Reger, Max: Streichquartett g-Moll op. 54 Nr. 1
Nach seiner Rückkehr aus Wiesbaden in sein Elternhaus in Weiden im Sommer 1898 geriet Max Reger in einen wahren Schaffensrausch. Bis zum Umzug nach München im Jahr 1901 entstanden die sieben Choralfantasien für Orgel nebst der Sonate Nr. 1 fis-Moll op. 33 und der Fantasie und Fuge über B-A-C-H op. 46, dazu Orchesterwerke, Sonaten für Violine solo und Klarinettensonaten.
Im November 1900 komponierte er das Streichquartett g-Moll op. 54 Nr. 1, nach dem Jugendwerk in d-Moll sein erster Gattungsbeitrag. Die Eigenschaften von op. 46 weisen den Weg zur Tonsprache dieses Werkes: Höchste harmonische Komplexität und extreme dynamische Vorschriften führen zu einer ungeahnten Ausdrucksdichte. Auch die Verwendung einer kunstvollen Fuge (mit zweitem Thema) als Finale ist beiden gemeinsam. (Bei op. 46 liegt allerdings eine echte Doppelfuge vor, siehe auch unten.) - Die vier Sätze sind überschrieben:
I. Allegro agitato
II. Vivace assai
III. Largo mesto
IV. Prestissimo assai
Das Werk machte es den Interpreten der Uraufführung nicht leicht; diese fand erst am 26. Oktober 1910 durch das Münchener Hösl-Quartett statt. Reger berichtete von einer Probe: „Keiner weiß, was er zu spielen hat – infolgedessen klingt mein Quartett, als wenn es ein absolut betrunkener Faun komponiert hätte.“ – Zu den Schwierigkeiten des Werkes mehr weiter unten in den Bemerkungen zur Struktur.
Beim Nachvollzug des komplexen Werkes mag eine Partitur hilfreich sein. Wohl dem, der eine hat. Bei IMSLP ist die Erstausgabe des Verlages Joseph Aibl (Leipzig)aus dem Jahr 1902 greifbar, sie ist dort als „public domain“ gekennzeichnet. http://imslp.org/wiki/String_Qu…o.1_(Reger,_Max)
Die Spielzeitangaben beziehen sich auf die Einspielungen des Tel-Aviv-Quartetts bei Da Camera Magna, des Berner Streichquartetts bei cpo und des Mannheimer Streichquartetts bei MDG (in dieser Reihenfolge). – Das Tel-Aviv-Quartett in der Besetzung Chaim Taub und Yefim Boyko, Violine - Daniel Benyamini, Viola - Uzi Wiesel, Violoncello ist nicht zu verwechseln mit dem Aviv Quartet..
In formaler Hinsicht ist der erste Satz (g-Moll, 6/4) traditionell gehalten und „im Großen“ recht gut nachzuvollziehen, da der Komponist die Übergänge der Abschnitte der Sonatenhauptsatzform als Generalpause gestaltet hat. Dennoch ist dieser Satz hochkomplex, ist nicht nur der längste, sondern auch (trotz der Finalfuge!) der intrikateste des Werkes.
Dies liegt zum einen an der Behandlung der Metrik: Reger teilt den 6/4-Takt mal 3+3 und mal 2+2+2 auf, dies im schnellen Wechsel und auch derart, dass in verschiedenen Instrumenten verschiedene Aufteilungen gleichzeitig zur Verwendung kommen. Dies sorgt zusammen mit etlichen sykopischen Überbindungen dafür, dass alleine schon der Nachvollzug der Metrik zur schwierigen Aufgabe wird. Ferner: In vielen Sonaten, Sinfonien, Quartetten usw. mag es ein roter Faden für den Hörer sein, dass man die Hauptthemen auch in deren sinfonischer Verarbeitung wiedererkennt. Insbesondere für das erste Thema ist dies m. E. eine große Herausforderung; somit entfällt diese Orientierung hier weitgehend. Schließlich, und vielleicht am gewichtigsten, ist die hohe Unabhängigkeit der Stimmführungen voneinander, es liegt ein freipolyphoner Satz enormer Dichte vor. Weniger Sonatenlogik als vielmehr höchste kontrapunktische Komplexität scheint Reger Interesse gewesen zu sein.
