Futurismus in der Musik

  • Futurismus in der Musik

    Neulich war ich in einer Futurismus-Ausstellung, Näheres zum Thema an sich siehe Wikipedia. Oder doch etwas genauer: Die Bewegung entstand in Italien im Jahr 1909 und hatte ihre nachhaltigste Wirkung in der Bildenden Kunst (Malerei, Skulptur). Es geht dabei um Modernität, Technik, Geschwindigkeit, Gleichzeitigkeit.

    Die Bewegung erfasste auch andere Länder und weitere Kunstrichtungen, sogar die Musik wird aufgelistet, und darum soll es hier gehen. Der deutsche Wikipedia-Artikel gibt dazu nicht allzu viel her, während im englischen Beitrag zumindest Komponisten wie Busoni, Strawinski, Honegger, Antheil, Varèse, Stockhausen und Cage genannt werden, wobei es sich bei denen nur um einzelne Werke zu handeln scheint. Echte Futuristen waren wohl Francesco Balilla Pratella (den ich gar nicht kannte) und natürlich Luigi Russolo (der mir nur als Maler bekannt war).

    Frage also:
    Welches sind bekannte futuristische Werke in der Musik?
    Würdet ihr Pacific 231 von Honegger als futuristisch bezeichnen?


    Thomas Deck

  • Über den Futurismus weiß ich nicht viel, hauptsächlich das, was anlässlich des 100jährigen Jubiläums des "Futuristischen Manifests" zu sehen, zu hören und zu lesen war.

    Wenn ich mich richtig erinnere, so sind die 2., 3., und 4. Sinfonie von Schostakowitsch vom Futurismus beeinflusst worden. Es gibt zu diesen Sinfonien bereits Threads, dort stehen einige Hintergründe. Über die Bezüge zum Futurismus steht dort nichts oder wenig (glaube ich zumindest, ich habe es gerade nicht nachgelesen). Ich muss das in irgendwelchen Booklets aufgeschnappt haben. Dem werde ich nachgehen, wenn ich genug Muße dazu habe. Eine erneute Beschäftigung mit Schostakowitsch steht sowieso an, da ich mittelfristig einige (um es genau zu nehmen: 6) Sinfonien von ihm im Konzert hören werde.

    Die 2. und die 3. Sinfonie von Prokofieff sollen ebenfalls vom Futurismus beeinflusst worden sein. Diese werden immer wieder als "maschinistisch" oder "industriell" beschrieben. Industrielle Fertigung als Vorbild für die Kompositionsweise. Dabei wird dann oft auf Chaplins Film "Modern Times" verwiesen.

    Ähnlich soll es sich mit Balletten und Opern von Prokofieff verhalten. Diese kenne ich aber nicht, habe das in einer Biographie gelesen.

    Falstaff

  • Einen Text zur Musik des Russischen Futurismus von Bernd Feuchtner findet man auf der Homepage des Autors:

    "http://www.feuchtner.de/radio/russ_futur.html"

    maticus :wink:

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Lieber Thomas, ein schönes Thema, zu dem ich allerdings auch mehr Fragen als Antworten habe. In unserer alten Heimstatt hatte ich anlässlich des 100. Geburtstages des Futuristischen Manifests eine ähnliche Frage gestellt, die Resonanz war aber eher gering. Ich erlaube mir, ein paar Auszüge aus meinem damaligen Beitrag hier noch einmal zu platzieren:


    " Am 20. Februar 1909 erschien im Le Figaro das von Filippo Tommaso Marinetti verfasste Futuristische Manifest.

    Es feierte u. a. den Rausch der Geschwindigkeit
    ("Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit"),

    die Errungenschaften der modernen technischen Welt
    ("...besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge....")

    und lehnte alle hergebrachten kulturellen und gesellschaftlichen Traditionen ab
    ("Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.").

    Dem ersten Manifest folgten viele weitere, so das "Manifest der futuristischen Malerei" oder das musikalische Manifest "Die Kunst der Geräusche".

