musik oder kakophonie ?? - Ist moderne klassische Musik ein Evolutionsfehler?

  • musik oder kakophonie ?? - Ist moderne klassische Musik ein Evolutionsfehler?

    ich habe mir dein "Geburtstagsstück" eben neugierig angehört und beim Hören die Noten verfolgt. Mir hat das Stück ziemlich gut gefallen, ich bin vor allem beeindruckt, wie "echt" du die Musik des 18. Jahrhunderts nachahmen kannst - da finden sich Passagen, bei denen man sofort hört "typisch (Vor-)Klassik". Toll! Meiner Meinung nach krankt das Stück aber dadurch auch gerade an einer gewissen Formel- oder Floskelhaftigkeit, die für viele frühklassische Musik typisch ist, unseren durch die Romantik geprägten Hörerwartungen aber zuwiderläuft. Aber für veränderte Hörerwartungen kannst du ja nichts... ;)

    Für mich klang es aber vor allem im schnellen Hauptteil schon arg nach einer Stilkopie. Die Verwendung bestimmter Floskeln, das häufige Sequenzieren kleinteiliger Motive, bestimmte Harmoniefolgen sind einfach zu typisch für eine bestimmte Art von Musik. "Mannheimer Schule" wäre da vermutlich meine erste Assoziation - und ich finde es erstaunlich, wie echt deine "Mannheimer Walzen" klingen. Eile höre ich dem aber nicht an, ich hatte an keiner Stelle das Gefühl von Nachlässigkeit, diese Formeln wirken eher als charakteristischer Bestandteil des imitierten Musikstils. Das du ein direktes Nachahmen nicht anstrebst, das allerdings habe ich, offen gestanden, nicht gehört.
    So intensiv, wie du dich sichtlich mit den "alten Meistern" auseinandergesetzt hast, wirst du aber allemal das Handwerkszeug haben, dir auch einen eigenen Stil zu entwickeln.

    Ich bin mir nicht sicher, ob du mich richtig verstanden hast: Ich wollte dich nicht animieren, Musik im Stile der Romantik zu schreiben, es ging mir darum, auf veränderte Hörgewohnheiten durch die Romantik hinzuweisen. Die romantischen Komponisten und Ästheten vertreten eine Musik, die häufig den individuellen Gefühlsausdruck in den Mittelpunkt stellt, von einem Musikstück Individualität und Orginalität erwartet, die Verwendung von Floskeln dementsprechend als oberflächlich abgelehnt. Nun schreibst du hier eine unverschämt gute Stilkopie vorromantischer Musik, die ganz viel von dem, was wir seit zweihundert Jahren von Musik erwarten, eben nicht erfüllt, die nicht individuell und originär ist, aus der einen kein subjektiver Gefühlsausdruck anspringt, sondern eine Auseinandersetzung mit Form und Struktur, die keine Angst vor "oberflächlichen" Floskeln und Formeln hat. Dadurch zwingt sie zur Auseinandersetzung mit den eigenen Hörerwartungen und mit den eigenen Erwartungen an Musik - und darin sehe ich auch eine gewisse Modernität dieser auf den ersten Blick so eklektischen Musik. Verstehst du, was ich meine? Hach, das ist blöd, sowas auf den Punkt bringen zu müssen... Ich weiß genau, was ich meine, aber nicht, wie ich es sagen soll.


    ich zitiere hier aus zwei Beiträgen von Cherubino, denn sie gehören zu einander.

    Er schreibt hier etwas, daß weit über eine Reaktion und Meinung über ein Werk geht. Er gibt hier – indirekt – einen Grund, warum Menschen, die (teils) romantische Musik ablehnen, das tun. Auch wenn sie Liebhaber von "klassischer" Musik sind. Denn ihre "veränderten Hörerwartungen" sind gerade nicht verändert.
    Für sie – d.h. jedenfalls für mich – steht "individuelle Gefühlsausdruck" nicht im Mittelpunkt, sondern das Ganze. Das heißt, ich erfahre die Musik, und spüre dabei gleichzeitig sowohl die Harmonie des Werkes als die Gefühle, die der Komponist darin legte.
    Laß mich mal ein Beispiel geben: Bachs Matthäus Passion. Es gibt so viel stellen in dieser Passion, wo ich meine zu erfahren, was Bach versuchte darin zu legen. Das Staunen bei "Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen"; die menschliche Gefühle von "Mache Dich mein Herze rein", das Klagen von "Kommt ihr Töchter, helft mir klagen…"; das besteigen des Ölberges, wie es in der Musik verklangt wird; die Empörung der Jünger bei der Salbung in "wozu dienet dieser Unrat"; usw.
    Ein ganz anderes Werk: Mozarts KV 505. Ein Liebesduett zwischen Sopran und Klavier. Wobei das Klavier stellvertretend ist für den Mann (i.e. Mozart??). aber welch unglaublich schöne Musik.
    Händels Samson. Die Arie des Vaters, wo er singt über den Verlust seines Sohnes "how willing my paternal love". Diese tieftraurige Arie, die so rührend endet mit "Whilst I have eyes he wants no light". Hör mal diese Version: "