Das ruhig und mit elegischem Ton anhebende erste Thema eröffnet den Satz (T. 1, 0:00/0:00/0:00) unmittelbar, ohne jede Vorbereitung. Die Musik wird mit einem bei T. 6, 0:18/0:16/0:17 beginnenden zweiten Gedanken in triolischem Rhythmus bewegter. (Was ist eigentlich hier thematisch? Das Kopfmotiv g“-fis“-d“ wird beim zweiten Erscheinen schon zu d‘‘‘-c‘‘‘-cis“, die fallende Terz also zur fallenden verminderten Oktav … Dann natürlich das triolische Motiv. Thematisch scheinen aber vor allem die zahlreichen stufenweise auf- und absteigenden Linien zu sein, T. 1-4 im Cello, T. 7+8 die 2. Violine usw. usw., dem Allerweltscharakter dieser Figuren zum Trotz. – Das Kopfmotiv blitzt jedenfalls nur sporadisch auf. – Dazu kommt die komplexe Rhythmik. Beides zusammen ergibt ein Auf- und Abwogen der Musik in größeren, mehrere Takte umfassenden Bögen, die dem Satz sein Gesicht geben. Schwierig, da thematische Gestalten zu erkennen – und später wiederzuerkennen.)
Beruhigung der Musik mündet in ein kurzes Solo der zweiten Violine, dann des Cellos. Letzteres eröffnet das zweite Thema in B-Dur im Kanon mit der ersten Violine (T. 29, 1:35/1:35/1:30). – Von einer Schlussgruppe kann kaum die Rede sein, jedoch sind nochmal Gedanken aus der ersten Themengruppe nochmal zu hören.
Die Durchführung beginnt (T. 40, 2:19/2:18/2:07) so, wie die Exposition begann, doch dies lockt den Hörer nur auf die falsche Fährte einer Wiederholung der Exposition. Was nun folgt, dürfte hinsichtlich Komplexität und polyphoner Arbeit vor 1900 seinesgleichen suchen (vielleicht wäre am ehesten Beethovens große Fuge zu nennen); jedenfalls geht es weit über das hinaus, was beispielsweise Beethoven in der Durchführung des Kopfsatzes von op. 59, 1 komponierte und erinnert strukturell vielmehr an Schönbergsche Quartettsätze (und weist in diesem Punkt schon in die Zukunft?). Emotional wechseln Stellen größter Erregung mit zärtlichen Abschnitten ab, Gegensatz ist Bauprinzip. Man höre Regers Orgelwerke, um Vergleichbares zu finden, etwa op. 46, insbesondere op. 57 oder op. 73.
Die Reprise ist nach harter Arbeit für Spieler und Hörer bei T. 126, 7:38/7:26/6:45 erreicht, das zweite Thema erscheint in T. 153, 9:16/9:00/8:10 in G-Dur, der Kanon wird nun von der ersten Violine begonnen und vom Cello beantwortet. Ein peitschenartiger Akkord bei T. 162, 9:55/9:34/8:40 eröffnet die lange Coda. Nach weiteren ff-Ausbrüchen ereignet sich nochmalige Verlangsamung, geradezu Verlöschen der Musik, letzte Reminiszenz an das erste Thema in der tiefen Oktave des Cellos, doch dann zwei harsche Akkordschläge: c-Moll (mit Septime b in der ersten Violine) – g-Moll. Ende dieses vertrackten Satzes.
Der kurze scherzoartige zweite Satz (F-Dur, 2/4) bietet einen etwas buntscheckigen Eindruck durch häufige unerwartete Tonartwechsel und Wechsel des musikalischen Gestus. Am Ende des ersten Scherzo-Abschnitts leitet ein Solo des Cellos über zum Trio, welches choralartig beginnt (T. 58, 0:54/1:01/0:55) und Einsprengsel aus dem Scherzo-Abschnitt hören lässt. – In T. 102, 1:35/1:49/1:38 beginnt dann die variierte Reprise des Scherzos. – In jedem Falle ist dies ein zugänglicherer Satz als der erste, nicht nur wegen seiner Kürze.
Der langsame dritte Satz (Es-Dur, 2/4) ist dreiteilig angelegt: A–B–A‘. – Das erste Thema im A-Teil gehört der ersten Violine (T. 1, 0:00/0:00/0:00). Es spannt einen großen Bogen, bis das Cello alleine das Wort in tiefer Lage ergreift und mit zarter Begleitung der höheren Instrumente zum zweiten Thema (T. 13, 2:03/1:25/1:28) überleitet. Kurze Erregung führt zu einer Zäsur, nach der dieses Thema in T. 25, 3:56/2:45/2:42 eine variierte Wiederaufnahme erfährt. (Klingt das alles nicht sehr nach spätem Beethoven?)