    Wie in so vielen Manifesten drückte sich auch in dem des Futurismus jene Haltung aus, durch die man mittels Destruktion zur Konstruktion und damit zu etwas Neuartigem gelange. Doch ist gerade das Pamphlet Marinettis, eines zweitklassigen Dichters im Fahrwasser Mallarmés, von einer besonders unappetitlichen Haltung und Sprache geprägt. Der Krieg wird verherrlicht als "Mittel der Hygiene", die "Verachtung des Weibes" wird gepriesen, ein "Kunstwerk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein". Das anarchistische Element im italienischen Futurismus mündete recht bald in Kriegstreiberei (nicht wenige Futuristen fielen höchstselbst im Ersten Weltkrieg) und zuletzt auch im Faschismus, nachdem Marinetti die Nähe zu Mussolini gesucht und gefunden hatte.

    Der russische Futurismus hingegen sympathisierte zunächst mit dem Bolschewismus (und dieser mit ihm) und entwickelte sich zu einer eigenständigen Richtung, die sich von der italienischen abgrenzte. Man streitet wohl bis heute, ob der russische Futurismus überhaupt auf das Manifest und das Wirken Marinettis zurück zu führen oder eine Art Parallel-Schöpfung sei.

    Am deutlichsten und nachhaltigsten Niederschlag fand die italienische Bewegung wohl in der Bildenden Kunst. Die Bilder und Plastiken Umberto Boccionis ("Urformen der Bewegung im Raum") oder Giacomo Ballas ("Abstrakte Geschwindigkeit") gehören heute zum Kanon der Kunst des 20. Jahrhunderts, obgleich sie anfänglich als Spielart des Kubismus gewertet worden waren, dessen gestalterische Mittel sie in der Tat aufgegriffen hatten.

    In der Musik war es Luigi Russolo, der um 1914 mit seinem "Geräuscherzeuger" für Aufsehen und öffentliche Erregung sorgte, später mit dem "Russolophon" hantierte, das bei Honegger und Varèse auf Interesse stieß. Russolo schrieb im musikalischen Manifest: "Wenn wir eine moderne Großstadt mit aufmerksameren Ohren als Augen durchqueren, dann werden wir das Glück haben, das Brummen der Motoren, das Auf und Ab der Kolben, das Kreischen der Sägewerke und die Sprünge der Straßenbahnen zu unterscheiden. Wir wollen diese so verschiedenen Geräusche aufeinander abstimmen und harmonisch anordnen. Jede Äußerung unseres Lebens ist von Geräuschen begleitet. Das Geräusch ist folglich unserem Ohr vertraut und hat das Vermögen, uns unmittelbar in das Leben zu versetzen. Während der Ton, der nicht am Leben teilhat, immer musikalisch eine Sache für sich und ein zufälliges, nicht notwendiges Element ist." Das Arbeiten mit Geräuschen aus modernem Alltag und Industrie, aus Verkehr und Krieg führte anscheinend aber nicht zu den gewünschten künstlerisch befriedigenden Ergebnissen, wird aber gleichwohl Einfluss auf die weitere Musikgeschichte gehabt haben, nicht zuletzt in Form elektronischer Klangerzeugung und der Verwendung des Geräuschs.

    Wo und wie aber macht sich dieser Einfluss bemerkbar? Ist die konkrete Musik ein Nachfolger des Futurismus oder wäre sie auch ohne letzteren entstanden?"