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    " und achte besonders auf das Ende".


    Was will ich mit diesen Worten sagen?
    Ich kehre Cherubino's worte um, denn implizit sagt er "die veränderten Hörerwartungen" sind Schuld daran, daß viele Hörer nicht mehr die " individuelle Gefühlsausdruck" der Werke von "vor-Romantikern" hören (können).

    Kehre ich jetzt zu der Ursache von Cherubinos Beiträgen zurück. Er schrieb über eine Komposition von Christian Junck und bemerkte, daß "aus der einen kein subjektiver Gefühlsausdruck anspringt, sondern eine Auseinandersetzung mit Form und Struktur".
    Dies nun verneine ich ausdrücklich.

    Dank Wulf wußte ich 2007 von dem Existenz Christians. Ich hätte ihn völlig vergessen, wenn er nicht geschrieben hätte ein begeisterter Liebhaber von Mozart zu sein. Genau wie ich!
    Dann merkte ich, daß Chris komponierte. Auch wenn es einfach Müll war, es gab darin Goldkörnchen. Nach und nach immer mehr.
    Und das, obwohl er um 2007 eigentlich keine Ahnung von Musik hatte. Noch lese ich, daß er schrieb über ein Werk von Mozart in E-flat statt Es-Dur.

    Etwa halbwegs 2008 meinte ich einen schweren Fehler zu spüren und schrieb ich Christian. Unsere gemeinsame liebe für Mozart vertiefte den Kontakt. Dadurch kenne ich sehr viele seiner Werke und habe ich eine stetige Progression darin gespürt. Aber nicht nur das. Nein, mehr. Ich spüre auch Gefühle darin.
    Ein sehr schönes Beispiel ist m.e., daß Chris mir einmal eine Komposition schickte, und ich sofort reagierte mit "dies wäre eigentlich was für eine Kirche". Seine Reaktion war "zuerst dachte ich daran eine Messe zu schreiben".

    Ich höre also nicht eine "unverschämt gute Stilkopie" der Mannheimer o.ä. "aus der einen kein subjektiver Gefühlsausdruck anspringt", sondern ein Werk, das eine eigene Seele hat.
    Ich habe auch gemerkt, daß Chris tastend seinen Weg sucht nach einem eigenen Stil. Ein Stil, der viel Elemente von den Mannheimer, Klassik und früh-Romantik in sich vereint. Der aber ganz individuell ist.

    Ist dies eine Reaktion auf die moderne "Eintönigkeit", das übertriebene suchen nach Extremen?
    Weber schrieb seinerzeit, daß auf der Straße seine Opernmelodien gepfiffen wurden. In Italien kann man noch manchmal erleben, daß die Menge mitsingt. Hier aber gilt das nur für Popsongs.
    Die klassische Musik wie sie heute komponiert wird, befindet sich – fürchte ich – heute auf einem totlaufenden Zweig der Musik. Sozusagen ist es ein Evolutionsfehler.
    Bin ich ein Nachfolger Kassandras?

