sieht das aus - wie die Begleitung in einer dilettantischen Liedkomposition, bei der die Singstimme fehlt. Diese vermeintliche Leere ist aber nicht durch angezogenes Tempo zu "reparieren" - im Gegenteil, bei einem relativ ruhigen Gang entfaltet sie eine ungeahnte Kraft. - Das historische Instrument von Brunner erlaubt deutlich bessere Durchhörbarkeit namentlich tiefer Lagen. Bruckner fordert da einiges. In der Durchführung findet sich eine Passage, bei der sich in tiefen und tiefsten Lagen simultane Terzen und Quarten häufen - sozusagen Doppel-Arpeggien mit benachbarten Akkordtönen. - Mit der dynamischen Gestaltung, die bei beiden Spielern recht ähnlich ist, bin ich im großen und ganzen einverstanden, vielleicht sollten einige Details feiner ausgearbeitet werden. Leider übergeht Shiraga die o.g. Dissonanzenballungen vor der Reprise weitgehend.