    Edgar Varèses Werke Ionisation für 41 Schlaginstrumente und 2 Sirenen oder Hyperprism könnte man direkte Bezugnahme auf den Futurismus attestieren. George Antheil war ein technik-versessener Mensch wie Marinetti & Co. Manche Klavierwerke tragen Namen, die an den Futurismus gemahnen, z.B. The Airplane, Mechanisms oder Death of the Machines. Sein Ballet méchanique, zu dessen Instrumentierung auch elektrische Instrumente sowie ein Flugzeugpropeller gehören, nimmt ebenfalls Bezug. Es war die Begleitmusik zu einem Stummfilm Fernand Légers, der, wenn schon kein Futurist, so doch ein wichtiger Vertreter des Kubismus war. Und was ist mit John Cage? Oder jenen Komponisten, die Alltagsgeräusche und elektronische Klänge verwendet haben? Und nutze ich die Suchfunktion unseres ehrenwerten Forums, stoße ich auf etwa auf einen Beitrag Guercoeurs, der Franz Schrekers Oper Der singende Teufel Nähe zum Bruitismus attestiert. Was ist mit Alexander Mosolov? Und was mit Schostakowitsch? Russischer Futurismus oder nicht? Ich erinnere mich, dass Edwin eine der Schostkowitsch-Sinfonien als Russischen Futurismus bezeichnet. Steht dieser dann in irgendeinem Zusammenhang mit den westeuropäischen Ausprägungen oder gar dem Manifest?

    Du siehst, lieber Thomas, mehr Fragen als Erhellendes... Sorry.

    LG
    C.

    „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert.“ (Element of Crime)

  • Industrielle Fertigung als Vorbild für die Kompositionsweise. Dabei wird dann oft auf Chaplins Film "Modern Times" verwiesen.

    Ähnlich soll es sich mit Balletten und Opern von Prokofieff verhalten.

    Dies trifft sicher für "Le Pas d'Acier" zu - dazu hier mehr: Serge Prokofieff: “Le Pas d'Acier” op. 41 (Der stählerne Schritt, Stalnoi skok, The Steel Step) - Moderne Zeiten Ferner wird Prokofieffs 2. Klavierkonzert teilweise als "futuristisch" bezeichnet. Ich würde auch seine Toccata für Klavier aufzählen wollen, vielleicht auch den "Feurigen Engel". Ein anderer prominenter Vertreter des russischen Futurismus war der aus einer sephardischen Familie stammende Arthur Lourié (1892-1954).

    Nach meiner Einschätzung sind einige Werke Bartoks wie das Allegro Barbaro und der wunderbare Mandarin futuristisch, ebenso sehr vieles von Skriabin. Der oben genannte Busoni hat sich nur phasenweise für den Futurismus interessiert (Sonatina), dann aber klar davon abgewandt.

    Insgesamt war es wohl so, dass sich etwa zwischen 1909 und 1930 manche Komponisten phasenweise für den Futurismus interessierten und sich davon beeinflussen liessen, sich dann aber jeweils anderen, neuen Stilrichtungen zuwandten. In anderen Kunstformen als der Musik hat sich die Strömung des Futurismus sicherlich prägnanter und nachhaltiger ausgewirkt.

    In vielen Ländern riefen die unterschiedlichen Manifeste auch zahlreiche entschiedene Gegner auf den Plan, in Deutschland insbesondere Hans Pfitzner, der 1917 ein Pamphlet unter dem Titel "Futuristengefahr" verfasste.

    Cheers,

    Lavine :wink:

    “I think God, in creating man, somewhat overestimated his ability."
    Oscar Wilde

  • Wie in so vielen Manifesten drückte sich auch in dem des Futurismus jene Haltung aus, durch die man mittels Destruktion zur Konstruktion und damit zu etwas Neuartigem gelange.

    Hierzu noch ein Gedächtniszitat aus einer Fernsehsendung anlässlich des 100jährigen Jubiläums des Futuristischen Manifests (evtl. in kulturzeit auf 3sat, ich weiß es aber nicht mehr): Es sollte der Krieg verherrlicht werden, da er neue geometrische Formen hervorbringt. Gemeint waren Panzer und Flugzeuggeschwader, in denen eine neue Ästhetik erkannt wurde. Dies soll nur nochmals verdeutlichen, um was für einen Irrsinn es sich bei dem "Futuristischen Manifest" handelt.