    Wirklich schöne Musik rührt

  • Sollte Musik etwa nur dann kein" Evolutionsfehler" sein, wenn sie auf den Gassen gepfiffen wird? ?(
    Jede Zeit hat die Musik, die zu ihr gehört und wenn unsere Zeit denn ein "Evolutionsfehler" sein sollte, (was ja nicht auszuschliessen ist....) wâre es ihre Musik und ihre Kunst auch.
    Bereits Monteverdis Musik war für Etliche seiner Zeitgenossen ein Evolutionsfehler, die von Beethoven, Mozart, Schumann, Mahler, Schônberg etc etc desgleichen. Gut dass die Komponisten trotzdem ihre Evolution weitergetrieben haben was wäre uns ohne all diese Evolutionsfehler nciht alles entgangen! :o:
    Wenn Evolution Weiterentwicklung und nciht Stillstand oder gar Rückschritt bedeutet, gilt das für mich in besonderer Weise für die Kunst.
    Ich habe in den letzten beiden Jahren zwei Opernuraufführungen von Levinas und Dusapin miterleben können- das war tief aufwühlende Musik, die emotional nicht minder aufgeladen ist wie Monteverdi, Schubert oder Mahler. Von anderen zeitgenösssichen Werken mal ganz zu schweigen. Auch mitpfeiffähige Filmmusik unserer Tage wie z.B. die von Vangelis hat ein grosses emotionales Potential und ist trotzdem kein POP.
    Ich liebe Schubert und Mozart über Alles aber jemand, der in der heutigen Zeit noch so komponiert, ist an der Evolution bzw sie an ihm vorbeigegangen. Das sei ihm unbenommen und er hat jedwedes Recht dazu, aber ich habe das Recht, Musik die zu meiner Zeit passt, viel interessanter zu finden und Mozart lieber im Original zu hôren. :fee:

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Dann merkte ich, daß Chris komponierte. Auch wenn es einfach Müll war, es gab darin Goldkörnchen. Nach und nach immer mehr.
    Und das, obwohl er um 2007 eigentlich keine Ahnung von Musik hatte. Noch lese ich, daß er schrieb über ein Werk von Mozart in E-flat statt Es-Dur.

    Lieber musicophil,
    halten zu Gnaden, aber E-flat ist dasselbe wie Es-Dur, E flat ist die englische Bezeichnung für Es, und je nachdem ob "E" groß oder klein geschrieben wird kann man das Major oder minor für Dur oder Moll auch weglassen.
    LG
    FafnerHH

  • Lieber musicophil,
    halten zu Gnaden, aber E-flat ist dasselbe wie Es-Dur, E flat ist die englische Bezeichnung für Es, und je nachdem ob "E" groß oder klein geschrieben wird kann man das Major oder minor für Dur oder Moll auch weglassen.
    LG
    FafnerHH


    lieber fafner,

    ICH weiß das. Chris wußte das damals nicht.

    lg, paul

    Wirklich schöne Musik rührt

  • Mal etwas grundsätzlich:

    Natürlich ist die Musik der Evolution unterworfen, wie jede andere Lebensform auch. Die Evolution macht grundsätzlich keine Fehler, denn Trial and Error sind ihre Existenzgrundlagen. Dass Entwicklungen sich als nicht lebensfähig erweisen, ist also ein notwendiger Teil ihres Bauplanes. Unabhängig davon, sind die Saurier, die sich als nicht überlebensfähig erwiesen haben, auch heute noch von einer ungebrochenen Faszination. Vielleicht sogar mehr denn je.

    Auf die Musik übertragen, heißt das: es gibt keine Evolutionsfehler, sondern nur Stadien einer immerwährenden Entwicklung. Das eine ist nicht natürlicher oder besser oder schlechter als das andere. Eher schon bleibt unsere eigene Entwicklung stehen, und wir sind nicht mehr in der Lage (oder auch nur willens), bestimmte Stadien mitzuvollziehen.

    Unter dem gleichen Gesichtspunkt gibt es auch keine bessere oder geringere Qualität von früher gegenüber heute, sondern nur herausragende Leistungen in den jeweiligen Entwicklungsstadien, die teilweise überdauern, wobei meist nicht gleich zu erkennen ist, wwelche das sind oder sein werden. Eingängigkeit und Sangbarkeit sind jedenfalls zunächst einmal nur Kriterien für Popularität, nicht aber für Haltbarkeit oder gar Qualität. Die ergibt sich erst aus dem Kontext, und nur der macht den Qualitätsunterschied aus zwischen, sagen wir Daa-daa-daa und DA-da-da-DAM.

    Die jeweilige Evolutionsphase, in der diese Motive entstanden sind, hat da wenig zu sagen, und wer nichts sagt oder tut, kann auch kaum Fehler machen.

    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Ist moderne klassische Musik ein Evolutionsfehler?

    Grundsätzlich: Nein.