Der B-Teil ist recht bewegt (T. 32, 4:54/3:30/3:30). Fast durchgängig bestimmen rasche Figuren in Nebenstimmen den Klangeindruck, bis die Musik sich wieder beruhigt und in T. 51, 6:30/5:06/5:01 das erste Thema des A-Teils wieder erscheint: Wir sind in A‘ angekommen, eine verkürzte und variierte Reprise von A. Das zweite Thema erscheint nicht mehr. – Diesen langsamen Satz halte ich für einen der äußerst glücklichen Einfälle Regers. Herrliche Musik.
Das Finale (G-Dur, alla breve) wird in Kammermusikführern und CD-Beiheften als Doppelfuge bezeichnet. Das halte ich für irreführend – das hängt natürlich davon ab, wie man diesen Begriff definiert.
Bei einem Typ von Doppelfugen erscheint das Thema von vorneherein zweistimmig, sozusagen als Thema mit obligatem Kontrapunkt, doch Thema und Kontrapunkt sind einander so gleichwertig und selbständig, dass man gar nicht sagen kann, was denn nun Thema und was Kontrapunkt sei. – Beispiele wären die Schlussfuge („Tema fugatum“) aus J. S. Bachs Passacaglia für Orgel (BWV 582) oder die Fuge aus dem vierten Satz der 9. Sinfonie Beethovens (nach dem „Alla marcia“ – „Froh, wie seine Sonnen fliegen“).
Beim anderen Typ wird das erste Thema zunächst alleine in allen Stimmen exponiert und durchgeführt, dann wird das zweite Thema in allen Stimmen exponiert und eventuell auch durchgeführt, dann erscheinen beide Themen in Kombination. – Beispiele wären die Fuge aus J. S. Bachs Toccata und Fuge F-Dur BWV 540, die sechste Fuge über B-A-C-H aus Robert Schumanns op. 60 oder die Fuge aus „Fantasie und Fuge über B-A-C-H“ von Max Reger op. 46. – Diesen Typ würde man zur Klarheit und Abgrenzung besser „Zweithemenfuge“ nennen.
Bei der Schlussfuge von op. 54, 1 liegt keiner der beiden Fälle vor. – Der Themenkopf, eine trillerartige Figur, wird im Unisono aller Instrumente gespielt, die erste Violine stellt den Rest des Themas alleine vor. Sprünge im Staccato und Tonleiterfiguren prägen seinen kecken Charakter. Die weitere Einsatzreihenfolge ist von oben nach unten: 2. Violine – Viola – Violoncello. Eine weitere Unisonopassage (T. 24, 0:27/0:28/0:28) schließt die Exposition ab.
Die erste Durchführung bleibt wie die Exposition im piano-Bereich und schließt mit einem dramatischen Unisono, dem sich ein choralartiger Abschnitt anschließt (T. 79, 1:03/1:09/1:07). Dieses Choralthema wird am Schluss des Satzes mit dem Fugenthema kombiniert.
Weitere Durchführungen des Fugenthemas, Unisoni und Choralabschnitte wechseln einander ab. In T. 284, 3:59/4:19/4:13 erscheint dann nochmals das Choralthema im vierstimmigen homophonen Satz, danach wird es mit dem Fugenthema kombiniert, so dass sich die Fuge den Anschein einer Doppelfuge gibt – der freilich die selbständige Fugenexposition des zweiten Themas fehlt. Das mag man nun individuelle Lösung oder formale Innovation nennen – eine Doppelfuge ist’s halt nicht. – Mit einem effektvoll kalkulierten Schluss (chromatische Steigerungen über einem Orgelpunkt, Trugschlusswendungen, Abkippen ins Pianissimo, Unisono, Schlussakkord) geht das Stück zu Ende.
Trotzdem: Ein springlebendiger Satz von hohem kontrapunktischem Geschick! Eine Freude beim Hören. Perpetuum-mobile-Fugen haben etwas … Beethoven, Finale von op. 59, 3; Schumann op. 60, 5; Reger, Finale von op. 54, 1 … hinter Beethovens Satz muss sich dieser Satz mMn nicht verstecken.