    Ich weiß nicht, inwieweit der russische Futurismus (ich meine konkret Schostakowitsch und Prokofieff) direkt oder indirekt vom "Futuristischen Manifest" und der darum gescharten Gruppierung inspiriert wurde. Bis ich nichts anderwertigesgehört habe, gehe ich aber nicht von einem Zusammenhang aus. Dass die immer schneller fortschreitende Industrialisierung ihren Niederschlag in der Kunst findet, war zu erwarten. Es lag wohl in der Luft. Dass die Wahrnehmung der Welt um die Komponente Geschwindigkeit erweitert wurde, war sicherlich nicht allein einem durchgeknallten Italiener aufgefallen. Die Frage nach einem Zusammenhang beider Strömungen habe ich mir nur gestellt, weil beide mit dem selben Wort "Futurismus" belegt sind.

    Beste Grüße,
    Falstaff

  • Ein anderer prominenter Vertreter des russischen Futurismus war der aus einer sephardischen Familie stammende Arthur Lourié (1892-1954).

    Ich finde Lourié hier weniger passend genannt. Der war natürlich in seiner kurzen Zeit als Volkskommissar für Musik unter Lunatscharski energischer Unterstützer der russischen Avantgarde, aber ich kenne auch aus dieser Zeit nichts "futuristisches" von ihm, vielleicht noch am ehsten in seiner Klaviermusik vor 1917, wenn man die Bezeichnung so weit fassen will, dass auch manches von Schostakowitsch noch als "futuristisch" bezeichnet werden kann. Aber das war wohl zeitweilig in Rußland, bzw. der jungen SU auch eine etwas schwammig gebrauchte Bezeichnung.

    Prokofieffs "Le Pas d'Acier" und einige Werke von Mossolov und einigen anderen würde ich im engeren Sinn zum russischen Futurismus in der Musik rechnen: Russ. Futurismus in der Musik = moderne Konstruktionen + Industriegeräusche :D

    Mossolov und einige andere haben sich tatsächlich eine kurze Zeit auf den Futurismus berufen. Insofern gab es einen russischen Futurismus nicht nur in den bildenden Künsten, einschließlich Design und Architektur(-entwürfen) und vor allem in der Literatur - hier war es vor allem die zeitweilig nicht einflußlose LEF ("Linke(Kunst)Förderation/Front und Wladimir Majakowski, die zeitweilig einen Russischen/Revolutionären Futurismus proklamierten - , sondern auch Komponisten wie Mossolov, die ihnen zeitweilig nahestanden oder sogar der LEF angehörten. (Lourié jedoch war entschiedener LEF-Gegner.)

    Die Debatte über den Futurismus hatte in Rußland, Italien und Rumänien immerhin eine solch Bedeutung unter auch der Linken nahestehenden Künstlern, bzw solchen, die sich irgendwie "revolutionär" verstanden, dass auch führende marxistische Theoretiker ihrer Zeit auf den Futurismus eingingen, so z.B. auch Leo Trotzki dem Futurismus ein längeres Kapitel in seinem Buch "Literatur und Revolution" widmete, in dem er sich um eine soziale Erklärung und differenzierte Einschätzung bemühte. Das Kapitel beginnt Trotzki mit: "Der Futurismus ist eine europäische Erscheinung...."
    In "Literatur und Revolution" ist auch ein kurzer Brief Gramscis über den italienischen Futurismus abgedruckt. Gramsci hat sich wiederholt auch an anderen Stellen mit dem Futurismus auseinandergesetzt und zeichnet insgesamt ein enges Verbindungs-, Auseinandersetzungs- und Einflußfeld. Beide beziehen sich aber weitgehend nur auf die Literatur, nicht auf die Musik.

    Des weiteren wurde auch im Kreis der Leipziger Dadaisten, mit damals dort Erwin Schulhoff als zeitweilig dadaistischem Komponisten, sich intensiv mit dem Futurismus auseinandergesetzt.

    Ein Einfluß vom oder eine Auseinandersetzung mit dem Futurismus wird gelegentlich auch für die Musik am Bauhaus (Stephan Wolpe, Wladimir Vogel, H.H. Stuckenschmidt) behauptet.

    Jedenfalls sind die Übergänge und Bezugnahmen zwischen den verschiedenen ästhetischen und kulturrevolutionär-politischen Strömungen, die sich damals irgendwie als "revolutionär" und "ultra-modern" verstanden, damals durchaus fließend.