    Daß es aber Unterschiede gibt, ob und wie man sich damit beschäftigt, ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. Ich möchte mich selbst als Beispiel nennen, der mit Alter Musik deutlich mehr anfangen kann als mit Werken der letzten hundert Jahre. Dennoch habe ich es genossen, Schönbergs "Moses und Aron" in der Bochumer Inszenierung von 2008 im Fernsehen zu sehen. Ich fand die räumliche Inszenierung, aber auch die Besetzung und nicht zuletzt die Musik faszinierend. Ich habe festgestellt, daß es bestimmte Werke gibt (eine Handvoll), die ich ebenso mag. Es sind wenige Werke, aber ich laß auf sie nichts kommen. Und ich würde nie mir erlauben, eine Komposition neueren Datums als Unwürdig, Unpassend, Schlecht usw. und was auch immer zu bezeichnen, nur weil sie mir beim ersten/zweiten Anhören nicht gefällt. Daß ich aber ihre vermeintliche "Klasse" nicht so schnell erkennen kann wie jemand, der mit dieser Musik vertraut ist, ist jedoch sicherlich nachzuvollziehen.

    Es liegt immer an der Beschäftigung mit der jeweiligen Musik.

    Aber ich glaube auch daran, daß jeder Mensch eine Affinität zu bestimmten Dingen hat; bei uns Klassikfans läßt sich das durchaus in den musikalischen Epochen feststellen, die man bevorzugt hört. Fast jeder von uns hat Musik aus jeder Epoche wie Mittelalter, Renaissance, Barock, Klassik, Romantik und Moderne, aber die Stückzahlen der CDs können durchaus aussagekräftig sein in Bezug der Epoche, die man am Liebsten hört.


    Doch ist diese Aussage nur bedeutend in der Hinsicht, mit welcher Epoche man sich am Liebsten beschäftigt - in Bezug einer Grundsatz-Frage würde ich prinzipiell ein "Nein" nennen, da die Komponisten heutzutage sich ebenso ihren Kopf zerbrechen, um Kunst zu schaffen.

    Es gibt nur Kunst, die einen anspricht oder nicht... :yes: (Jawoll... :D )


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Sollte Musik etwa nur dann kein" Evolutionsfehler" sein, wenn sie auf den Gassen gepfiffen wird? ?(


    DAS behauptete ich nicht. Jedenfalls ist es eine Tatsache, daß man solche Musik doch schwer einen Evolutionsfehler nennen kann.

    Jede Zeit hat die Musik, die zu ihr gehört und wenn unsere Zeit denn ein "Evolutionsfehler" sein sollte, (was ja nicht auszuschliessen ist....) wâre es ihre Musik und ihre Kunst auch.


    Es hat dauernd "Renaissances" gegeben wie die eigentliche Renaissance, wie Neo-Gothik, usw.

    Was wäre also falsch daran, wenn man einsieht, daß Musik etwas ist, wobei Harmonie und Gefühl einander etwa in Gleichgewicht halten sollen.
    Alle moderne Musik die harmonisch und melodisch ist, lehne ich nicht ab. Ob "klassisch" oder "Pop" oder "Musical" oder was denn auch. Es darf aber nicht eine ääh Kakophonie sein, wobei die Kontraste dominieren. Je mehr, je besser. DAS ist für MICH keine Musik.

    Wirklich schöne Musik rührt

  • Eingängigkeit und Sangbarkeit sind jedenfalls zunächst einmal nur Kriterien für Popularität, nicht aber für Haltbarkeit oder gar Qualität. Die ergibt sich erst aus dem Kontext, und nur der macht den Qualitätsunterschied aus zwischen, sagen wir Daa-daa-daa und DA-da-da-DAM.


    Anderseits sind Haltbarkeit und Qualität schwer zu erreichen ohne eine Melodie.

    Übrigens denken viel Experten heute, daß 1. Dinosaurier/Sauropoden warm-blutig waren und 2 die Vögel ihre direkte Kinder sind. Sie wären also nicht ausgestorben.

    Wirklich schöne Musik rührt

  • Es liegt immer an der Beschäftigung mit der jeweiligen Musik.


    Da hast Du völlig Recht. Ich beschäftige mich kaum mit moderner Musik. Als ich aber vor einiger Zeit eine Komposition von Arvo Pärt hörte, fand ich die nicht nur NICHT schlecht, sondern ließ sie sogar irgendwie eine Saite bei mir klingen.

    Ich habe festgestellt, daß es bestimmte Werke gibt (eine Handvoll), die ich ebenso mag. Es sind wenige Werke, aber ich laß auf sie nichts kommen. Und ich würde nie mir erlauben, eine Komposition neueren Datums als Unwürdig, Unpassend, Schlecht usw. und was auch immer zu bezeichnen, nur weil sie mir beim ersten/zweiten Anhören nicht gefällt. Daß ich aber ihre vermeintliche "Klasse" nicht so schnell erkennen kann wie jemand, der mit dieser Musik vertraut ist, ist jedoch sicherlich nachzuvollziehen.


    Diese Qualifikationen habe ich nicht benützt. Wenn es aber nichts als eine "richtige Kakophonie" wäre, ein Aneinander reihen von Tönen, wobei es fast nur falsche Kontrasten und Dissonanzen gäbe, nur der Technik wegen, ja, dann würde ich noch viel weiter gehen.

    Von manchen Kompositionen denke ich, daß sie nicht weit entfernt davon sind.

    Wirklich schöne Musik rührt

  • Na ja, "Evolutionsfehler" würde ich in einigen Fällen durchaus sagen. Und zwar dann, wenn der Komponist, fallweise auch "Komponist" mit ganz deutlichen Anführungszeichen, ganz bewußt etwas zu Notenpapier bringt, was die musikalische Syntax zerstört. Um ein Extrembeispiel zu nennen: Ein mittels Spritzgitter erstelltes "Werk" ist mir ebenso suspekt wie eines, das weitestgehend ohne Noten auskommt sondern nur aus Spielanweisungen besteht, von denen eine lautet, der Pianist möge eine bestimmte Taste mit steifem Penis anschlagen. Auch diverse Geräuscherzeugungen halte ich nicht unbedingt für einen Gewinn. Aber die Evolution hat ja auch Bocksprünge gemacht und manches erzeugt, was sie später wieder tilgte.
    Prinziell glaube ich aber, daß man die Entwicklung der Musik (der Kunst allgemein) nicht allgemein wertend betrachten kann, sondern nur konstatierend, ein persönliches Geschmacksurteil anschließend. So gesehen ist auch die Mozart-Nachahmung eine der vielen Formen der Evolution, und wenn es jemanden gibt, der das mag, soll er es mögen, ohne scheel angeschaut zu werden. Ich persönlich würde es wohl eher nicht sehr bewundern, wahrscheinlich aber immer noch etwas mehr als den auf die Taste gedroschenen Penis.
    :wink:

    Na sdarowje! (Modest Mussorgskij)

  • So gesehen ist auch die Mozart-Nachahmung eine der vielen Formen der Evolution


    Lieber Edwin,

    Gerade das Wort Nachahmung sagt mir, daß Du meinen Beitrag nicht gut verstanden hast.
    Ich meinte hier nicht Nachahmung, sondern ein Zurückgehen entlang den musikalischen Baum bis ungefähr die klassische Musik. Und einen anderen Ast wählen.

    Brahms und Wagner haben ja auch verschiedene Äste oder Zweige gewählt.

    LG, Paul

    Wirklich schöne Musik rührt

  • Ein mittels Spritzgitter erstelltes "Werk"


    Das ist doch gar keine moderne Methode, das (oder jedenfalls etwas vergleichbares) gab's sogar schon 1751:

    Zitat

    The Art of composing Music in the New-Style*

    Take a Gallipot, put therein Ink of what Colour you please ; lay a Sheet of ruled Paper on your Harpsicord or Table; then dip the Spruzzarino into the Gallipot ; when you take it out again shake off the superfluous Liquid; then take the fibrous or hairy Part betwixt the Fore-finger and Thumb of your Left-hand, pressing them close together, and hold it to the Lines and Spaces you intend to sprinkle; then draw the Fore-finger of your Right-hand gently over the Ends thereof, and you will see a Multiplicity of Spots on the Paper; this repeat as often as you have Occasion, still beginning where you left off.

    This done, read very carefully over* the Rules and Directions above ; and then take your Pen and proceed to the placing the Cliffs or Keys at the Beginning, marking the Bars, and forming the Spots into crotchets, Quavers, &c. as your Fancy (hall prompt you, first the Treble, then the Bass -} observing a proportionable Quantity in the latter to suit with the former; this done, season it with Flats and Sharps to your Taste.

    It may be objected, that Ink is a nasty Thing and will daub the Fingers; but those who are used to Intrigue will quickly remove this Objection, by suggvesting the many Ways of writing secret Letters to deceive Fathers, Uncles, Guardians, &c. For Instance, use Lemon-juice instead of Ink, and nothing will appear but one entire Blank; hold it to the Fire a Moment and every Stroke becomes visable. Now, every one knows Lemon-juice is so far from being a nasty Thing, that it is a great Cleanser; and smells most agreeably.