    Explizit als Futurist bezeichnete sich zeitweilig George Antheil. Vor allem das sehr energiereiche Motorisch-Repetitive in seinen frühen Klavierwerken ist damals als futuristisch wahrgenommen worden und schließlich verwendete er ja auch noch einen Flugzeugpropeller in seinem Ballett. :D

    :wink: Matthias

  • Es sollte der Krieg verherrlicht werden, da er neue geometrische Formen hervorbringt. Gemeint waren Panzer und Flugzeuggeschwader, in denen eine neue Ästhetik erkannt wurde. Dies soll nur nochmals verdeutlichen, um was für einen Irrsinn es sich bei dem "Futuristischen Manifest" handelt.

    Lieber Falstaff,

    bei allem Schaudern über die Formulierungen Marinettis: Als Irrsinn würde ich das Ganze nicht bezeichnen. Aus zwei Gründen: Man darf als erstes nicht vergessen, wann das Manifest verfasst wurde. Wir sind aufgewachsen in dem Wissen und mit den Bildern zweier verheerender Weltkriege. Diese alle Rahmen sprengenden Dimensionen waren 1909 noch nicht bekannt und für jemanden wie Marinetti sicherlich nicht in allen Konsequenzen vorhersehbar. Zweitens ist die Faszination der militärischen Ästhetik bis heute ausgeprägt. Warum schauen sich Millionen Menschen die Auftritte von Flugstaffeln an, warum pilgern sie in Häfen, in denen ein Flugzeugträger vor Anker gegangen ist? Warum hatte ich als Kind neben meinen Sportwagen- und Gruselfiguren-Quartetten auch die von Kriegsschiffen und Panzern? (Keine Bange, ich habe 1989 den Wehrdienst verweigert! ;+) ) Militärparaden sind in einigen Ländern immer noch prestigeträchtige Angelegenheiten mit einem hohen "ästhetischen" Faktor, der zu beeindrucken versucht.

    Ich glaube eher, dass die Faszination der Futuristen am technischen Fortschritt gerade auch an der Rüstungsindustrie haftete, weil diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zuge des allgemeinen Hochrüstens enorme "Leistungen" hervorbrachte. Möglicherweise stand sie für wahr gewordene Männerfantasien, in denen die schrecklichen Auswirkungen und der reale Kriegs-Horror noch keinen Platz hatten? Diese Fantasien der großen Jungs beinhaltete schließlich auch Bahnhöfe, die "gefräßig" waren. Alles sehr martialisch und nicht symphatisch, aber eingedenk der damaligen Zeit für mich nicht irrsinnig. Um ein Beispiel zu nennen: Wer heute den Leipziger Hauptbahnhof betritt, mag sich über die gewaltigen Dimensionen wundern. Allerdings war er in dieser Größe um 1900 herum gerade einmal ausreichend, da jeden Morgen Hunderttausende von Menschen aus den Zügen strömten, um in der Stadt ihr Geld zu verdienen an den Buchdruckmaschinen, den textilverarbeitenden Maschinen, der Kohle-Verarbeitung usw. Das ganze Leben dieser Menschen stand damals plötzlich im Zeichen einer monströsen und bis dato ungekannten Technisierung und Maschinisierung. Dass so etwas auch Einfluss auf ästhetische Konzepte hatte, erscheint mir logisch. Besinnliche LandArt-Künstler wirst du in den Metropolen jener Zeit wohl kaum antreffen... :D

    LG
    C.

    „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert.“ (Element of Crime)

  • Zweitens ist die Faszination der militärischen Ästhetik bis heute ausgeprägt. Warum schauen sich Millionen Menschen die Auftritte von Flugstaffeln an, warum pilgern sie in Häfen, in denen ein Flugzeugträger vor Anker gegangen ist? Warum hatte ich als Kind neben meinen Sportwagen- und Gruselfiguren-Quartetten auch die von Kriegsschiffen und Panzern? (Keine Bange, ich habe 1989 den Wehrdienst verweigert! ;+) ) Militärparaden sind in einigen Ländern immer noch prestigeträchtige Angelegenheiten mit einem hohen "ästhetischen" Faktor, der zu beeindrucken versucht.

    Vielen Dank, Carsten, diesen Punkt habe ich noch gar nicht bedacht. Ich habe früher Modelle gebaut, ausschließlich von Kampfflugzeugen und Kriegsschiffen. Daran habe ich gar nicht gedacht, als ich obigen Beitrag schrieb. Heute finde ich all das widerwärtig...

    Falstaff

  • bei allem Schaudern über die Formulierungen Marinettis: Als Irrsinn würde ich das Ganze nicht bezeichnen. Aus zwei Gründen: Man darf als erstes nicht vergessen, wann das Manifest verfasst wurde. Wir sind aufgewachsen in dem Wissen und mit den Bildern zweier verheerender Weltkriege. Diese alle Rahmen sprengenden Dimensionen waren 1909 noch nicht bekannt und für jemanden wie Marinetti sicherlich nicht in allen Konsequenzen vorhersehbar


    Als Irrsinn würde ich die verschiedenen futuristischen Entwürfe, einschließlich den gruseligen Marinettis, auch nicht bezeichnen, aber auch wenn das Manifest 1909 geschrieben wurde, so hatten auch die gruseligen Seiten dieser Futurismen, die schließlich in Faschismus und in die Vorbereitung des Stalinismus mündeten, doch auch nach dem Massenschlachten des 1. Weltkriegs nichts von ihrer Faszination verloren. Im Gegenteil, sie gewannen als heroisierende Verarbeitungen dieser traumatischen Erfahrungen der Massen- und Materialschlachten des 1. Weltkriegs bei den italienischen Futuristen noch an Wirkung. Ähnlich bei der futuristischen Linken als Gegenbild, das jedoch selbst noch von dem, wogegen es sich richten sollte, beherrscht blieb, insofern auch nicht im Sinne einer emanzipatorischen Linken hegemoniefähig war, sondern eher den Stalinismus mit vorbereitete, unter dessen Räder der russische Futurismus dann selbst geriet. Trotzki und Gramsci sahen zumindest ansatzweise diese Gefahr in ihren Beiträgen zum Futurismus, wenn sie auch einiges am Futurismus interessant und nutzbar fanden.

    Gut zum Verständnis finde ich Carstens Bild mit dem großen Bahnhof, durch den sich jeden Tag in festen Rhythmen Menschenströme ergießen. Wie sollten diese Menschenströme unter rasant sich fortentwickelnden neuen technischen Bedingungen "im Takt der Zeit", wie eine Komposition von Hanns Eisler hieß, der in ihr auch einige Elemente des Futurismus aufgriff, organisiert werden oder sich selbst organisieren? Das erschien doch gerade als das drängende Problem nach dem Weltkrieg und Revolutionen und Bürgerkriegen in Rußland und Mitteleuropa, in denen die "Massen" unwiderruflich auf neue Art in die Geschichte eingetreten waren. Dieses Ereignis wollte auch künstlerisch reflektiert werden. Und die Ästhetiken der älteren bürgerlichen Kultur hatten mit den "Massen" nichts am Hut und dazu nichts zu sagen, müssen womöglich deswegen als "vernebelnder" Kulturschutt der Jahrhunderte erst einmal bei Seite geräumt werden. So kommt es zu den vielen Lobliedern auf die Destruktion. Selbst so ein differenzierter Theoretiker wie Walter Benjamin lobt den "destruktiven Charakter".

    Vielleicht kann man so die Situation skizzieren, in die diverse Futurismen zu intervenieren versuchten. Das konnte dann der "Linke Marsch" der "Millionen" sein, in den der Gedichtproduzent als Teil der "Roten Kunstarmee" sich einfügt, aber nicht ohne Warnungen vor dem "kleinbürgerlichen" Papageienkäfig im Bürozimmer des neuen Bürokraten (W. Majakowski). Oder Marinettis faschistische Visionen, in denen dem Künstler immer noch der Rennwagen oder das Flugzeug und der Luftkampf über den marschierenden Massen blieb.