    So der damals lebende britische Komponist William Hayes in seinem Aufsatz:

    The Art of Composing Music by a Method entirely New, suited to the meanest capacity
    ( "http://imslp.org/wiki/The_Art_o…yes,_William%29 )

    Die Bezeichnung "Spruzzarino" wählt er - wie er schreibt - um den vulgären Ausdruck "Bürste" zu vermeiden.

    :k:

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • [align=justify]Das ist doch gar keine moderne Methode, das (oder jedenfalls etwas vergleichbares) gab's sogar schon 1751


    Und? Was willst Du damit sagen?

    Ich sah mal einen Dokumentarfilm uber Salvador Dali, wie er einen Tintenfisch nahm. Jeder Arm wurde in einer anderen Tinte gesteckt. Er legte das Tier auf ein Papier oder Leinen, nahm einen Stein und schlug das Tier dann tot.
    Danach schaute er eine Weile auf dem Aufdruck, und machte danach davon ein prächtiges Frauengesicht. Ich dachte sogar eine Madonna.

    Ohne die Begabung kann einer aber damit nichts anfangen. Das gilt auch für Dein Beispiel.

    Wirklich schöne Musik rührt

  • Es darf aber nicht eine ääh Kakophonie sein, wobei die Kontraste dominieren. Je mehr, je besser. DAS ist für MICH keine Musik.

    Es ist halt eine persönliche Definition, ob es Musik/kunst ist oder nicht.

    Anderseits sind Haltbarkeit und Qualität schwer zu erreichen ohne eine Melodie.

    Es kann auch dissonannte/kakophone Melodien geben - in manchen Kreisen nennt man sowas z.B. Riffs... :D

    Diese Qualifikationen habe ich nicht benützt. Wenn es aber nichts als eine "richtige Kakophonie" wäre, ein Aneinander reihen von Tönen, wobei es fast nur falsche Kontrasten und Dissonanzen gäbe, nur der Technik wegen, ja, dann würde ich noch viel weiter gehen.

    Von manchen Kompositionen denke ich, daß sie nicht weit entfernt davon sind.

    Die habe ich benutzt. Ich nehme sie nur als Beispiele für das, was ich schrieb. Ich habe dergleichen nicht in deinem Eingangsposting herausgelesen.

    Prinziell glaube ich aber, daß man die Entwicklung der Musik (der Kunst allgemein) nicht allgemein wertend betrachten kann, sondern nur konstatierend, ein persönliches Geschmacksurteil anschließend.

    Naja, es gibt ja immer wieder Versuche, eine grundsätzliche Diskussion über den Grundbegriff Kunst/Musik zu führen, aber sie bleibt immer indifferent, zu vage. Aber von der Seite der Werke, Gattungen, Kompositionstechniken usw. her könnte man eine Art Summe beschreiben, die einen allgemeineren Begriff umfassen könnte. Natürlich sind dabei die Grenzen der Definition immer zu beachten.


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Naja, es gibt ja immer wieder Versuche, eine grundsätzliche Diskussion über den Grundbegriff Kunst/Musik zu führen, aber sie bleibt immer indifferent, zu vage. Aber von der Seite der Werke, Gattungen, Kompositionstechniken usw. her könnte man eine Art Summe beschreiben, die einen allgemeineren Begriff umfassen könnte. Natürlich sind dabei die Grenzen der Definition immer zu beachten.


    Eben hier bringst Du es auf den Punkt.

    Taugt die Definition, wenn man einen vorwirft, er kopiert, Oder seine Komposition ist ein Epigon? Nur, weil er in dem Musikbaum zurückgeht und versucht einen neuen Ast zu finden?
    Mir gefällt das viel besser als z.B. das Ballet Kain und Abel von Badings. Plötzlich gab es einen furchtbaren Knall, und der Eigner der LP sagte trocken "Jetzt schlug Kain Abel tot".
    Für mich muß Musik was sagen, d.h. Saiten klingen lassen. Ich muß nicht staunend erfahren "wie fabelhaft technisch ist dieses Werk, aber Musik höre ich nicht".

    Las ich mal mit meinem geliebten Mozart enden. Viel sehr berühmte Musiker habe ich sagen hören - unabhängig von einander - "Mozart ist so verdammt schwer zu bringen, weil er technisch nicht so schwer ist".
    Denke mal bitte über die Bedeutung dieser Zeile nach.

    Wirklich schöne Musik rührt

  • Es ist halt eine persönliche Definition, ob es Musik/kunst ist oder nicht.