    :wink: Matthias

  • 1Man muss sich, glaube ich, die Situation um 1910 vor Augen führen, um zu verstehen, warum ein Krieg von vielen Künstlern und Intellektuellen (auch jenseits der Gruppe der "Futuristen") teilweise geradezu herbeigesehnt wurde. Die ungeheuren Fortschritte auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und der Technik trafen in ihrer Dynamik auf eine Gesellschaft, die sich von ihren politischen Strukturen und Wertvorstellungen her noch weitgehend im "langen 19. Jahrhundert" befand (der Konflikt erinnert mich an den eine Generation zuvor von Iwan Turgenew verfassten Roman "Väter und Söhne" mit seinem Konflikt zwischen liberalen "Romantikern" und den materialistischen "Westlern"). Dieses retardierende, als bleierne Bedrückung empfundene gesellschaftliche Klima galt es aufzusprengen und zwar nicht durch langsame demokratische Reformen, sondern durch einen einzigen Befreiungsschlag, der alles umstürzen würde: den Krieg. Diese Stimmung kann man vielleicht - hier als pessimistische Erzählung aus der Perspektive ex post - anhand von Ravels "La Valse" nachempfinden, wo die nostalgische Fin-de-siècle-Stimmung immer mehr von drohenden und dunklen Untertönen "unterwandert" wird und am Ende von den Tutti-Schlägen des Orchesters zermalmt wird wie durch einen Beschuss mit schwerer Artillerie. Nach den Erfahrungen des Graben- und Stellungskrieges war die Begeisterung über den "Modernisierungsbeschleuniger" Krieg dann bei vielen verflogen, wenn auch nicht bei allen.

    In diesem Lichte erscheint z.B. Ernst Jünger mit der Verherrlichung des Fronterlebnisses in seinen "Stahlgewittern" und vor allem mit seinem "Arbeiter", der Vision eines faschistischen Massenstaates, bevölkert von Arbeitersoldaten, zumindest in dieser Phase seines Werkes als Vertreter einer deutschen Variante des "Futurismus".

    :wink:

    GiselherHH

    P.S.: Ich höre z.B. auch in Hindemiths "1. Kammermusik" und sehe im Film "Berlin, Sinfonie einer Großstadt" Einflüsse des Futurismus in Deutschland.

    "Er war verrückt auf Blondinen. Wäre Helga auch noch adlig gewesen, der gute Teddy wäre völlig durchgedreht."

    Michael Gielen über Theodor W. Adorno, der versucht hatte, Gielen seine Frau auszuspannen.

  • Hallo Giselher,

    würde ich zustimmen und an Jünger hatte ich auch gedacht als ein deutsches Beispiel, das dem Weg der meisten italienischen Futuristen im und nach dem 1. Weltkrieg sehr parllel lief.

    Ich höre z.B. auch in Hindemiths "1. Kammermusik" und sehe im Film "Berlin, Sinfonie einer Großstadt" Einflüsse des Futurismus in Deutschland

    Die waren mir noch gar nicht eingefallen, aber du hast völlig recht.

    :wink: Matthias

  • Was ist mit Alexander Mosolov?

    Ein Orchesterstück, das eine Eisengießerei darstellt, heißt (englisch transkribiert) 'Zavod'. Auf CD gibt es anscheinend gerade nur eine historische Aufnahme mit de Sabata (Naxos).

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Hallo Tyras,


    Ein Orchesterstück, das eine Eisengießerei darstellt, heißt (englisch transkribiert) 'Zavod'. Auf CD gibt es anscheinend gerade nur eine historische Aufnahme mit de Sabata (Naxos).


    Mossolows Orchester-Episode 'Sawod' (wörtlich übersetzt: 'Fabrik') bildet nur einen kleinen Teil seines Balletts 'Stal' (deutsch: 'Stahl') von 1926-28, welches meines Wissens noch nie eingespielt wurde.