    Das persönliche Empfinden spielt hier ganz gewiss eine Rolle - ja. Aber weniger greifbar scheint die Objektivität von "guter" Musik zu sein. Nicht jede Musik bleibt bestehen, selbst wenn sie zu Lebzeiten große Erfolge feiert. Irgendwas muss ja an Mozart dran sein, dass er der meistgehörte Komponist ist? Wenn ich bei diversen Konzerten meine Sitznachbarn danach befrage ist der Grundtenor auch immer derselbe; moderne Klassik finden sie grausam. Man kann diese Leute jetzt musikalische Banausen nennen, oder aber - was mir lieber ist - auf den Gedanken kommen, dass die Musik irgendwann im Laufe der Zeit eine Richtung eingeschlagen hat, die dem allgemeinen Klassikhörer nicht mehr gefällt.

    Wirklich interessant wäre es, in der Musikentwicklung bis zu einem gewissen Punkt zurück zu gehen, und ab da einen ganz anderen Kurs einzulegen. Aber wer macht das schon...?


    :wink:

    "Ohne Musik wär alles nichts."


  • Wenn ich bei diversen Konzerten meine Sitznachbarn danach befrage ist der Grundtenor auch immer derselbe; moderne Klassik finden sie grausam. Man kann diese Leute jetzt musikalische Banausen nennen, oder aber - was mir lieber ist - auf den Gedanken kommen, dass die Musik irgendwann im Laufe der Zeit eine Richtung eingeschlagen hat, die dem allgemeinen Klassikhörer nicht mehr gefällt.

    Ich kenne auch viele Leute, bei denen Musik vor 100 Jahren aufgehört hat, welche zu sein, wobei unter "klassisch" häufig alles subsumiert wird, bei dem der Komponist hinreichend lange tot ist. "Schöne" und damit "gute" Musik ist da oft das, was man liebt und "kennt", wobei vielfach Barenboims Satz gilt "früher kannten die Leute die 1te von Brahms weil sie sie zuhause 4-händig gespielt haben - und heute, weil sie 3 CD-Aufnahmen besitzen" - soll heißen, hier geben Leute Werturteile ab, die nicht einmal mehr Noten lesen können....

    Die Bereitschaft, sich mal auf was Neues einzulassen oder den Satz von Michael Gielen "Man darf bei Kunst das Gehirn benutzen" auch nur ansatzweise in Erwägung zu ziehen ist leider oft erschreckend gering. Ich weiß nicht, ob die Anzahl dieser Leute groß genug ist, um sie als "allgemeine Klassikhörer" bezeichnen zu können und es soll natürlich auch jeder nach seiner Facon selig werden können.
    Aber für mich setzt die Beschäftigung mit Kunst - gleich welcher Art - auch eine gewisse Bringschuld des Konsumenten voraus, zum geistigen Nulltarif ist sie nicht zu haben.
    Und was "Kakophonie" ist, hängt doch wirklich vom persönlichen Standpunkt ab. Für Beethovens Zeitgenossen dürfte da schon ein Teil der ganz späten Streichquartette unter diese Rubrik gefallen sein, die Karikaturen zu Wagner gab es im Dutzend billiger, dann waren die Atonalen und Zwölftöner der Untergang des Abendlandes - und für mich ist auch ein Harrison Birtwhistle nicht "kakophon" sondern sehr klar strukturiert. Insofern ist er ein Ast des musikalischen Baumes wie Mozart (auch der hat nach formalen Regeln komponiert). Mozart - und andere - haben sich auf Dauer als starke Äste erwiesen, wieviele der Komponisten der letzten 50 Jahre es auf Dauer sein werden, werden wir nicht mehr erleben. Und auch von den alten Ästen sind viele längst abgestorben, die heute keiner mehr kennt. Und oft genug haben Zeitgenossen und die direkte Nachwelt über die Lebensfähigkeit der Äste anders geurteilt als spätere Zeiten.

    Vielleicht sollte sich der konservative Teil des Publikums einer alten Fähigkeit erinnern, die es zumindest bis in die Mitte des 19. Jh. hinein besaß: nämlich gierig sein nach Neuem, anstatt immer wieder auf demselben "Bildungskanon" zu bestehen.

    Einen schönen Sonntag wünscht
    FafnerHH


  • Vielleicht sollte sich der konservative Teil des Publikums einer alten Fähigkeit erinnern, die es zumindest bis in die Mitte des 19. Jh. hinein besaß: nämlich gierig sein nach Neuem, anstatt immer wieder auf demselben "Bildungskanon" zu bestehen.

    Genau DAS halte ich gerade für den größten Fehler der Neutöner; dass auf Teufel-Komm-Raus etwas Neues kreiert werden muss, und dies um jeden Preis.


    :wink:

    "Ohne Musik wär alles nichts."

  • Aber für mich setzt die Beschäftigung mit Kunst - gleich welcher Art - auch eine gewisse Bringschuld des Konsumenten voraus, zum geistigen Nulltarif ist sie nicht zu haben.


    Ich kann nicht sagen, daß ich ein kompletter Laie bin. Bin sozusagen bereits als Kind zu Hause geprägt worden. Danach bei Musikunterricht. Zuerst in der Schule, danach bei der Musikschule, wo ich mehrere Jahre weiter studierte.
    Das Resultat ist aber, daß ich immer mehr Brahms Gefühle verstehen kann, der sich energisch wehrte gegen das Verlassen von (meine Interpretation) Harmonie und Melodie zugunsten experimentaler Musik (wieder meine Interpretation).

    Und was "Kakophonie" ist, hängt doch wirklich vom persönlichen Standpunkt ab

    .
    Nicht ganz. Ich erinnere an das Beispiel von Shakespeare. Laß mal genügend Affen genügend Zeit auf Schreibmaschinen tippen, und einmal sind dann alle Werke von Shakespeare getippt worden. Was aber das Großteil des Restes ist... Dafür darfst du einen Namen bedenken.

    Vielleicht sollte sich der konservative Teil des Publikums einer alten Fähigkeit erinnern, die es zumindest bis in die hinein besaß: nämlich gierig sein nach Neuem, anstatt immer wieder auf demselben "Bildungskanon" zu bestehen.


    Ha, ich bin nicht nur neugierig nach "neue" Musik, ich sehne mich wirklich danach.
    Du hast hier aber eine Kreisbeweisführung gezeigt. Denn es geht jetzt wieder um die Frage "WAS ist Musik? WANN kann man reden von Musik?"
    Warum ist das Suchen nach neuen Wegen erlaubt, wenn man weiter baut auf die heutigen Erkentnisse und ist es fast ein Pejorativum, wenn man ausgeht von früheren Quellen.
    Ist das vllt dieselbe "Angst", die Du den Menschen ab der "Mitte des 19. Jh." vorwirft?

    Könnte, Du siehst, wie vorsichtig ich die Frage formuliere, es möglich sein, daß es eine neue, andere Stilrichtung gäbe. Eine Stilrichtung, die seine Wurzeln hat in früheren Zeiten und versucht einen neuen Pfad zu finden oder/aber zu bahnen?

    Ich komme zurück auf die Evolution.
    Wenn es eine Gruppe gab (Tiere, Pflanzen, Menschen, was denn auch… ) dann fanden dauernde Veränderungen (lese Mutationen) immer statt am Rande der Gruppe.
    Die Umgebung bot für die Mehrheit keinen Anreiz zu ändern. Am Rande aber wurde man konfrontiert mit einer Umgebung, die nicht so konstant war. Da änderten sich Mitglieder der Gruppe dauerhaft. Wenn "das Klima" sich dann endgültig änderte, war jene große Mehrheit superspezialisiert und starb sie aus.
    Die Population des Randes aber, die teils verwandelt war, überlebte.

    Übrigens wundere ich mich, daß du nichts zu sagen hast über die Bemerkung meinerseits über das Ausführen von Mozart.

    Wirklich schöne Musik rührt

  • Lieber Paul!


    Bin sozusagen bereits als Kind zu Hause geprägt worden.

    Sind wahrscheinlich die meisten von uns. Spannend wird's doch aber erst so richtig, wenn man sich von dem löst, bzw. über das hinaus geht, was man sozusagen mit der musikalischen Muttermilch in die Wiege bekommen hat.

    Zitat

    Ich komme zurück auf die Evolution.
    Wenn es eine Gruppe gab (Tiere, Pflanzen, Menschen, was denn auch… ) dann fanden dauernde Veränderungen (lese Mutationen) immer statt am Rande der Gruppe.

    Und genau daran krankt meiner Meinung nach Dein Aufhänger: Du wirfst hier Natur (Biologie) und Kultur (von Menschen gemachte Musik) in einen Topf. Das mag als metaphorische Analogie brauchbar sein, im Detail finde ich das aber höchst problematisch.

    DiO :beatnik:

    "Wer Europa in seiner komplizierten Verschränkung von Gemeinsamkeit und Eigenart verstehen will, tut gut daran, die Oper zu studieren." - Ralph Bollmann, Walküre in Detmold

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