    Von 'Zavod' / 'Sawod' existiert (außer der historischen de Sabata-Aufnahme) noch eine interpretatorisch wie klanglich fesselnde neuere Einspielung von Riccardo Chailly, die bei Amazon erhältlich ist:

    Alexander Mossolow (1900-1973):
    Zavod (Fabrik / Eisengießerei) - Episode für Orchester, opus 19 1927
    [Sergej Prokofiew: Symphonie Nr. 3 c-moll, opus 44 1928; Edgar Varèse: Arcana 1925-27]
    Royal Concertgebouw Orchestra, Riccardo Chailly
    Decca, 1992, 1 CD

    :wink:
    Johannes

  • Habe gerade CD 2 aus diesem set gehört

    asin B0000247F0
    [Blockierte Grafik: https://images-na.ssl-images-amazon.com/images/I/51zyVDYJVZL._SX425_.jpg]

    Inhalt identisch mit dieser hier:
    ASIN: B000003EH5
    [Blockierte Grafik: https://images-na.ssl-images-amazon.com/images/I/81kLXzOWnVL._SL425_.jpg]

    Eine vielleicht attraktivere Kopplung wäre ASIN: B00002545W


    CD 1 ist inhaltsgleich mit asin: B01KAOIZKM, enthält ebenfalls ein Stück Mossolovs, eine eher kitschige Suite nach Soldatenliedern mit Volksinstrumenten.
    Eine vielleicht attraktivere Kopplung wäre ASIN: B00002545W

    Die Chöre sind ganz nett, aber schon ziemlich volkstümlicher sowjetischer Realismus. Interessant ist das Klavierkonzert op.14, das ist echt eine Mischung aus "Zavod"-Klängen mit "normaler" klass. Moderne.

    EDIT: Das Klavierkonzert kann in einer neueren Interpretation mit Steffen Schleiermacher bei youtube gehört werden.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Hab die CD nach diesem Hinweis gerade mal wieder rausgekramt und höre Mossolovs Klavierkonzert - ich finde es schon sehr neutönerisch für seine Zeit (1926/27) in der UdSSR, und, ja, es ist auf eine brutale Weise "modern". Schade, dass dieser Weg bald darauf rigoros abgewürgt worden ist.

    Adieu
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Ja, ein sehr faszinierendes Stück, das weitere Schicksal Mossolovs war mir bis gestern auch gar nicht bekannt (ich hatte immer nur die "Eisengießerei" auf dem Schirm). Etwas schade auch, dass das Konzert, anders als viele andere Musik, die dieser Tage herausgekramt wird, anscheinend nur in dieser älteren und Schleiermachers Einspielung vorliegt.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Dass die immer schneller fortschreitende Industrialisierung ihren Niederschlag in der Kunst findet, war zu erwarten. Es lag wohl in der Luft. Dass die Wahrnehmung der Welt um die Komponente Geschwindigkeit erweitert wurde, war sicherlich nicht allein einem durchgeknallten Italiener aufgefallen.

    So ist es.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Ich finde Lourié hier weniger passend genannt. Der war natürlich in seiner kurzen Zeit als Volkskommissar für Musik unter Lunatscharski energischer Unterstützer der russischen Avantgarde, aber ich kenne auch aus dieser Zeit nichts "futuristisches" von ihm, vielleicht noch am ehsten in seiner Klaviermusik vor 1917, wenn man die Bezeichnung so weit fassen will, dass auch manches von Schostakowitsch noch als "futuristisch" bezeichnet werden kann. Aber das war wohl zeitweilig in Rußland, bzw. der jungen SU auch eine etwas schwammig gebrauchte Bezeichnung.

    Prokofieffs "Le Pas d'Acier" und einige Werke von Mossolov und einigen anderen würde ich im engeren Sinn zum russischen Futurismus in der Musik rechnen: Russ. Futurismus in der Musik = moderne Konstruktionen + Industriegeräusche :D

    Aber leider war Lourié Futurist und Prokofieff nicht. Der russische (Kubo-)Futurismus war nicht technikversessen sondern eher so eine Art pseudoarchaischer Protodadaismus.

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